Die Bundespolizei im Krisenmodus
Von Bernd Walter, Präsident eines Grenzschutzpräsidiums a.D., Berlin
Die Bundespolizei, am 16.3.1951 als Bundesgrenzschutz gegründet und am 1. Juli 2005 in Bundespolizei umbenannt, ist heute mit über 40.000 Beschäftigten, davon rund 34.000 Polizeivollzugsbeamte, eine der zahlenmäßig stärksten Polizeien in Deutschland.
Rund 22.000 Polizeibeamte sind im Einzeldienst eingesetzt, rund 6.000 gehören der bundesweit verwendbaren Bundesbereitschaftspolizei an. Weitere 2.700 Polizeibeamte sind für die Kriminalitätsbekämpfung spezialisiert, 3.000 Bedienstete sind in Organisationseinheiten für besondere Aufgaben gebunden. So weit, so
schlecht, denn die immer fragiler werdende Sicherheitslage, das ständig erweiterte Aufgabenportfolio und die Migrationskrise haben die Organisation an Belastungsgrenzen geführt, die selbst die vielfältigen Extremsituationen der Vergangenheit in den Schatten stellen. Wenn nunmehr der Gesetzgeber trotz Streben nach der schwarzen Null und der Einführung von Haushaltsbremsen mit Kabinettsbeschluss vom September 2015 auf einen Schlag der Bundespolizei 3.000 Planstellen für die kommenden Haushaltsjahre bereitstellt und eine Ausbildungsoffensive bisher nicht gekannten Ausmaßes eingeläutet wird, sind dies Alarmzeichen dafür, dass aus dem einstigen euphorisch-optimistischen „Wir schaffen das“ schleichend, aber stetig ein „Wir haben uns übernommen“ werden könnte.Die Bundespolizei – erst umstritten, dann unentbehrlich
Kaum über eine andere Polizeiorganisation sind derart kontroverse rechtliche und politische Diskussionen geführt worden wie über den Bundesgrenzschutz respektive die Bundespolizei, wobei die Argumentation meistens durch ein fachlich wenig fundiertes Geflecht von Behauptungen, Unterstellungen, Vorurteilen und beliebig austauschbaren Verallgemeinerungen bestimmt wurde. Diese groben Folien werden in keiner Weise einer Polizeieinrichtung gerecht, die wie keine andere untrennbar mit der Entwicklung im Nachkriegsdeutschland verbunden war und ist und die erst nach langen und nicht immer würdigen parlamentarischen Prozeduren in Bundespolizei umbenannt wurde. Ursprünglich als Notnagel für eine in Nachkriegsdeutschland für erforderlich gehaltene, aber politisch nicht durchsetzbare Bundespolizei als Bundesgrenzschutz gegründet, hat sich die Organisation von einer Nischenpolizei zu einem Global Player im Sicherheitsbereich entwickelt.
Trat der Grenzschutzbeamte früher dem Durchschnittsbürger allenfalls im grenznahen Raum oder bei der Grenzkontrolle gegenüber, sind die Bundespolizisten heute nahezu allgegenwärtig. Der Bürger begegnet ihnen im klassischen Grenzkontrolleinsatz, im bahnpolizeilichen Bereich, bei den Luftsicherheitskontrollen auf den großen Flughäfen, beim Schutz von Ministerien und Verfassungsorganen, beim Personenschutz im Ausland, bei nahezu allen Ländergrenzen überschreitenden Großeinsätzen, auf der Nord- und Ostsee und jetzt sogar bei Frontexeinsätzen in der Ägäis, beim Transport der politischen Prominenz durch die Fliegergruppe, bei spektakulären Einsätzen der GSG 9, im Luftrettungsdienst, bei Katastropheneinsätzen im In- und Ausland sowie in allen relevanten Auslandsmissionen der deutschen Polizeien. Ohnehin auf eine bundesweite Verwendung sozialisiert, werden die Bundespolizisten wegen ihrer bekannten Flexibilität und ihres korrekten Auftretens nur allzu gern von anderen Bedarfsträgern zur Unterstützung angefordert. Hierzu gehören das Bundeskriminalamt, der Präsident des Deutschen Bundestages, das Auswärtige Amt und das Bundesamt für Verfassungsschutz. Und als Folge des Asylstaus bei der jüngsten Migrationskrise fand sich ein beträchtliches Personalkontingent der Bundespolizei unversehens als Sachbearbeiter beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wieder.
Das umfangreiche Aufgabenportfolio hat der Organisation zwar die prätentiöse Zuschreibung der Multifunktionalität eingetragen, ist aber Fluch und Segen zugleich. Solange die Bundeswehr nicht zur Gefahrenabwehr im Innern eingesetzt werden darf, ist die Bundespolizei zurzeit die einzige disponible Manövriermasse der Bundesrepublik in Ausnahmelagen. Dabei verhält sich die Sicherheitspolitik hochgradig unberechenbar. Einerseits wird die Bundespolizei zur Aufgabenkritik und zur Beschränkung auf ihre Kernkompetenzen angehalten, andererseits wird sie bei jeder gravierenden Veränderung der Sicherheitslage und meistens ohne Vorwarnung als Notnagel eingesetzt. Obwohl ohnehin an der Belastungsgrenze angelangt, wurde ihr par ordre de mufti nunmehr auch die Bewachung des rückgeführten Goldschatzes der Bundesbank anvertraut, obwohl diese Aufgabe nicht den Einsatz hochqualifizierter Polizeibeamter verlangt und von jedem seriösen Wachschutzunternehmen geleistet werden kann. Bei jeder Krisenlage im Ausland bietet die Bundesregierung großzügige polizeiliche Unterstützung durch die Bundespolizei an, dabei stehen die eigentlichen Belastungsproben noch aus. Die Verordnung für den geplanten europäischen Küsten- und Grenzschutz sieht bei Ausnahmelagen den Einsatz eines Personalpools vor, der 1.500 Grenzbeamte umfassen soll. Auf Deutschland entfällt ein Kontingent von deutlich mehr als 200 Polizeibeamten, die wohl durch die Bundespolizei zu stellen sind.
Die Neuorganisation – ein Danaergeschenk
Die Bundespolizei durchlief in den letzten 15 Jahren drei grundlegende Reformen. Der letzte Versuch schien so gravierend gewesen zu sein, dass er durch Aufnahme in den Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode geadelt wurde: „Die Ergebnisse der Evaluierung der Neuorganisation der Bundespolizei setzen wir in der jetzt erforderlichen Konsolidierungsphase um. Wir wollen die Bundespolizei als kompetente und effektive Strafverfolgungsbehörde stärken, gut qualifiziert und ausgestattete Bereitschaftspolizeien vorhalten und die Einsatzmittel der Bundespolizei modernisieren.“ Die Aussage hat mehrere Schönheitsfehler. Bei der Reform wurde wie bei anderen Reformen auch von der Konstanz des Status quo ausgegangen und das damalige Lagebild einfach in die Zukunft fortgeschrieben. Dies ist aber durch die jüngst Flüchtlingskrise schon längst von der Realität überholt.
Der vormalige BGS trug den wenig schmückenden Beinamen „Reise-BGS“, da sein Personal permanent zur Unterstützung anderer Bedarfsträger quer durch die Republik verschoben wurde. Daran hat sich überhaupt nichts geändert, da offensichtlich auch die falschen Standorte aufgelöst wurden. Die Beamten kommen kaum noch aus ihren Schnürschuhen und schieben einen Überstundenberg im Millionenbereich vor sich her. Nahezu prototypisch für die Fehlbeurteilung der Lage ist die Situation an der österreichischen Grenze. Der offensichtlich von keinem vorhergesehene Migrationsstrom zwang die Bundespolizei nicht nur, ihre letzten Personalreserven dorthin zu verlegen, sondern auch zusätzliche Inspektionen einzurichten. Und zu allem Überfluss entdeckte man, dass für die zur Einstellung vorgesehenen zusätzlichen 3.000 Anwärtern die bisherigen personellen und materiellen Kapazitäten nicht ausreichen. Im Eilverfahren soll ein neues Ausbildungszentrum, man denkt an Bamberg, aus dem Boden gestampft werden. Und schon ist von der Einrichtung eines weiteren Zentrums die Rede.
Das Dilemma der Bundespolizei: Diener zweier Herren
Aber auch die Möglichkeiten der Bundesbereitschaftspolizei im personellen und materiellen Bereich sind endlich, zumal sie auf Kosten des Einzeldienstes reduziert wurde. Bereits 1998 sank ihr Bestand von 21 auf 11 Abteilungen, die 2008 um eine weitere Abteilung reduziert wurden. Aber selbst diese stattliche Restmenge ist an ihrer Belastungsgrenze angekommen. Neben den Unterstützungseinsätzen für den eigenen Einzeldienst – allein für Fanbegleitungen anlässlich von Problemspielen der Fußballligen müssen Hunderte von Beamten bereitgestellt werden – und den unverändert hohen Anforderungen der Länder müssen immer wieder Löcher bei den Direktionen gestopft werden. Allein die großen Flughäfen sind ein personalverschlingender Moloch. Und dann kam mit der Flüchtlingskrise, die zurzeit alle Personalreserven der Bundespolizei bindet.
Die Renaissance des Grenzschutzes
Der polizeiliche Grenzschutz war die DNA der Bundespolizei, zählt doch der Schutz der Territorialgrenzen von jeher zu den Kernkompetenzen souveräner Staaten. Als sich in den neunziger Jahren europäischer Enthusiasmus aufmachte, den ewigen Landfrieden zu verkünden und die Binnengrenzkontrollen abschaffte, schien die
Die Kollateralschäden waren jedoch in Deutschland als ursprünglicher Auslöser des Massenzustroms irregulärer Migranten am höchsten, denn für weit über eine Million Zuwanderer wurde es gleichsam das Land der Verheißung. Denen ging es aber offensichtlich weniger um vorrangigen Schutz vor Verfolgung gleichwelcher Art, sondern um das banale Kalkül, welches Land die meisten Vorteile bietet. Und dass hierbei Deutschland und Schweden Goldrandlösungen anbieten, hat sich dank moderner Kommunikation nicht nur bis bis in die Schluchten des Balkans herumgesprochen, sondern wird breit in allen Problemländern dieser Erde kommuniziert. Gemeinhin gehören zur Marschausrüstung der Migranten ein Mobiltelefon, ein Verzeichnis von Schleusern und die Gewissheit, dass das Wort „Asyl“ das Betreten deutschen Bodens garantiert. Zwischenzeitlich hat die Tatsache, dass über 80 Prozent der Migranten ihre Personaldokumente vernichtet haben, um einer Identifizierung und damit einer raschen Abschiebung zu entgehen, oder dass eine hohe unbekannte Anzahl z. B. durch Betätigen der Notbremsen in Flüchtlingszügen untergetaucht ist, um einen Aufenthaltsort eigener Wahl zu suchen, dafür gesorgt, dass die Einheitsfront der Vertreter einer unkritischen Willkommenskultur bröckelt.
Die Zerreißprobe
Als der weder im parlamentarische Raum noch mit den EU-Partnern abgestimmte humanitäre Imperativ der Bundeskanzlerin zum „Sesam-öffne-dich“ für eine bis dato nicht bekannte Massenimmigration wurde, sah sich deutsches Organisationstalent, ohnehin seit den Pleiteserien der letzten Jahre nicht für Glanztaten bekannt, vor ein selbstverursachtes Chaos gestellt. Angesichts der über eine Million einreisenden Migranten meldete das an sich zuständige Bundesamt für Ausländer und Migration postwendend „Land unter“. Erst mit Hilfe Tausender freiwilliger Helfer und den sofortigen Einsatz der Polizei konnte das größte Unheil minimiert werden, ohne jedoch nur im Ansatz eine kontrollierte Einreise zu gewährleisten. Zu Tausenden reisten irreguläre Migranten unkontrolliert ein, entzogen sich der Registrierung oder tauchten in die Illegalität ab. Die Bundespolizei schickte in Eilmärschen ihre letzten Personalreserven an die österreichische Grenze und dünnte hierzu die Bahnpolizeidienststellen und die Dienststellen im sonstigen Grenzbereich aus. Die Bundespolizei zog sich aus der Fläche zurück. Die Zeche kam prompt: An der entblößten polnische Grenze steigt die Zahl der illegal einreisenden Tschetschenen ständig. Wie oft die sonstigen Grenzen illegal überschritten werden, kann überhaupt nicht festgestellt werden. Unter dieser Prämisse sind die offiziell verlautbarten Flüchtlingszahlen wertlos.
Bei den an der österreichischen Grenze eingesetzten Bundespolizisten wuchs trotz anfänglicher Begeisterung für die neue Herausforderung schnell der Frust. An klassische Grenzkontrolle war nicht zu denken, die Masse des Personals war in der Registrierung der Migranten gebunden, an sich eine fiskalische Hilfstätigkeit, die mit hoheitlichem Grenzschutz nichts zu tun hat. Der Berg der Mehrarbeit wuchs zwischenzeitlich auf 2,7 Millionen Überstunden. Die Krankstände übersteigen das Normalmaß, erste Anzeichen von Demotivation werden deutlich. Besonders erboste die auf Rechtsstaatlichkeit und das Legalitätsprinzip eingeschworene Truppe der Kontrollverlust, der als staatlich verordnet empfunden wird. Die unerlaubte Einreise ist nach § 95 Abs.1 Aufenthaltsgesetz eine Straftat, meisten verbunden mit weiteren Straftaten und muss nach dem Legalitätsprinzip verfolgt werden. Die Bundespolizei leitete im Jahre 2015 und im ersten Quartal 2016 fast 700 000 Ermittlungsverfahren ein; mehr als die Hälfte wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt. Besonders interessant ist die offensichtliche Diskrepanz der eingeleiteten Verfahren zu der vermuteten Gesamtzahl von 1,2 Millionen Migranten. Zwischenzeitlich haben Niedersachsen und Saarland in der Justizministerkonferenz Bankrott angemeldet und kurzerhand gefordert, wegen der Diskrepanz zwischen Arbeitsaufwand und dem angeblich geringen praktischen Nutzen die unerlaubte Ersteinreise und den unerlaubten Aufenthalt zu entkriminalisieren. Auch so kann man Statistiken schönen.
Der Wind hat sich gedreht
Hielt einst ein bayerischer Innenmister die Idee einer Bundespolizei für ideen- und fantasielos, sind derartige Einsichten angesichts der immer fragiler werdenden Sicherheitslage Schnee von gestern. Das derzeitige Sicherheitsszenario spielt sich nämlich in einer Zeit ab, in der das unheilvolle Ensemble von internationalem Terror, religiösem Fanatismus, zerfallenden Staaten, globaler irregulärer Migration und hybrider Kriegsführung schon längst die klassische Dichotomie von äußerer und innerer Sicherheit durch eine diffuses Bedrohungsszenarium abgelöst hat, in dem der Stellenwert der klassischen Sicherheitsakteure neu justiert werden muss. Überdies mehren sich auch innerstaatlich die Zeichen an der Wand. Angesichts der jüngst veröffentlichten Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik konstatiert ein bekanntes Nachrichtenmagazin lapidar „Der Staat scheint machtlos.“ Unter diesen Vorzeichen müssen Bund und auch die Länder ein vitales Interesse daran haben, dass die Bundespolizei zukunftsfähig aufgestellt wird. Die Bundespolizei ist und bleibt, solange der Einsatz der Bundeswehr im Innern zur Gefahrenabwehr ein Tabuthema ist, die einzige disponible Manövriermasse der Sicherheitspolitik in Ausnahmelagen.
Unter diesen Vorzeichen sind die versprochenen zusätzlichen 3000 Planstellen für die Bundespolizei lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein, denn sie schließen lediglich die durch die Neuorganisation entstandenen Lücken. Der durch die Veränderung der Sicherheitslage und als Folge von politischen Entscheidungen bedingt Mehrbedarf ist damit nicht abgedeckt.
Alle Fotos: © Bundespolizei