Skip to main content

Hubschraubereinsatz der Bundespolizei zur Überwachung der Bahnanlagen
Foto Bundespolizei

Polizei im Krisenmodus

Aus Fehlern lernen

Von Bernd Walter

Eine beliebte Metapher insbesondere von gewerkschaftlicher Seite ist der Ausspruch geworden, dass Deutschland zwischenzeitlich die Polizei der Bundeshauptstadt eingespart hat. Will meinen, dass die seit dem Jahre 2000 eingesparten 16.000 Dienstposten bei den Polizeien des Bundes und der Länder dem Personalvolumen der Berliner Polizei entsprechen. Dass dieser Prozess im Zeitalter unkalkulierbar steigender Risiken nicht ohne Folgen für die Innere Sicherheit bleiben konnte, verdeutlichen die immer lauter werdenden Warnzeichen und Alarmsignale der unmittelbar Betroffenen: Regelaufgaben werden eingeschränkt, der Berg an Überstunden wächst, der Ruf nach weiterer Privatisierung hoheitlicher Aufgaben wird lauter, trotz sedierender Gegenmeldungen sind No-go-Areas entstanden. Prävention und Verkehrsüberwachung werden reduziert, die Abstellung von Einsatzkräften zur Absicherung von Fußballspielen auf ein Minimum reduziert. Selbst Demonstrationen müssen mit der Begründung eines polizeilichen Notstandes verboten werden, da das Reservoir an Einsatzkräften erschöpft ist.

Im Zeitalter der schwarzen Null, der Haushaltskonsolidierung und der Haushaltssperren nahm man diesen Umstand achselzuckend hin. Nun haben die Flüchtlingskrise und die Terroranschläge sowie der in Paris und Brüssel ausgerufene Ausnahmezustand zumindest eines bewirkt: Die Personalstärke und das Aufgabenportfolio der deutschen Polizeien werden auf den Prüfstand gestellt, denn selbst die blauäugigsten Politiker und Haushaltsstrategen mussten zwischenzeitlich erkennen, dass die desolate Personalsituation bei der Polizei ihnen nicht erlaubt, über einen längeren Zeitkorridor im Krisenmodus zu fahren, von weiteren Einsparungen ganz zu schweigen. Zu dieser Neuorientierung hat wesentlich die Erkenntnis beigetragen, dass die deutschen Polizeien in Ausnahmelagen rasch die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreichen. So waren in Frankreich mehrere Tage lang 88.000 Polizisten und Soldaten im Anti-Terroreinsatz, einem Schreckensszenario, das in Deutschland gerne verdrängt und noch nicht einmal übungsweise durchexerziert wird. Im Hinblick auf die derzeitige Gesamtstärke der deutschen Polizeien von 250.000 Polizisten wären derartige personelle Gewaltakte wie in Frankreich bei Beibehaltung der Tagesaufgaben ohne Unterstützung von anderer Seite auch kaum zu leisten.

Die Polizei und die Flüchtlingskrise

Die Flüchtlingskrise und ihre Begleiterscheinungen trafen die deutsche Politik offenbar unvorbereitet. Weder hatte man die Warnmeldungen der Bundespolizei, des Bundesnachrichtendienstes, des Bundeskriminalamtes, der Grenzschutzagentur Frontex, des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration noch der deutschen Verbindungsbeamten im Ausland ernst genommen, die übereinstimmend von einer krisenhaften Verschärfung der irregulären Migration warnten. Auch die Fabrice Leggeri 2 27 11 2015Fabrice Leggeri ist Direktor der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Frontex.
© Foto: LeJC (Own work), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-3.0
Warnungen des Direktors der Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, schlug man in den Wind, als dieser bereits im Frühjahr 2015 auf eine Steigerung der Grenzübertritte an der griechisch-türkischen Grenze um 500 Prozent hinwies. Erschwerend trat hinzu, dass Deutschland offensichtlich über kein ressortübergreifendes Krisenmanagement verfügt, das permanent die Gesamtsicherheitslage auswertet und die im Einzelfall erforderlichen Gegenstrategien initiiert. Entsprechend chaotisch war auch das Krisenmanagement in der Anfangsphase. Erst ab Oktober 2015 wurde überhaupt erst ein Koordinierungskonzept erkennbar.

Helfer in der Not waren wie immer neben vielen Freiwilligen und Hilfsorganisationen die Ordnungshüter, die zunehmend zu ihren eigentlichen Sicherheits- und Ordnungsaufgaben neben der Bundeswehr herangezogen wurden, die eigentlich der Ordnungsverwaltung oder dem Bundesamt für Migration und Flüchtlingen obliegen. Schnell wurde die Flüchtlingsflut zur Jahrhundertherausforderung für die Polizei, die in mehrfacher Weise gefordert wird. Zum einen müssen Kräfte zum Schutz von Flüchtlingsheimen abgestellt werden, denn die Zahl der Anschläge auf Erstaufnahmeeinrichtungen hat signifikant zugenommen, wobei dieses Phänomen entgegen anderslautender Meldungen nicht nur auf die neuen Bundesländer und auf ein rechtsextremes Prekariat beschränkt ist. Zwischenzeitlich hat das BKA rund 900 Anschläge registriert. Derartige Schutzmaßnahmen erfordern Einsatzkräfte in Hundertschaftsstärke. Des Weiteren steigt die Zahl von Veranstaltungen und Demonstrationen mit Flüchtlingsbezug und vielen emotional hoch Beteiligten besorgniserregend. Auch die Zahl der Einsätze in Flüchtlingseinrichtungen selbst nimmt zu, denn die verdichtete Unterbringung vieler Menschen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft fördert Streit und gewaltsame Auseinandersetzungen bis hin zu Massenschlägereien. In Hamburg wurde in den ersten neun Monaten des Jahres 2015 die Polizei mehr als Tausend Mal im Zusammenhang mit Erstaufnahmeeinrichtungen beschäftigt. Allein 40 Funkstreifenwagen waren bei einer Massenschlägerei zwischen Syrern und Eritreern im Einsatz. Und letztlich sind auch Kräfte gebunden, die die Straftaten aus den Reihen der Migranten heraus bearbeiten müssen, auch wenn immer wieder betont wird, dass deren Entwicklung durchschnittlich ist und dem der Vergleichsgruppen in der Durchschnittsbevölkerung entspricht. Allerdings ist davon auszugehen, dass wegen der Sensibilität des Themas und um die Stimmung bei bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht anzuheizen, das Thema mit großer Zurückhaltung behandelt wird. Überlagert werden die offensichtlichen Unschärfen durch die Tatsache, dass der Flüchtlingsstatus bei Strafverfahren überhaupt nicht erfasst wird, viele Migranten in die Illegalität abgetaucht sind und das Dunkelfeld bei den einschlägigen Delikten wie zum Beispiel Ladendiebstahl signifikant hoch ist. Gleichwohl haben einige Länder zur Verbesserung der Erkenntnislage Sonderkommissionen zur Ermittlung von Straftaten von Asylbewerbern eingerichtet. So konnte eine sächsische Sonderkommission feststellen, dass lediglich 1,3 Prozent der Asylbewerber für fast die Hälfte der von Flüchtlingen verursachten Straftaten verantwortlich ist, wobei der Prozentsatz der Syrer signifikant niedrig ist. Um die Datenlage transparenter zu gestalten, werden die Vordrucke für Strafverfahren künftig um die Rubrik „Flüchtling“ erweitert.

Das Land Nordrhein-Westfalen, das nach dem Königsteiner Schlüssel mit 21,2 Prozent die meisten Zuwanderer aufnehmen muss, reaktiviert mit Erfolg pensionierte Polizisten und Lehrer und setzt diese zusammen mit Bereitschaftspolizisten als mobile Registrierteams in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen ein. Das Land hat hierzu eine eigene Projektgruppe „Koordination des Personaleinsatzes in Flüchtlingsangelegenheiten“ eingerichtet, die alle Interessenbekundungen registriert und auswertet. Besonders hilfreich sind jene Bedienstete, die eine der Sprachen aus den wesentlichen Herkunftsländern beherrschen. Auch hat sich herausgestellt, dass aktive und pensionierte Polizeibeamte aufgrund ihrer reichen Sozialerfahrung im Umgang mit Menschen auch aus anderen Kulturkreisen sowie ihres Trainings in Konfliktlagen eine wesentliche Unterstützung der an sich zuständigen Behörden bei der Betreuung und Registrierung von Flüchtlingen sind. Und dass Unterstützung bitter notwendig ist, dokumentiert der Berg von 3,6 Millionen Überstunden, die die nordrhein-westfälischen Polizisten vor sich her schieben.

Besonders gefordert ist die Bundespolizei. Als mit der politischen Entscheidung, Flüchtlinge aus Ungarn unkontrolliert und unregistriert einreisen zu lassen, die Entwicklung außer Kontrolle geriet, verkündete am 13.9.2015 Bundesinnenminister de Maizière vollkommen überraschend die vorübergehende Aussetzung des Schengen-Abkommens und die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen an den südlichen Landesgrenzen. Als Begründung wurde die Begrenzung des Zustroms nach Deutschland und die Rückkehr zu einem geordneten Einreiseverfahren angegeben, da dies aus Sicherheitsgründen erforderlich sei. Für diese überraschende Kehrtwendung musste die Bundespolizei, ohnehin schon im Dauereinsatz, die letzten Reserven mobilisieren und Kräfte aus anderen Einsätzen abziehen. Mit lediglich sieben Stunden Vorlauf setzte die Bundesexekutive mehrere Hundertschaften und Mobile Überwachungs- und Kontrolleinheiten an die Südostgrenze in Marsch. Über 2.000 Zusatzbeamte sind zwischenzeitlich im Einsatz. Schnell wurden die Belastungsgrenzen erreicht: 80 Stunden pro Woche und Schichten über 12 Stunden waren keine Seltenheit. Allein von Mitte September bis Mitte Oktober fielen 500.000 Überstunden an. Selbst eine Großstadtzeitung forderte „Bundespolizei nicht verheizen“. Dass durch diesen vermutlich noch längeren Dauereinsatz die sonstigen gesetzlichen Aufgaben der Bundespolizei in Mitleidenschaft gezogen werden, wird nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert. Die Personalnot ist so groß, dass der Bundespolizei vorübergehend 160 Zollbeamte für die Dauer von sechs Monaten zugewiesen wurden – ein Tropfen auf einen heißen Stein. Die Gewerkschaften, sonst eher auf eine Privilegierung von Polizeivollzugsbeamten bedacht, brachten gar eine Verkürzung der Laufbahnausbildung ins Gespräch, um den Personalnachwuchs zu beschleunigen, und forderten für die Erledigung einfacher Registrierungsaufgaben die Einstellung einer bedeutenden Zahl bundespolizeilicher Unterstützungskräfte als Tarifbeschäftigte. Die Situation an den Südostgrenzen ist zwischenzeitlich so angespannt, dass der Freistaat Bayern dem Bund die teilweise Übernahme von Grenzkontrollen mit landeseigenen Kräften angeboten hat, was erwartungsgemäß vom Bund dankend abgelehnt wurde.

Die Gewerkschaften wurden deutlicher. Nach deren Angaben wurden in der Hochphase lediglich 10 Prozent der Migranten kontrolliert, in Hunderttausenden Fällen erfahren die Grenzpolizisten nicht mehr, wer unter welchem Namen und mit welchem Grund einreist, zumal allenfalls 30 Prozent der Zuwanderer irgendwelche Identitätspapiere mit sich führen. Nicht nur der Bund deutscher Kriminalbeamter, auch eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums musste einräumen, dass auch Kriminelle die Flüchtlingsströme nutzen, um nach Deutschland zu gelangen. Die Gewerkschaft der Polizei stellte in einem Brief an die Bundeskanzlerin in gebotener Weise dar, dass die Bundespolizei „gegenwärtig nicht in der Lage ist, den ihr obliegenden Auftrag der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung an der deutsch-österreichischen Grenze in gesetzlich gebotener Weise wahrzunehmen“. Unmissverständliches Fazit: Das ist mit Blick auf die innere Sicherheit „staatsgefährdend.“ Sekundiert wurde die Gewerkschaft vom Frontex-Direktor Fabrice Leggeri, der unter Hinweis auf die von Vertretern des Islamischen Staates gestohlenen syrischen Blankopässe darauf erkannte, dass die großen Ströme von Menschen, die unkontrolliert nach Europa einreisen, auch ein Sicherheitsrisiko darstellen.

Die eigentliche Bewährungsprobe für die Bundespolizei steht jedoch aus. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass der worst case, nämlich die Abriegelung der deutschen Südostgrenze, zumindest in Teilabschnitten, kein Tabuthema mehr ist. Dazu schweigen verständlicherweise Regierung und Bundesinnenministerium, gleichwohl wird aber in den Medien bereits ein Konzept diskutiert, wonach bei einer entsprechenden politischen Entscheidung eine Großzahl Bundespolizeieinheiten in die gefährdeten Abschnitte entsandt werden sollen. Das Einsatzkonzept sieht die Verdichtung stationärer Kontrollen an großen Übergängen und die Sperrung von Brücken, die Intensivierung des Streifendienstes an der Grünen Grenze und die Einrichtung von Aufnahmezentren vor, aus denen irreguläre Migranten unmittelbar zurück geschoben werden können. Einer rechtlichen Expertise zufolge soll weder das deutsche Asylverfahrensrecht noch die Dublin-III-Verordnung einem derartigen Verfahren im Wege stehen. Tritt dieser Fall ein, stehen keine Unterstützungskräfte des Bundes für die Länder mehr zur Verfügung. Eine erste Lagebeurteilung lässt allerdings erkennen, dass die Bundespolizei diese Brachialmaßnahmen nur für wenige Tage durchhalten kann.

Henning Otto
© Foto: Laurence Chaperon, Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-3.0-de
Die Situation an den Grenzen scheint so virulent zu sein, dass der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU Henning Otto forderte, dass bei einer etwaigen Verstärkung der Grenzsicherung auch die technischen Mittel der Bundeswehr eingesetzt werden sollten. Hierzu gehören neben dem entsprechenden Bedienungspersonal der Einsatz von Bodenüberwachungsradar, Wärmebildgeräte, Bodensensoren, Nachtsichtgeräte und Drohnen. Interessanterweise kamen die Haupteinwände vom Chef der Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, Generalleutnant Hans-Werner Fritz, der sich für die Beibehaltung der strikten Trennung von Militär und Polizei aussprach. Seine Motive wurden nicht bekannt. Immerhin steht Deutschland mit seiner verfassungspolitisch schon längst obsoleten Trennung von Polizei- und Militäreinsatz in Europa allein da.

In der Schweiz beschäftigt man sich hingegen mit ganz anderen Szenarien. In der Übung „Connex 15“ übten 5.000 Angehörige uniformierter und ziviler Organisationen gemeinsam im September 2015 ein düsteres Zukunftsszenarium, das in der EU allerdings nur auf mäßige Zustimmung stieß. In einem fiktiven Europa der Zukunft kommt es zu einer Wirtschaftskrise und zu ethnischen Spannungen sowie Unruhen und Plünderungen, in deren Folge sich größere Flüchtlingsströme in die Schweiz ergießen. Die Eidgenossen müssen angesichts eines in Anarchie versinkenden Kontinents alle Kräfte aufbieten, um ihr Gemeinwesen zu retten.

Krisen können heilsam sein

Die Flüchtlingskrise, aber auch die Terroranschläge in Paris und die alarmierenden Nachrichten aus Belgien, haben eine jähe Kehrtwendung der Politik bei der Verwaltung von Planstellen für Polizisten herbeigeführt. War gestern noch der finanzielle Liebesentzug im Rahmen der Haushaltskonsolidierungen das Gebot der Stunde, häufen sich nunmehr die positiven Signale. Der Bund stellt der Bundespolizei in den kommenden drei Jahren 3.000 zusätzliche Planstellen bereit, nachdem gestern noch im Haushaltsausschuss über Planstellen für jeden einzelnen Tarifbeschäftigten gestritten wurde. Der für gediegene Polizeiarbeit ohnehin bekannte Freistaat Bayern kündigt 150 neue Stellen für die Schleierfahndung an überörtlichen Straßen, 50 neue Stellen für seine Spezialeinheiten zur besseren Bewältigung terroristischer Einsatzlagen und 50 neue Stellen für die Kriminalpolizei im Bereich Staatsschutz an. Ohnehin ist erstaunlich, wie nach dem sicherheitspolitischen Erdrutsch der jüngsten Zeit die lange Durststrecke der signifikanten Kürzungen bei Sicherheits- und Justizbehörden abrupt beendet und plötzlich umgesteuert wird. Erklärte SPD-Fraktionschef Stegner in Schleswig-Holstein im September die Notwendigkeit des Abbaus von 122 Stellen bei der Landespolizei als Vorgabe des dortigen Stabilitätsrates, werden nunmehr mit der Begründung, die neuen Aufgaben seien auf Grund ihrer Dimension mit dem bisherigen Personalpolster nicht zu bewältigen, 200 neue Stellen für die Polizei im nächsten Haushalt gefordert. Überdies wurde 150 Polizeibeamten eine Verschiebung des Ruhestandes angeboten, um das aktuelle Personalpolster etwas kommoder zu gestalten. Aber auch die Ideen von gestern, die einst bei der Vorahnung des ewigen Landfriedens aus politisch opportunistischen Gründen entsorgt wurden, werden reanimiert. Der Freistaat Sachsen hat die Wiederaufstellung der Wachpolizei beschlossen, die bereits von 2002 bis 2006 als willkommenes Unterstützungspotenzial galt, von interessierten Kreisen allerdings als Billiglösung diskreditiert wurde. Und auch das Nachbarland Sachsen-Anhalt entschloss sich zur Einstellung von 250 Hilfspolizisten, die 2016 einsatzbereit sein sollen.

Damit allein sollte es jedoch nicht sein Bewenden haben. Im ersten Reflex auf die Anschläge auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo kündigte der Bund die Aufstellungen neuer Spezialeinheiten an, die die Fähigkeitslücke zwischen dem Alltagspolizisten und den Sondereinsatzkommandos schließen und die Reaktions- und Durchhaltefähigkeit der Bundespolizei im Anschlagsfall erhöhen sowie die sonstigen Einsatzkräfte der Bundespolizei in ihrer Krisenfestigkeit stärken sollen. Überdies sollen sie als Unterstützungspotenzial für die Länder bereitstehen, da zu vermuten ist, dass die Polizeien bei mehreren zeitgleich und koordinierten Terroraktionen an verschiedenen Orten und über mehrere Tage hinweg schnell ihre Kapazitätsgrenzen erreichen werden. Mit besonderer Schutzausstattung und wirkungsvollerer Bewaffnung sollen sie auch einem militärisch ausgerüsteten Gegenüber Paroli bieten. Der Argumentation des Bundesinnenministers zufolge sollen diese Einheiten der GSG 9 den Rücken für Geisellagen und andere robuste Lagen freihalten und sie bei multiplen, länger andauernden Ausnahmesituationen unterstützen. Allerdings wurde bis dato nicht bekannt, ob die GSG 9 trotz der großen Zahl ihrer im Grunde eher unspektakulären Einsätze tatsächlich an Einsatzüberlastung leidet.

Am 15. September 2015 wurde unter großem Medieninteresse die erste Teileinheit im Standort Blumberg bei Berlin vorgestellt; weitere sollen in Sankt Augustin bei Bonn, Hünfeld, Bayreuth und Uelzen folgen. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Aufstockung und Qualifizierung der bereits bestehenden, für Sonderlagen vorgesehenen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten, bei denen bereits der Grundstock an Man- und Woman-Power vorhanden ist. Die Einheiten firmieren daher auch unter dem sperrigen Titel „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit plus“.

Fachleute begrüßen diese Fortentwicklung, wird doch die Polizei zunehmend in asymmetrische Auseinandersetzungen mit einem militärisch agierenden und mit Infanteriewaffen ausgerüsteten Kontrahenten verwickelt, auf den die Polizeien weder mental noch ausrüstungs- und ausbildungsmäßig eingestellt sind.

Angesichts dieser Umstände erscheint es vollkommen unverständlich, dass die Diskussion über einen möglichen Unterstützungseinsatz der Streitkräfte im Innern nicht nur weiterhin tabuisiert, sondern schlichtweg als nicht erforderlich ad acta gelegt wird. So erklärte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz, dass die Polizei in Deutschland gegen terroristische Anschläge gewappnet sei und der Chef des Bundeskriminalamtes Holger Münch erklärte auf der Herbsttagung seines Amtes, die Polizei wisse auf Knopfdruck, was bei terroristische Terrorlagen zu tun sei. Er hatte wohl trotz seiner vorangegangenen Spitzenstellung in Bremen vergessen, dass sein Bundesland bei der Geiselnahme von Gladbeck nicht in der Lage war, trotz günstiger Zugriffsmöglichkeiten zwei Kleinkriminelle auszuschalten, obwohl diese auch dort eine Mordspur hinterließen. Ein Untersuchungsbericht über den Gesamteinsatz förderte erhebliche Koordinationsmängel und Führungsfehler zu Tage. Und als es im Frühjahr 2015 bei einem Großeinsatz in Bremen wegen Terrordrohungen eine Häufung von Pannen bei der Polizei gab, sah sich SPD-Innensenator Ulrich Mäurer gezwungen, auf politischem Druck einen Ex-Staatsanwalt als Sonderermittler einzusetzen, dessen Abschlussbericht, soweit er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, wenig schmeichelhaft war. So konstatierte er fehlende Absprachen und Kontrollen, eine David Cameron
© Foto: See page for author, Wikimedia Commons | Lizenz: OGL
mehrstündige Observationslücke an einem Objekt, der als vermutlicher Treffpunkt von Terroristen eingeschätzt wurde, einen zu geringen Personaleinsatz an mehreren Stellen sowie eine ganze Reihe handwerklicher Fehler. Als Resümee empfahl der Sonderermittler, mehr Polizisten einzustellen und große Terrorlagen immer wieder zu üben.

Von einer ganz anderen Betrachtungsweise zeugt das Herangehen der Briten an die Terrorismusbedrohung. So ordnete der britische Premierminister Cameron den Aufbau zweier schnell einsatzbereiter Einsatzeinheiten von je 5.000 Mann an, die mit gepanzerten Kraftfahrzeugen und leichten Panzern ausgestattet werden und weltweit einsetzbar sein sollen. Dies lässt sich das Königreich zwölf Milliarden Pfund kosten; der Aufbau soll 2025 abgeschlossen sein.

Der Blick in die Glaskugel

Es bedarf keiner großen Prophetie, eine weitere Verschärfung der Sicherheitslage vorauszusagen. Deren Bewältigung wird der Lackmustest sein, ob das Erforderliche in die Wege geleitet wurde. Die derzeitige Strategien zur Lösung der Sicherheitsprobleme haben einen gemeinsamen Fehler: Sie sind auf den Status quo fixiert. Zukünftige Entwicklungen werden ausgeblendet. Die europäischen Nachrichtendienste, die Internationale Organisation für Migration und das Flüchtlingshilfswerk des UNHCR gehen von einer weiteren exponenziellen Steigerung der Flüchtlingszahlen und von krisenhaften Verschärfungen in instabilen Staaten aus. Heute stehen Syrien, der Irak und Afghanistan noch auf einem Spitzenplatz der Krisenagenda, aber auch in Somalia, in Eritrea, im Jemen, in Nigeria, Senegal und Pakistan wächst die Zahl derjenigen, für die eine Exitstrategie ihren Schrecken Jean Asselborn
© Foto: Michał Koziczyński (Senat Rzeczypospolitej Polskiej), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-3.0-pl
verloren hat. Angesichts der Tatsache, dass Weltbank und Internationaler Währungsfonds Massenmigration als Dauerphänomen prognostizieren, steht Deutschland als Hauptzielland der Zuwanderungswellen vor Herausforderungen, deren mögliche krisenhaften Dimensionen sich noch gar nicht abschätzen lassen. Angesichts der Krisen wächst die Sorge um die Zukunft der Europäischen Union. Luxemburgs Außenmister Asselborn warnt bereits vor einem Zerfall der EU und vor der Reetablierung von Grenzkontrollen als schmähliches Ende des Schengen-Abkommens, das einst kontrollfreien Personenverkehr in der EU versprach. Lösung bietet auch er nicht an.

Die deutschen Polizeien müssen sich für Herausforderungen rüsten, die die bisherigen Belastungsmerkmale noch deutlich übersteigen werden. Besonders herausgefordert wird die Bundespolizei sein, die ihr bisheriges Einsatz- und Verwendungskonzept durchgreifend verändern und sich auf ihre Geburtsmerkmale als Bundesgrenzschutz besinnen muss. Die Herstellung von Grenzsicherheit, gestern Sitz der Frontex in Warschau
© Foto: Adrian Grycuk (Own work), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-3.0-pl
angesichts von Schengeneuphorie und Hochwertung offener Grenzen offensichtlich eine zu vernachlässigende Residualkategorie, wird einen Premiumplatz auf der Sicherheitsagenda der kommenden Jahre bekommen. Die jüngsten Beschlüsse der Regierungschefs der EU haben hierfür bereits die Weichen gestellt, indem nunmehr die europäische Grenzschutzagentur Frontex zu einem Sicherheitsakteur für Grenz- und Küstenschutz weiterentwickelt werden soll. Für die Polizeien der Länder bedeutet dies im Gegenzug, dass Unterstützungsersuchen an die Bundespolizei zunehmend restriktiver beantwortet werden. Dies wird voraussichtlich aber auch für das Verhältnis der Länder untereinander gelten. In der Stunde ist sich jeder selbst der Nächste. Die Mitgliedsstaaten der EU exerzieren dies bereits vor. Allerdings auf einem höheren Niveau, was die Sache auch nicht besser macht.

Über den Autor
Bernd Walter
Bernd Walter
Bernd Walter, nach vierzigjähriger Dienstzeit in der Bundespolizei mit unterschiedlichen Verwendungen im Führungs-, Einsatz-, Ausbildungs- und Ministerialbereich als Präsident des Grenzschutzpräsidiums Ost in den Ruhestand getreten. Anschließend Vorbeitrittsberater* der EU bei unterschiedlichen Sicherheitsbehörden in Ungarn. Autor zahlreicher Fachbeiträge zu Fragen der inneren und äußeren Sicherheit.
Weitere Artikel des Autoren