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Gefährliche Jagd?

Von Dr. Reinhard Scholzen

Jagdunfälle mit Schusswaffen polarisieren. Jagdgegnern dienen sie als Argumente für ein Verbot der Jagd, Jagdenthusiasten werten sie als bedauerliche Einzelfälle. Vieles könnte verhindert werden, wenn die Regeln konsequent eingehalten würden.

Jagdunfälle mit Schusswaffen sind immer eine Schlagzeile wert, nicht zuletzt, weil sie häufig tragisch mit schweren Verletzungen oder gar Todesfällen enden: Bei einer Jagd in Zweibrücken schoss ein Waidmann in einem Maisfeld einen Treiber an. Als im Kreis Heidenheim ein Jäger einen Hochsitz bestieg, löste sich ein Schuss und verletzte ihn tödlich. Einen im Juli 2018 bei Unterwellenborn in Thüringen ebenfalls tödlich endenden Jagdunfall kommentiert der Deutsche Jagdverband auf seiner Internetseite: „Wir sind entsetzt und tief betroffen. Jeder Unfall ist einer zu viel, auch wenn es nur selten dazu kommt.“

Keine eindeutige Statistik

Es kann nicht sicher festgestellt werden, wie viele Jagdunfälle mit Schusswaffen sich jährlich in Deutschland ereignen. Das liegt zum Teil an systematischen Problemen, so ist beispielsweise die Abgrenzung zu einem Suizid nicht immer möglich. Zudem wird in Medienberichten der Begriff Jagdunfall und der Zusammenhang mit Schusswaffen mitunter sehr weit gefasst. Es kann vorkommen, dass ein Luftgewehrschuss ins Bein in der Presse als Jagdunfall deklariert wird, weil der Verunglückte einen Jagdschein besitzt. Des Weiteren sind unterschiedliche Interessenlagen feststellbar: Tierschutzorganisationen, denen nicht selten Jagd und Jäger ein Dorn im Auge sind, gewichten die Unfallzahlen anders als Interessenvertretungen der Jäger. Ersteren dienen solche Ereignisse als Argument für die Abschaffung der Jagd. Letztere wollen die schönen Seiten des Jagens in den Vordergrund rücken, wobei Unglücke stören. Auch die öffentlich zugänglichen Fakten zeichnen kein klares Bild, sondern genügen lediglich als grober Anhalt: Betrachtet man einen längeren Zeitraum, enden in Deutschland pro Jahr durchschnittlich sechs Jagdunfälle mit Schusswaffen tödlich; im Jahr 2016 war hingegen kein einziger Todesfall zu beklagen.

In der Schweiz liefert die Datenerfassung eindeutige Zahlen: In den letzten 15 Jahren kamen auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft jährlich zwischen einem und sieben Menschen bei einem Jagdunfall mit einer Schusswaffe zu Tode. Im langjährigen Mittel waren drei Opfer zu beklagen.

Grundsätzlich können bei diesen Unfällen zwei Ursachentypen unterschieden werden. Zum einen führen technische Gründe dazu, zum anderen ist es menschliches Versagen.

Technisches Versagen

Dass bei der Verwendung von Büchse und Flinte, Pistole und Revolver Gefahren lauern, weiß man seit vielen Jahren. Für das zielende Auge des Jägers ist ein zu geringer Abstand zum Zielfernrohr gefährlich. Zu deutlich schwereren Unfällen kommt es bei sehr alten oder unzureichend gepflegten Waffen. Als weiterer Schwachpunkt wird hin und wieder eine ungeeignete Konstruktion des Verschlusses ausgemacht. Die Aufgabe des Verschlusses ist es, die Patrone nach hinten abzuschließen, sodass der Gasdruck zielgerichtet auf das Projektil wirken und dieses durch den Lauf treiben kann. Unmittelbar nach der Zündung der Patrone entsteht bei leistungsstarken Gewehrpatronen ein Druck von rund 4000 bar. Wirkt diese Kraft durch einen defekten Verschluss auf den Schützen ein, kommt es immer zu schwersten Verletzungen. Als weitere Fehlerquelle wird ermittelt, dass sich bereits beim Durchladen der Waffe selbsttätig ein Schuss löst. Manche Jäger kaufen keine Fabrikmunition, sondern laden ihre Patronen selbst – wozu es einer staatlichen Genehmigung bedarf. Bei diesen Eigenlaboraten wird manchmal entweder zu viel oder zu wenig oder das falsche Schießpulver in die Hülsen gefüllt, was zu einer Sprengung des Laufs führen kann. Andere Gefahren lauern in defekten Zündütchen, einem Hülsenriss oder Hülsenbodenabriss, was für den Schützen nur selten glimpflich ausgeht.

Der Faktor Mensch

Die gesamten technischen Probleme nehmen jedoch bei schweren und besonders bei den tödlich endenden Unfällen nur eine Nebenrolle ein. Zahlenmäßig deutlich gewichtiger ist das menschliche Versagen. Entsprechend groß waren zu allen Zeiten die Bemühungen, die Jägerschaft für diesen Bereich zu sensibilisieren. Bereits vor mehr als 100 Jahren galten für Jäger zehn „Hauptregeln für das Verhalten der Schützen auf Treibjagden“. Unter anderem wurde vorgegeben: „Niemals darf ein Schuss abgegeben werden, ehe nicht das betreffende Stück Wild genau als solches angesprochen (erkannt) worden ist. Dies ist besonders beim Treiben von Dickungen usw., sowie bei Ausübung der Jagd (des Ansitzes) in der Dämmerung oder gar Dunkelheit zu beachten.“

Diese lebenserhaltenden Regeln versuchte man auch auf humoristische Art zu verbreiten. Als besonders eindrucksvoller Mahner gilt Heinz Geilfus, der im Jahr 1890 in Gießen geboren wurde. Geilfus war ein Werbegrafiker, der zum Beispiel die Werbeplakate für einen Zahnpasta- oder Pflanzenbutterhersteller gestaltete. Große Bekanntheit erlangte er durch seine seit den 1920er Jahren erschienen Darstellungen von Jagd und Jägern, in denen er immer wieder Unfälle und deren Verhütung ansprach. Daraus entstanden mehrere Postkartenserien, die sich seit Mitte der 1930er Jahre großer Beliebtheit erfreuten.

Wer sich für die Details der Jagdunfälle mit Schusswaffen interessiert, kommt nicht an einer im Jahr 1994 veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeit vorbei: Der Mediziner Frank Wissmann untersuchte in seiner Dissertation 257 Unfälle mit Jagdwaffen. Dabei fand er heraus, dass der Anteil der Verletzungen, die durch Schrote oder durch ein einzelnes Projektil verursacht wurden, nahezu gleich groß ist. Als Ursachen stellte er in 37% der Unfälle eine nicht sachgerechte Waffenhandhabung fest. In jedem neunten Fall lag die Ursache in einer nicht sicheren Waffenaufbewahrung im Haus oder im Auto. Bei jedem vierten Unfall hatte der Jäger das Umfeld nicht hinreichend aufmerksam beobachtet. Wissmann erkannte, dass bei diesen Unfällen die Anzahl der Verletzungen durch Schrote deutlich höher war als die Verwundungen durch ein einzelnes Projektil. Bei Unfällen durch abprallende Geschosse lag der Anteil von Schroten und einzelnen Projektilen gleichauf. Wenn als Unfallursache das fehlende oder unzureichende „Ansprechen“ des Wildes festgestellt wurde, kam dies jedoch in sehr viel höherer Zahl bei Schüssen aus einer Büchse als aus einer Flinte vor. Hingegen rührten die Verletzungen sehr viel häufiger von Schroten, wenn als Ursache das Durchziehen der Waffe durch die Schützen- und Treiberkette oder der Schuss in das Treiben ermittelt wurde. In der Summe konnten in Wissmanns Fallstudie nahezu 15 Prozent aller Unfälle diesem Typ zugeordnet werden.

Unfallverhütung

In der Gegenwart weisen die Interessenvertretungen der Jäger und viele weitere Stellen gebetsmühlenartig auf die Gefahren hin, die bei der Jagd lauern. Sie unterstreichen zudem, dass bei Einhaltung grundlegender Vorschriften nahezu alle Gefahren vermieden werden könnten. Dass alles Mögliche unternommen werden muss, um Jagdunfälle zu vermeiden, ist im Sozialgesetzbuch VII in § 123 (1) Nr. 5 geregelt. Darin sind die Jagden der landwirtschaftlichen Unfallversicherung untergeordnet, die „…mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und für eine wirksame Erste Hilfe zu sorgen“ hat. Aufgrund dieser Vorgabe wurde von den Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften die Unfallverhütungsvorschrift „Jagd“ erlassen (VSG 4.4 = Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz). Diese Unfallverhütungsvorschriften sind auf der Rückseite jedes deutschen Jagdscheines abgedruckt. Darüber hinaus werden die Inhalte beispielsweise in einer informative Broschüre der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau in Kassel beschrieben. Dort kann man auf immerhin sechs Seiten mit zahlreichen Abbildungen wesentliche Gefahrenpunkte beim Umgang mit Waffen und Munition nachlesen. Dort findet sich auch der Hinweis: „Beim Kauf von Kurzwaffen sollte ein Holster miterworben werden, denn: Pistole oder Revolver gehören nicht in die Jacken oder Hosentasche.“ In der VSG 4. 4 § 3 (1) steht: „Schusswaffen dürfen nur während der tatsächlichen Jagdausübung geladen sein. Die Laufmündung ist stets – unabhängig vom Ladezustand – in eine Richtung zu halten, in der niemand gefährdet wird.“ Oder die gefahrenträchtige Situation in § 3 (4): „Ein Schuss darf erst abgegeben werden, wenn sich der Schütze vergewissert hat, dass niemand gefährdet wird.“ Im Kommentar heißt es dazu: „Ein Kugelschuss auf Wild vor freiem Himmel ist unverantwortlich, denn das Geschoss kann kilometerweit entfernte Personen treffen. Deshalb: vor Abgabe des Schusses vergewissern, ob ein natürlicher Kugelfang – zum Beispiel durch Geländeform vorgegeben oder von einem erhöhten Ansitz aus – vorhanden ist. Wald oder erhöhter Bewuchs eignet sich nicht als Kugelfang!“

Offensichtlich sind die Vorschriften allgemeingültig; denn sie wurden auch in Österreich übernommen. In der Alpenrepublik ist die Sozialversicherungsanstalt der Bauern neben anderem auch für die Unfallversicherung für Jagdpächter und Eigenjagdberechtigte zuständig. Sie gibt eine Schrift heraus, in der die Grundsätze für eine sichere Jagd dargestellt werden. Unter anderem heißt es dort: „Sowohl Waffen als auch Munition dürfen nur in sicherheitstechnisch einwandfreiem Zustand verwendet werden. Jede Schusswaffe muss einer amtlichen Erprobung unterzogen werden. Demnach dürfen nur Waffen mit einem gültigen Beschusszeichen zur Abgabe von Schüssen verwendet werden. Wenn man eine alte Waffe weiter oder wieder verwenden möchte, ist es am günstigsten, man erkundigt sich bei einem Büchsenmacher, ob die Schusswaffe mit Munition aktueller Bauart kompatibel ist. Beim Selbstladen kann es bei Pulververwechslung (Schrot/Kugel) unter Umständen zu gefährlichen Auswirkungen für Gewehr und Schützen kommen. Nach einem Sturz oder nach dem Durchstreifen von Gestrüpp ist unbedingt eine Laufkontrolle vorzunehmen. Auch kleine Fremdkörper können zu einer Laufsprengung führen (Mündungsschoner verwenden!). Schusswaffen dürfen nur während der tatsächlichen Jagdausübung geladen sein. Beim Besteigen oder Verlassen von Hochsitzen, beim Überqueren von Hindernissen und beim Transportieren (in Fahrzeugen) ist die Schusswaffe zu entladen.“

Bei der Verhütung von Jagdunfällen mit Schusswaffen sollten die Leiter der Jagden mehr in den Blick genommen werden. Zu ihren Aufgaben zählt nämlich die Überprüfung der Sicherheitsvorschriften. Hierbei scheint auch Zivilcourage angebracht; denn die Einhaltung der Regeln muss für jedermann gelten, auch für einen Jagdfreund, der sich seit vielen Jahren mit großzügigen Geld- oder Sachspenden um die gute Stimmung in der Jagdgesellschaft verdient gemacht hat.

Im Paul Parey Verlag in Hamburg erschien seit den 1920er Jahren die „Lustige Jägerfibel in Bildern“ mit Zeichnungen und Texten von Heinz Geilfus. Einige Jahre später wurden daraus mehrere Postkartenserien erstellt, in denen die Ursachen für Jagdunfälle meist humoristisch beschrieben wurden. Wie groß die Wirkung dieser Darstellungen war und wie viele Unfälle dadurch verhindert wurden, kann man nur vermuten.

Zeichnungen/Foto: © Heinz Geilfus

 

Über den Autor
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen, M. A. wurde 1959 in Essen geboren. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Trier. Nach dem Magister Artium arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte 1992. Anschließend absolvierte der Autor eine Ausbildung zum Public Relations (PR) Berater. Als Abschlussarbeit verfasste er eine Konzeption für die Öffentlichkeitsarbeit der GSG 9. Danach veröffentlichte er Aufsätze und Bücher über die innere und äußere Sicherheit sowie über Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs: Unter anderem über die GSG 9, die Spezialeinsatzkommandos der Bundesländer und das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr.
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