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Butz Peters

1977 RAF gegen Bundesrepublik.

Droemer, München 2017, 26,99 €.
ISBN 3-426-27678-5

An Darstellungen über die RAF herrscht kein Mangel. Wolfgang Kraushaar gab im Jahr 2006 zwei Bände über „Die RAF und der linke Terrorismus“ heraus. Darin wird auf anderthalbtausend Seiten das gesamte thematische Spektrum abgedeckt und gleichermaßen soziologische, historische und juristische Ansätze verfolgt. Sehr persönliche Darstellungen über die Opferseite stammen zum Beispiel von Anne Siemers „Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des Terrorismus“ und Michael Buback: „Der zweite Tod meines Vaters“. Biographien über die Haupttäter wurden geschrieben; so befassten sich Klaus Stern und Jörg Herrmann mit „Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes“. Über Ulrike Meinhof stellte Jutta Ditfurth eine sehr emotionale Biographie zusammen, während sich Kristin Wesemann der Top-Terroristin kühl und sachlich annäherte. Gisela Diewald-Kerkmann forschte über „Frauen, Terrorismus und Justiz. Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni“. Michael Sontheimer schrieb unter dem Titel „Natürlich kann geschossen werden. Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion“.

Butz Peters arbeitet seit Jahrzehnten über die Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) und gilt als einer ihrer besten Kenner. Für seine hier zu besprechende vierte Darstellung zum Thema RAF recherchierte er zwei Jahre. Der Zeitpunkt für dieses Buch ist nach seiner Ansicht günstig gewählt. Mit Neuheiten zur Geschichte der Terroristen der ersten und zweiten Generation, die von Anfang der 1970er Jahre an die Republik in Angst und Schrecken hielten, sei kaum zu rechnen: Es sei „nicht mehr sehr wahrscheinlich, dass die Bundesanwaltschaft wegen 1977 noch ein Ermittlungsverfahren einleitet“. Ebenso sei der Fund neuer Archivalien wenig wahrscheinlich und im Grunde sei auszuschließen, dass ein oder gar mehrere Top-Terroristen jetzt noch die große Beichte ablegten und erzählten, wie es eigentlich gewesen ist. Dies schließt natürlich nicht aus, dass sich auch zukünftig Autoren mit diesem Stoff beschäftigen werden, so liegt ein Vergleich zwischen dem Terrorismus in Deutschland einst (RAF) und jetzt (islamistischer Terrorismus) geradezu auf der Hand.

Butz Peters wählt in diesem Buch zwei Wege, um das breite Thema anzugehen: Biographische Studien der wichtigsten Akteure und ein institutionengeschichtlicher Zugang. Das belegen bereits die 97 Kapitelüberschriften. Sie spannen den weiten Bogen von „Gründonnerstag“ – Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer Wolfgang Göbel und der Leiter der Fahrbereitschaft, Georg Wurster, wurden am 7. April 1977, einem Gründonnerstag, ermordet über „Sonnenberg“, „Klar“ und „Folkerts“ und die weiteren Terroristen aus der ersten Reihe der RAF, über „Mythen“ und „Waffen“ bis zu „Hinrichtung“ – der Ermordung Hanns Martin Schleyers. Es gibt auch ein Kapitel „Herold“ – der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes war Horst Herold –, aber es gibt kein Kapitel „Wegener“ und auch kein Kapitel über die „GSG 9“ Die Geiselbefreiung der BGS-Einheit in Mogadischu, die Ulrich K. Wegener führte, wird unter „Landshut“ beschrieben, wobei Peters jedoch die Ereignisse aus der Sicht der Geiseln schildert.

Besonders beeindruckend sind die biographisch ausgerichteten Kapitel des Buches. Die Lebensläufe der RAF-Akteure sind dem Autor so wichtig, dass er einige Kernelemente dieser Lebensbetrachtungen am Ende seines Buches noch einmal zusammengefasst beschreibt. Diese Redundanz ist jedoch kein Mangel; denn gerade bei den Terroristen der RAF ist deren individueller Weg in die Gewalt ein besonders wichtiger Aspekt, der übrigens von Beginn an im Mittelpunkt des Interesses in der Öffentlichkeit und unter Wissenschaftlern stand. Soweit dies möglich ist, arbeitet der Autor auch die Sozialstruktur der RAF heraus, beschreibt dabei zum Beispiel, warum Brigitte Mohnhaupt die Führungsrolle in der RAF übernahm. Die „ganz besonders Harte“ – so ein BKA-Kommissar – trat bei ihrer Zeugenvernehmung im Stammheim-Prozess besonders wuchtig auf, etwa indem sie das Verhältnis der Terroristen zum Gericht und der Bundesanwaltschaft als „Krieg“ bezeichnete. Im weiteren Verlauf machte sie Angaben zur Struktur der RAF, wobei die Anregung dafür von den Verteidigern ausgegangen war. Die Gruppe sei nicht streng hierarchisch gegliedert gewesen, sondern es habe „einzelne Einheiten“ gegeben, die autonom gehandelt hätten. Im Februar 1977 kam Mohnhaupt auf freien Fuß und war kurze Zeit später eine zentrale Figur in der RAF. 1982 wurde sie bei Heusenstamm von Beamten der GSG 9 festgenommen.

Peters hat versucht, für dieses Buch noch mehr über die Top-Terroristen der RAF zu erfahren. Aber seine Vorstöße, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, scheiterten.

Ausführlich beschreibt er auch die gerichtliche Aufarbeitung der Taten des Jahres 1977, wobei er einen Schwerpunkt auf den Prozess gegen Verena Becker im Jahr 2012 legt. Eindrucksvoll arbeitet der Autor die Rahmenbedingungen dieses Gerichtsverfahrens heraus, in dem auch der Frage nachgegangen wurde, wie intensiv die Zusammenarbeit zwischen der Terroristin und dem Bundesamt für Verfassungsschutz war. Er resümiert: „Becker hatte sich dem Verfassungsschutz angedient, weil ihr die Decke ihrer Zelle in Köln-Ossendorf auf den Kopf gefallen war und sie ihre ‚Orientierung verloren‘ hatte. Vom Staat forderte sie Geld und Entgegenkommen bei der Strafvollstreckung. Beides bekam sie. Dafür musste sie etwas bieten. Und richtig punkten konnte sie nur mit Angaben zum Buback-Komplex: der einzige RAF-Anschlag 1977, bei dem sie noch nicht im Gefängnis saß. Jedenfalls wurde ihre Wisniewski-auf-dem-Soziussitz-Behauptung aus dem Jahr 1981 durch nichts und niemanden bis heute nachvollziehbar bestätigt.“ Dieser wahrscheinlich letzte RAF-Prozess brachte für Peters das Ergebnis: „Tatsächlich neue, erhebliche Erkenntnisse durch Justizverfahren erscheinen unwahrscheinlich … Der prozessualen Wahrheit sind die Beweismittel ausgegangen.“

Der zweite thematische Zugang erfolgt über die staatlichen Institutionen, die sich mit der RAF befassen mussten. Ein vom Umfang her kleines Kapitel, das mit „Ergreifungsdefizit“ überschrieben ist, bringt dabei sehr viel Erhellendes. Darin behandelt Peters eine Zusammenkunft in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing am 6. Dezember 1977. Dort informierte BKA-Präsident Herold unter dem Titel „Nachrichtensperre“ die deutschen Top-Journalisten über den Fortgang der Fahndung gegen die RAF-Terroristen. Dabei wehrte sich Herold gegen Vorwürfe, die Polizei sei in ihrer Arbeit erfolglos und lieferte sodann einen Tätigkeitsbericht für die Zeit nach der Ermordung Schleyers. Innerhalb von zweieinhalb Monaten seien eineinhalb Millionen Menschen kontrolliert worden und die Öffentlichkeitsfahndung hätte 30000 Hinweise erbracht. Die gerade eben begonnene dritte Phase beschrieb er als die Zeit, in der es gelte, die Fische transparenter zu machen. Dabei spielte der BKA-Präsident auf eine Formulierung Maos an, der für die Taktik der Revolutionäre das Bild von Fischen im Wasser geprägt hatte. Mit dieser Tagung am Starnberger See reagierte Herold auf die zunehmende Kritik an der Polizei; denn lediglich ein Top-Terrorist war bis zu diesem Zeitpunkt festgenommen worden: Knut Folkerts wurde von der niederländischen Polizei verhaftet. Fünf Jahre später waren 17 von 22 RAF-Mitgliedern inhaftiert oder bei der versuchten Verhaftung erschossen worden. Im Jahr der Wiedervereinigung wurden vier weitere RAF-Terroristen festgenommen, die in der „DDR“ gelebt hatten. Nur Friederike Krabbe wurde nie gefunden. Ihre Spur verliert sich im Jahr 1978 in Bagdad.

Die sogenannte dritte Generation der RAF – zu der unter anderem Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams zählen – ist für Peters in diesem Buch kein Thema. In den Stasi-Akten, die der Autor einsah, „findet sich nichts, was darauf schließen lässt, dass es zu einer Zusammenarbeit mit der ‚neuen RAF‘ kam.“ Weil er den Fokus auf 1977 legt, geht Peters auch nicht auf die Straftaten mit RAF-Bezug ein, die zeitlich nach deren Selbstauflösung im Jahr 1998 geschahen.

An vielen Stellen seines Buches geht der Autor weit über das Deskriptive hinaus. Er wertet auch. Etwa dann, wenn er die RAF-Angeklagten im zweiten Becker Prozess beschreibt und dabei auch ausführt, wovon die meisten von ihnen leben: von staatlicher Unterstützung – Hartz 4. Peters hat auch eine klare Meinung zu den RAF-Anwälten im Stammheim-Prozess, die den Angeklagten „politisch nahestehen und das Gericht verbissen bekämpfen.“ Gudrun Ensslin, eine der RAF-Top-Terroristinnen hatte über die Bedeutung der RAF Anwälte gesagt: „die roten Anwälte sind dazu unentbehrlich, ohne ihre gebündelten und sortierten Informationen geht es nicht.“ Einige Seite zuvor stellt Peters heraus, dass viele von ihnen nach dem Stammheim-Prozess eine ansehnliche Karriere hinlegten: Otto Schily wurde 21 Jahre später Bundesinnenminister; Rupert von Plottwitz noch nicht einmal 20 Jahre später stellvertretender Ministerpräsident und Justizminister in Hessen und Axel Azzola wurde 21 Jahre später Staatssekretär in Mecklenburg-Vorpommern. Die Bewertung dieser beruflichen Erfolge überlässt Peters seinen Lesern.

Mit wenigen Sätzen vergleicht der Autor die RAF mit der terroristischen Herausforderung der Gegenwart, dem islamistischen Terrorismus. Diesen mache besonders gefährlich, „dass hinter ihm eine Basisbewegung steht. Davon hatten Baader, Ensslin, Mohnhaupt und Klar immer geträumt.“

Die RAF brachte den Staat an den Rand dessen, was in einem Rechtsstaat möglich ist, aber nicht darüber hinaus. Peters resümiert zu Recht: „Und noch etwas zeigt diese Zeitreise durch vierzig Jahre: Die deutsche Seele hat die RAF noch nicht verwunden.“

Dr. Reinhard Scholzen

Über den Autor
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen, M. A. wurde 1959 in Essen geboren. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Trier. Nach dem Magister Artium arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte 1992. Anschließend absolvierte der Autor eine Ausbildung zum Public Relations (PR) Berater. Als Abschlussarbeit verfasste er eine Konzeption für die Öffentlichkeitsarbeit der GSG 9. Danach veröffentlichte er Aufsätze und Bücher über die innere und äußere Sicherheit sowie über Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs: Unter anderem über die GSG 9, die Spezialeinsatzkommandos der Bundesländer und das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr.
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