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Die Spinne(r) im Netz

Von Prof. Dr. Michael Schreckenberg

Es ist eigentlich eine urmenschliche Anmaßung, die eigenen, in einigen Jahrhunderten entwickelten, technischen Errungenschaften mit denen in Jahrtausenden, ja sogar in Millionen von Jahren evolutionär entstandenen Wunderwerke der belebten Natur zu vergleichen. Mag man sich vor den Lebewesen auch ekeln, so haben ihre Fertigkeiten in vielen Fällen unsere allerhöchste Bewunderung verdient.

Ein solches Beispiel ist die Spinne. Wir haben aus ihr allenfalls den Ausdruck „spinnefeind“ abgeleitet, um unserer äußersten Abneigung Ausdruck zu verleihen. Aber dies hat sie beileibe nicht verdient. Es würde nun wahrlich zu weit führen, in das Seelenleben der Spinnen eintauchen zu wollen. Daher soll hier nur das Ergebnis zählen. Und das sind einfach Fäden, die jeder kennt und als Warnung versteht.

Doch auch hier kann man sich in den vielen Arten an möglichen, von Spinnen „produzierten“ Fadengeflechte komplett verlieren (dafür sind sie eigentlich auch gemacht …). Aber alleine schon der einzelne Faden und seine mechanischen Eigenschaften haben unseren größten Respekt verdient, auch wenn die Spinne dafür selbst wahrscheinlich gar nichts kann.

Gerade in Zeiten, wo wir darüber philosophieren, ob Spannbeton wirklich die richtige Wahl für den Großteil unserer großen Straßenbrücken war, lohnt sich auch dort ein genauerer Blick auf die „Performance“. Denn in dem Beton befindet sich „Spannstahl“, der extrem korrosionsanfällig ist. Die Feuchtigkeit bahnt sich jeden Weg von selbst. Würden Spinnen Brücken bauen, sähe die Sache sicherlich ganz anders aus.

Der Bau eines Spinnennetzes erfordert unseren Respekt vor der Natur.
© Foto: Stebra (Own work), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-3.0
Bezogen auf das Eigengewicht ist der Spinn(en)faden viermal so belastbar wie Stahl. Und ohne zu reißen, lässt er sich auf die dreifache Länge dehnen. Es kommt aber noch besser: Er ist sogar wasserfest, kann trotzdem Wasser aufnehmen wie Wolle und ist am Ende zu allem Überfluss auch noch biologisch abbaubar. Das wäre doch in der Tat ein Modell für unsere maroden Brücken: Die stürzen nicht einfach ein, nein, sie werden einfach biologisch abgebaut …

Soweit sind wir aber noch nicht und versuchen uns daher erstmal mit virtuellen Netzen. Die haben tatsächlich mehr mit den Netzen der gemeinen Spinne gemein, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Denn diese werden ja nicht aus reinem Zeitvertreib oder Lust an architektonischer Spielerei oder gar Perfektion angelegt, sondern dienen ganz profan und gezielt dem Fang von Beute, meistens bestehend aus (ehemals) umherfliegenden Insekten.

So hat der Mensch sich daran gemacht, sein Netz so groß zu spannen, wie es die Natur (bisher) nicht vermocht hat. Diese hat es allerdings bei genauerem Hinsehen doch auch schon zu beeindruckender Größe gebracht. Neben Pflanzen und Tieren hat sie nämlich noch eine weitere Spezies hervorgebracht, deren Einordnung nicht unproblematisch ist: Pilze. Diese im Untergrund, sozusagen unter der Grasnarbe agierenden und sich dort ausbreitenden Gewächse zeigen sich nur ab und an an der Oberfläche als praktisch über Nacht entstandene (Schirm-)Kunstwerke mit zum Teil betörendem Inhalt …

Ihr wohl größtes Exemplar breitet sich ohne echte Feinde nun schon seit 2.400 Jahren im Boden des Malheur National Forest in Oregon, USA, aus. Auf über 1.200 Fußballfelder hat sich der essbare Hallimasch breit gemacht, also rund alle zwei Jahre eine neues Feld, kein Ende in Sicht. Er ist eine Art lebende Recycling-Maschine, ihm fallen sogar gestandene Bäume wie Tannen und Fichten zum pilzigen Opfer. Er nimmt sogar Tierkadaver mit auf seinen Speiseplan. Wie da unterirdisch kommuniziert wird, bleibt Pilzgeheimnis.

Tim Berners-Lee
© Foto: Paul Clarke (Own work), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-4.0
So ist es denn auch mit der Errungenschaft der Jetztzeit überhaupt: dem Internet. Aus militärischem Ansinnen heraus angedacht (sichere Kommunikation bei Atomkriegen) hauptsächlich über Universitäten vor 33 Jahren (1983) popularisiert, hat es mittlerweile so jeden Lebensbereich grundlegend erfasst. Spätestens seit der Entwicklung des World Wide Web (www) 1989 am europäischen Forschungszentrum CERN durch Tim Berners-Lee und Robert Cailliau
© Foto: en:CERN, Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-4.0
Robert Cailliau war die weltweite Vernetzung nicht mehr aufzuhalten.

Doch wie bei jeder Entwicklung in ein neues Zeitalter gab und gibt es auch hier neben Licht viel Schatten. Schon länger grassiert das Menetekel der „Internetsucht“. Geradezu sklavische Abhängigkeit von aktuellen Meldungen, Chatrooms, Foren, Facebook, Twitter, Google, usw. lässt gerade sowieso schon zurückhaltende Menschen noch mehr aus der Realität abdriften. Das beginnt bei simplen (Online-) Spielen, geht über omnipräsente sexuelle Inhalte bis zur aktiven (natürlich anonymen) Beteiligung an welchen Meinungsschmieden oder Beleidigungsorgien auch immer.

Als ob die nun „virtuelle“ Spinne wieder zugeschlagen hätte, verfängt man sich nicht fliegend, sondern nunmehr „surfend“ in den nicht mehr durchschaubaren Verästelungen des Webs. Da kommt man nicht mehr so einfach durch, oder besser: heraus. Ja man sieht nicht mal mehr die sich langsam nähernde Spinne, die zum Fraße ansetzt. Drogengleich wird der nächste Klick gesetzt. Allerdings gibt es von medizinischer Seite noch keine genaue Zuordnung des Krankheitsbildes. Wie auch immer: Obwohl man wahrscheinlich mit mehr Menschen weltweit in Kontakt kommt als jemals zuvor, ist das Resultat persönliche, häufig depressive, Vereinsamung. Ja sogar von Vernachlässigung der Körperhygiene wird da berichtet …

Was den Menschen beim Autofahren in wiederum anderen, real existierenden physikalischen Netzen emotional so „austickern“ lässt, ist das wärmende Mäntelchen der Anonymität, die dem Einen oder Anderen gar Flügel verleiht (Flugautos kommen wohl erst ab 2017 auf den Markt …). Allerdings hat man es da nur mit einzelnen „Konkurrenzindividuen“ zu tun, die einem wahrscheinlich nie wieder begegnen werden und deren Reaktion auf die eigene, zumeist verwegene Handlung letztendlich im Verborgenen bleibt. Bis auf ganz kurze Momente des Blick- oder Gestenkontakts.

Wie viel einfacher, und vor allem billiger, ist es da, sich über einen Internet-Anschluss im World Wide Web eben weltweit Gehör zu verschaffen und seinen Senf nicht nur zu kleinen Würstchen dazuzugeben. Als echter Schreibtischtäter kann man sich da regelrechte Buchstaben-Schlachten liefern mit virtuellen Phantasienamen. Es scheint tatsächlich keine Tages- noch Nachtzeit zu geben, zu der nicht noch schnell ein Kommentar zum Kommentar losgeschickt werden könnte.
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Die Welt von Twitter und Facebook und zur aktuellen Kommunikationsplattform Nummer Eins geworden. An die Stelle von der langsam aussterbenden SMS tritt WhatsApp. Und Emails sind eigentlich nur noch lästig. Schon werden umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen dazu angestellt, wo, wann und mit welchem Erdteil am meisten getwittert wird. Und vor allem, wie alt die Twitterer sind. Die Schnelllebigkeit dieses Geschäftes zeigt sich an den immer häufiger gemeldeten Problemen der Platzhirsche, wenn frische Ideen und Angebote wie der digitale Fotodienst Instagram im Netz erscheinen.

Die Angst vor der Konkurrenz trieb Facebook im Jahre 2012 sogar dazu, Instagram für eine Milliarde Dollar zu übernehmen. Ein „Unternehmen“ mit zu dem Zeitpunkt zwölf Mitarbeitern und ohne eine Vorstellung über mögliche Erträge. Das virtuelle Vermögen der Netzwerker übersteigt mittlerweile sowieso jede Vorstellung, auch die alt eingesessener Industrien wie der des Autos. Ja krakenartig scheinen Google, Apple und Co. mittlerweile genau darauf nicht nur ein Auge geworfen zu haben (dann können die ja gar nichts mehr sehen …). Aber hier wird nicht einfach auf- oder zugekauft, was problemlos bei den zur Rede stehenden Werten möglich wäre, hier wird tatsächlich selbst entwickelt.

An sich ist das Vorgehen ja sehr geschickt: Man kauft nicht eine ganze Firma, sondern nur die besten Leute. Das kehrt sogar das Gehaltsgefüge komplett um: Die klugen und vor allem raren Angestellten verdienen mehr als ihr Chef. Mittlerweile kauft man sich in den neuen Industrien die besten Leute untereinander weg. Und damit beginnt es erst richtig interessant zu werden. Und das alles passiert rasanter als sich klassische Automobile überhaupt fortbewegen können.

Galt früher einmal der „Netzwerker“ als besonders tauglicher Mitarbeiter, auch aufgrund seiner besonderen kommunikativen Fähigkeiten, so zählen heute da ganz andere Zahlen die entscheidende Rolle. Im Riesenreich des „Zwischennetzes“ ist letztendlich jeder mit jedem über irgendeinen Kanal verbunden. Würde man das ganze genetisch betrachten und diese Verbindung als Verwandtschaft deuten, so ist das Internet Inzest pur. Denn gerade hat Facebook den Vernetzungsgrad als Qualitätsmerkmal aktuell ermitteln lassen und kommt auf die sagenhafte Zahl von 3,57 anderen Nutzern, über die man (im Mittel natürlich) mit allen (!) anderen verbunden ist.

Diese Art der Betrachtung ist nicht neu und schon mal als „Kleine-Welt-Phänomen“ (Small-World Experiment) in die Diskussion gekommen. Denn schon 1967 prägte Six degrees of separation
© Foto: Daniel' (User:Dannie-walker) (Own work), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-3.0
Stanley Milgram diesen Begriff, auch als „Six Degrees of Separation“ bekannt. Im Klartext heißt das, wir sind auch ohne Internet über nur sechs Stationen mit allen anderen, sagen wir mal Deutschen, vernetzt. Jeder kennt Einen, der wieder einen kennt und am Ende kennt der einen selbst.

Mit so enger Verdrahtung müssten auch Terroristennetzwerke schnell aufgedeckt werden können. Aber obige Überlegungen setzen eine Art selbstorganisiertes Netz voraus, Subnetze können sich aber auch unbemerkt fast komplett abschotten. Aufgrund der riesigen Datenmengen ist kaum noch Interessantes, oder besser Wichtiges, Relevantes, vom Nonsens-Rauschen im früher „Blätterwald“ genannten Nachrichten-Dschungel zu unterscheiden. Ohne künstliche Intelligenz (wahrscheinlich auch nicht ohne künstliche Dummheit …) ist da nicht viel zu erreichen.

Aber es kommt noch der urpsychologische Drang des Menschen zum unglücklich Sein hinzu. Denn schnell entsteht im Netz der Eindruck, die eigenen Freunde hätten mehr davon als man selbst. Das Freundschaftsparadoxon lässt grüßen. Es basiert aber auf dem simplen Fakt, dass man mit großer Wahrscheinlichkeit jemanden kennt, der wiederum ganz viele kennt. Das macht die Statistik natürlich kaputt und einen selbst unglücklich.

Bleibt als Trost für die vermeintlich „Abgehängten“, dass die besonders stark virtuell (!) Vernetzten einer Studie zufolge schneller eine Grippe bekommen. Aber wussten wir das nicht schon immer: mehr Kontakte, mehr Krankheiten? Aber durch das Internet? Wenn da die Spinne nicht wieder ihre acht Beine im Spiel hat …

Über den Autor
Prof. Dr. Michael Schreckenberg
Prof. Dr. Michael Schreckenberg
Prof. Dr. Michael Schreckenberg, Universität Duisburg-Essen, war der erste deutsche Professor für Physik von Transport und Verkehr. Er ist im Redaktionsbeirat von Veko-online.
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