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Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg (* um 1400 in Mainz; † 3. Febr. 1468 ebenda), gilt als Erfinder des modernen Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern (Mobilletterndruck) und der Druckerpresse.
© Foto: de Larmessin, Wikimedia Commons | Lizenz:Public domain / CC0

Die smarte Gefahr

Von Prof. Dr. Michael Schreckenberg

Seit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert hat es keine bedeutendere Revolution der mobilen Information mehr gegeben als die Welt der Smartphones. Nun gut, heute ist eigentlich alles „smart“: Smart-City, Smart Eating, Smart Learning, ja sogar Smart Wellness wird uns untergejubelt. Doch dabei verliert natürlich das Wort „smart“ komplett seinen smarten Charakter.

Dem staunenden Deutschen bleibt am Ende nur ein Blick ins Wörterbuch, wo „smart“ mit „elegant“, „fesch“, allerdings auch „gerissen“ übersetzt wird. Und gerade diese Gerissenheit wird heute zu einem Problem, und zwar einem echten. Gab es früher Menschen, die bücherlesend blindlings über die Straßen gelaufen sind? Haben die Menschen damals in den Bahnen nur an die Decke gestarrt oder gemeinschaftlich Topflappen gehäkelt? Man muss schon intensiv nachdenken, um sich an die „vorsmarten“ Zeiten zu erinnern. Oder man schaut einfach in eben diesem Smartphone nach, was früher mal war (wenn nicht ein interner Filter den Zugriff auf diese unsmarten Zeiten verhindert!).

Langsam jedoch dämmert jedem, der diese Kommunikationsdroge mal kurzzeitig bei Seite legt, dass sich da doch einiges vehement verändert hat. In uns, und vor allem mit uns. Nicht umsonst sind Unternehmen wie Google oder Facebook heute mehr wert als gestandene, Hardware produzierende Automobilhersteller. Dort hat man zum Teil den Einsatz der digitalen Medien falsch verstanden: Nicht zum eigenen Vorteil wird dort programmiert, sondern eher im Sinne von allgemeiner Verwirrung, und damit am Ende zu allgemeiner Verunsicherung (gab oder gibt es da nicht eine Musikgruppe „Erste …?", einfach „googeln“).

Im täglichen Leben fast unverzichtbar: das SmartphoneDie mobile Information ist zum Menetekel unserer Gesellschaft geworden. Wer wirklich auf dem Stand der Dinge sein will, lädt sich Apps von 100 Nachrichtenagenturen herunter, mit ständiger akustischer Aufforderung, die neuesten, eben vor allem negativen, Meldungen auch gefälligst zu lesen. Ist ja auch interessant, was beispielsweise „Hawaii News Now“ gerade Wichtiges zu vermelden hat. Die zugehörige App ist jedenfalls viel gefragt.

Konnte man früher mit einer ganz aktuellen Meldung die Menschen noch tief beeindrucken, so erzeugen Hinweise auf gerade stattfindende Entwicklungen und Katastrophen weltweit nur noch müdes Lächeln, ja man macht sich sogar der Zeitverschwendung schuldig. Alle wissen Alles immer sowieso schon, wahrscheinlich sogar schon vorher.

Diese Entwicklung hat nicht unbedeutende Konsequenzen mit sich gebracht. Sie haben auf jeden Fall zum Ende des gedruckten Brockhaus (2013) sowie der Encyclopaedia Britannica (2012) geführt. Die „Wissensmacht“ hat mittlerweile sowieso Wikipedia übernommen, eigentlich eine geniale Idee: die ganze Menschheit schreibt zusammen ihr gesammeltes Wissen auf.
Sollte man daraus allerdings das Ende des gedruckten Buches ableiten, so liegt man weitgehend falsch. Zwar schrumpfte der Buchmarkt 2015 um 1,7 Prozent, aber eBooks bleiben weiter auf den Servern liegen, unter fünf Prozent der Anteil. Da ist selbst E10 mit fünfzehn Prozent erfolgreicher.

Der Mensch hat in seiner jüngeren Geschichte schon verschiedene durchaus erfolgreiche Versuche unternommen, sich seiner sowieso eigentlich raren Fähigkeiten zu berauben. Der mentale Niedergang begann mit dem Taschenrechner, der Kopfrechnen zu Kopfakrobatik degradierte, Zahlen wurden wieder zu dem, was sie zu Beginn mal waren: Geheimwissen von wenigen Eingeweihten. Journalisten ringen heute (allerdings auch schon damals) mit der Unterscheidung zwischen Millionen und Milliarden. Faktor 1000, sei’s drum, jedenfalls viel.

Der nächste Schritt waren die Navigationsgeräte, die jeden Winkel nicht nur der Republik, sondern europa-, ja weltweit zu kennen vorgeben. Zwar nicht immer aktuell, so haben sie doch zumindest einen Vorschlag anzubieten, ohne dass der Fahrer gehirntechnisch aktiv werden muss. Leider hat die Evolution eben auch ihren Preis: Gehirntätigkeit frisst mächtig Energie, die meiste im ganzen menschlichen Körper. Bei all den energetischen Sparbemühungen der EU wundert man sich dann tatsächlich, warum an dieser Stelle nicht schon entsprechende Verordnungen auf dem Tisch liegen (vielleicht hat man bei sich selbst damit zuerst begonnen …)?
Es soll jetzt hier nicht über den aktuellen Schritt in die automobile Inkompetenz ob der Selbstständigkeit unserer vierrädrigen Leidensgenossen philosophiert werden. Das wird in der Tat noch dauern. Doch es ist abzusehen, dass auch dort der „menschliche Faktor“ zurückgedrängt wird mit dem Resultat, dass das elementare Verständnis für die notwendigen Prozesse abhanden kommt. Wer kann denn heute noch überhaupt eine Birne im Fahrzeug wechseln? Dem VW-Käfer früher einen neuen Auspufftopf zu verabreichen, war Gemeinwissen und kostete nur eine Stunde Lebenszeit.

Die weitergehende Entmündigung findet allerdings schon jetzt allerorten und fast jederzeit statt. Diskussionen sind keine Meinungsäußerungen mehr, sondern ein Das Konversationslexikon von einst hat ausgedient.
© Foto: Universitätsbibliothek Mannheim (Universitätsbibliothek Mannheim), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-3.0
Spiegelbild des schnellsten Internetzugriffs. Über Fakten wird nicht mehr gestritten, nur noch „gegoogelt“. Wer da nicht mithalten kann, ist raus: Aus die Maus! Ein brutales Geschäft, zumal man teilweise genauso viele „Updates“ wie Nachrichten bekommt. Mit dem menschlichen Körper verglichen würde das in etwa bedeuten, dass wir gar nicht so schnell und viel trainieren können wie wir an Kraft verlieren. Oder noch schlimmer: Wir vergessen schneller als wir lernen können.
Würde man das mit einer Art „Bildungsrückgang“ in Verbindung bringen, so liegt man einerseits richtig, andererseits aber eben auch falsch. Ein alter Aphorismus sagt: „Du darfst alles essen, aber nicht alles wissen“ Jetzt aber wollen wir alles wissen, und zwar sofort. Und Diät ist auch angesagt, also die komplette Umkehrung dieses alten Weisheitsspruches. Und wie sagte Altkanzler Helmut Schmidt so treffend: „Was man bei einer Diät am schnellsten verliert, ist die Geduld.“ Also reduziert sich unsere Bildung darauf, nicht Inhalte abzuspeichern, sondern darauf, wo diese zu finden sind. Damit werden eigentlich immense Kapazitäten im Gehirn frei. Diese werden allerdings eher dazu genutzt, den Termin für die nächste Folge welcher TV-Serie auch immer abzuspeichern (obwohl alles ja in der Mediathek später auch noch abzurufen ist).
Ja, die ständige mobile Information birgt Chancen, aber auch erhebliche Risiken. Sie entpflichtet uns des eigenen Erinnerns, da ständig mediale Hilfe im „Back“ abrufbar ist. Der Notstand entsteht dann allerdings sehr schnell, wenn Akku oder Netzanbindung ihren Dienst versagen. 98% aller jungen Menschen sind einer Studie zufolge ständig online. Und sind sie dies nicht, so stellt es sich für sie als „Notfallsituation“ dar. Zückt man in Bus oder Bahn nicht sofort den medialen Glücksbringer, so outet man sich instantan als Aussätziger, der nicht (mehr) dazu gehört, der nicht mehr folgen kann.
Nicht umsonst wurde beim „Deutschen Karikaturenpreis“ 2013 ein Werk mit Namen „Sozialer Netzwerker“ des Leipziger Künstlers Detlef Beck auf den ersten Platz gewählt, Cartoon: BECK / www.schneeschnee.dewelches man alleine schon durch Lesen der Unterschrift versteht: „Tu so, als wärst Du auch sozialer Netzwerker, indem Du öfter auf eine hochgehaltene Tafel Schokolade starrst ….“ Guten Appetit kann man da nur sagen, verzehrt doch der durchschnittliche Deutsche als europäischer Spitzenreiter alle drei Tage eine ganze davon.

Was aber besonders zu denken gibt, ist, dass sich unser gesamtes Mobilitätsverhalten plötzlich in eine andere Richtung bewegt. Einerseits braucht der Mensch aufgrund der Vernetzung nicht mehr so viel Mobilität. Was früher ein Treffen erforderte, wird heute online erledigt. Und das nach dem 24/7-Prinzip, immer und überall.
Andererseits sind tatsächliche Verabredungen jedweder Art einfach und umfassend realisierbar. Die sozialen Netzwerke ermöglichen dies durch ihre offene und auch offensive Herangehensweise. Kein Politiker mit Wahlchancen kann sich mehr aus Facebook oder Twitter heraushalten. Ständige Wasserstandsmeldungen werden geradezu gefordert. Wer nicht mitschwimmt, geht unter.

Aber es gibt auch konkretere Auswirkungen, direkt vor unserer Türe. Ein lange bekanntes Phänomen, nämlich das der „Ochlokinetik“, gelangt zu ungeahnter Aktualität. Das Wort an sich ist die Erfindung des Schweizer Publizisten (und James-Joyce-Forschers) Fritz Senn, und besagt, simpel formuliert, dass Menschen sich ständig im Wege stehen. Und zwar besonders da, wo sowieso nicht viel Platz ist. Sei es bei einer baustellenbedingten Engstelle, an der Einstiegstür eines Flugzeugs oder einfach am Eingang zur Kantine.
Unsere mediale Neuausrichtung hat genau dieses Problem noch deutlich verschärft.
Egal ob Anruf, aktuelle Nachricht oder sinnloser Austausch von Fotos, die Reaktion ist immer dieselbe: Hauptsache stehen bleiben, egal was hinter oder besser, um Einen, passiert. Komplette Ablenkung inklusive. Es scheint so etwas wie ein mit uns zwar vernetztes, aber dennoch abgekoppeltes Paralleluniversum zu geben, jenseits unserer physikalisch betastbaren Erlebniswelt. Und jeder hat seinen eigenen Zugang, der Film „Interstellar“ zeigt ja eindrucksvoll, was wissenschaftlich durchaus vertretbar alles möglich ist.

Schon jetzt wird darüber philosophiert, ob Mobilität sowieso nur noch virtuell stattfindet. Mit „Google Earth“ kommt man doch überall hin, ohne einen Fuß vor die Türe gesetzt zu haben. Und billiger sowie bequemer ist es allemal. Die Investition in ein am Tage statistisch gesehen 23 Stunden still stehendes Gefährt kann man sich doch getrost sparen. Darum drängen die Automobilhersteller auch massiv in den Kommunikationsmarkt, sozusagen das „fahrende Smartphone“.
Gesundheitstechnisch ist das ganze schon heute eine Katastrophe. Das Wort vom „Handynacken“ macht die mediale Runde. Das sollte man durchaus nicht auf die leichte Schulter nehmen, wiegt doch ein normaler Kopf so zwischen vier und sechs Kilo (Inhalt spielt keine Rolle), bei 15 Grad Neigung zum Smarty kommen 13 Kilo hinzu, bei 60 Grad (realistischer) summiert sich die Last auf 27 Kilo, das komplette Körpergewicht eines siebenjährigen Kindes. Und das über viele Stunden am Tag. Wie wird so schön gesagt: Der Mensch ist ein „Lauftier“ und kein „Faultier“. In der Evolution war kein Smartphone vorgesehen. Warum eigentlich nicht, die Natur ist doch sonst so schlau?
Mit dieser Kopfhaltung, praktiziert fast immer und überall, verabschiedet sich der (vor allem junge) Mensch aus der Interaktion mit seiner direkten physischen Umgebung. Die Kopfhörer (ob In-, On- oder Around-Ear) sind allerdings anscheinend auf dem Rückmarsch. Gab es doch Zeiten, wo man so gut wie niemanden in öffentlichen Verkehrsmitteln ansprechen konnte, ohne auf die Freischaltung der Gehörgänge zu warten, „Noise-Cancelling“ tut dabei sein Übriges. Hier scheint sich etwas zu tun, wahrscheinlich ist alles schon zigmal gehört worden, Wiederholung ist dann doch keine Steigerung. Autofahrer sollen ja auch immer mindestens ein Ohr auf Empfang ausgerichtet haben. Fahrradfahrer übrigens auch, interessiert nur keinen.

Das wahre, „smarte“ Übel kommt aber erst noch. Grau ist alle Theorie, die Praxis zum Teil dunkelschwarz. Der Drang zur ständigen Erreichbarkeit hat Formen angenommen, die jeder Beschneidung spotten. Dabei überholt sich die Technik teilweise selbst und fährt sich ins abpfiffreife Abseits. Selbst der kommunikationswillige Verkehrsteilnehmer erfährt von seiner aktuellen legalen Onboard-Software, dass eine Telefonverbindung über Bluetooth nicht möglich ist. Wenn sich einem da die Zähne nicht blau färben …
Also bleibt doch nur die verbotene Variante. Jeder dritte junge Mensch gibt zu, unterwegs im Fahrzeug SMS zu verschicken. So ein Quatsch: Wer verschickt noch SMS? WhatsApp ist momentan das Maß aller Dinge, 900 Millionen Nutzer weltweit mit zig Milliarden (sinnfreien?) Messages pro Tag. Der Drang, sich medial zu äußern hat andere Dränge längst abgedrängt. Musikalisch würde man „Dünnpfiff“ dazu sagen.

Untersuchungen zu Auswirkungen des kommunikativen Drogenkonsums gibt es genügend. Selbst das erlaubte Telefonieren mit Freisprecheinrichtung (wenn sie denn überhaupt funktioniert!) mindert einer amerikanischen Studie zufolge die Aufmerksamkeit wie 0,8 Promille reinsten Alkohols, bei den (verbotenen) Messenger-Kontakten wird entsprechend einer Untersuchung der TU Braunschweig noch ein Gläschen zusätzlich eingeschenkt. Mit 1,1 Promille hat man das die Sinne betäubende Klassenziel erreicht.

Die Wirkung ist jedenfalls enorm. Vermutlich gehen an die 300.000 Unfälle pro Jahr auf unseren Straßen auf Kommunikationssucht zurück. Am schlimmsten trifft es natürlich die Fußgänger. Medientechnisch im rechtsfreien Raum dürfen sie alles und jedes, ein gut gemeinter Rat ist das äußerste Mittel der möglichen medialen Schelte. Im Netz werden radikale Videos verbreitet, die durchaus sehenswert sind. Der bekannte Regisseur Werner Herzog („Aguirre, der Zorn Gottes“ mit Klaus Kinski) hat in einem 35-minütigen Werk namens „From One Second to the Next“ (2013) eindrücklich auf die Gefahren von während der Fahrt gesendeten SMS aufmerksam gemacht.
Es geht aber auch deutlich schneller. In lediglich 1:12 Minuten lässt die Polizei von Lausanne einem knallhart das Handy eiskalt den Rücken runter gleiten (https://www.youtube.com/watch?v=xqVMXMuG2HU). Muss man tatsächlich mehrmals anschauen.
Die Fußgänger gefährden sich aber nicht nur selbst gegenüber „stärkeren“ Verkehrsteilnehmern, nein, sie sind am Ende eine Gefahr untereinander. Wie sonst sind Hier ereignete sich ein Fußgängerunfall. Achten Sie auf Ihre Sicherheit! (Stuttgart)
© Foto: Christoph Hoffmann (Own work), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-2.0-de
weltweite Bemühungen zu erklären, die „Verpeilten“ vom Rest und voneinander zu trennen? Beginnend in Washington (USA) über Chongqing (China) bis nach Bangkok (Thailand) hat man versuchsweise eigene Fußgängerspuren für die Süchtigen zwecks Selbstschutz eingerichtet. Hauptergebnis war großes Interesse der Touristen an den neuen, ungewöhnlichen Bodenmarkierungen.

Die Smartphones, für die diese Lanes eingerichtet wurden, werden zu ihrem eigenen Hindernis. Projekte beendet, war mal einen Versuch wert. Noch haben wir keinen Plan mit der smarten Zukunft. Ich sitze im Zug und lasse die Landschaft an mir vorbeirauschen. Kein Blick auf mein unvermeidlich gewordenes „Smarty“. Es gibt sie doch noch, die „Realität“. Oder wird da auch wieder nur ein smartes Programm abgespielt, von dem ich nichts weiß?

Über den Autor
Prof. Dr. Michael Schreckenberg
Prof. Dr. Michael Schreckenberg
Prof. Dr. Michael Schreckenberg, Universität Duisburg-Essen, war der erste deutsche Professor für Physik von Transport und Verkehr. Er ist im Redaktionsbeirat von Veko-online.
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