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Interview

Rosi KernRosi Kern gilt als intime Kennerin des Nahen und Mittleren Ostens und des Islam. Die Inhaberin von Magister- und Masterabschlüssen (letzterer in International Security am Kings College London), arbeitete ein Jahr als Journalistin im Libanon und fungierte von 2012 bis 2014 als Director of Analysis and Research der internationalen Beratungsfirma „Five Dimensions Consultants“. Zwei Jahre lang studierte sie den Islam und seine Prophezeiungen. Veko-online interviewte Frau Kern zum Thema IS.

 

Veko-online: Frau Kern, in der Öffentlichkeit ist bisher wenig über den IS bekannt. Wo liegen die entscheidenden Wissenslücken?
Rosi Kern: Kritische Wissenslücken der Weltöffentlichkeit sowie vieler Experten  liegen vor allem im Bereich der Bedeutung sowie Verständnis „Islamischer  Prophezeiungen“ und deren Rolle für die muslimische Gemeinschaft im  Allgemeinen (Rekrutierung/Anziehungskraft des IS und anderer jihadistischen Gruppen) sowie jihadistischer Gruppen aller Art im Speziellen. Islamische Prophezeiungen haben vor allem seit dem Arabischen Frühling ein „Revival“ erfahren. Im Grunde genommen geht es allen Jihadisten darum, den Weg für Gott zu bereiten („meet god half way“) in Bezug auf die Erfüllung dieser Prophezeiungen. Religion als Motivation wird zu oft unterschätzt oder als Justifikation für Machtstreben abgetan, was auch daran liegt, dass wir im Westen in einer säkularen Welt leben und dies daher nur selten nachempfinden können.

Sie haben Erkenntnisse darüber, wie die IS-Kämpfer in spe ihre Reisen finanzieren. Was läuft da konkret?

Ein bedeutendes, aber oft unterschätztes System ist das „Tajhez al-Gazi", das bedeutet „befitting a soldier“. Den militärischen Jihad kann ja nicht jeder ausführen. Vor allem für Frauen oder ältere Menschen schwierig, aber auch ein Familienvater kann oder will von der Familie nicht weg. Die „Tajhez al Ghazi“ könnte man als „passiven Jihad“ bezeichnen. Anstatt sich an den Kämpfen zu beteiligen, realisiert man Jihad, indem man einem Jihadisten die Reise ins Kriegsgebiet finanziert. Früher hatte man einen Jihadisten mit Waffen, einem Pferd et cetera ausgestattet, heute wird das einfach mit Geld ersetzt. Dem aktiven Jihadisten wird dabei noch Geld für die jihadistische Organisation mit auf den Weg gegeben. Dadurch erhält man nach islamischem Verständnis die gleichen „göttlichen Ehren“ wie ein Jihadist, der aktiv kämpft. Sie wissen ja, man kann bei der Ausreise bis zu 10.000 US-Dollar mitnehmen, ohne dies angeben zu müssen. Wenn Sie jetzt mal rechnen, wie viele europäische Jihadisten sich dem IS angeschlossen haben und annehmen, jeder hat die 10.000 US-Dollar mitgenommen oder es gewagt, mehr mitzunehmen, kommen Sie auf eine ordentliche Summe. Somit wird das „Tajhez al Gahzi“'-System auch als „Geldtransfer System“ benutzt (alles bargeldlos, kein „paper trail“, das sind belastende Papierspuren und so weiter). In der Regel wenden sich Personen, die auf diese Art den Jihad unterstützen wollen, an Imame, bei denen Sie davon ausgehen, dass sie den jihadistischen Gruppen wohlgesonnen sind, und übergeben das Geld dafür. 
Genau so tun das Jihadisten, wenn sie das erste Mal mit dem Gedanken spielen, sich dem Jihad anzuschließen. Vieles läuft aber auch online ab (soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter et cetera). Der Imam/Rekrutierer fungiert also als Schaltstelle/Mediator.

Es gibt Vermutungen, dass auch die „Wohltätigkeitssteuer“ der Muslime, die Zakat, für den Jihad zweckentfremdet werden. Was ist dran an diesen Vermutungen?

Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist die Zakatsteuer im Islam eine Pflicht. Die Zakat muss bezahlt werden zum einen, um die Mittellosen zu unterstützen. Aber  eben auch, um religiösen Pflichten nachzukommen - und hierzu zählt auch der Jihad! Wofür ein Muslim die Zakat einsetzt, also für Arme oder eben für beispielsweise den Jihad, bleibt dem Spender selbst überlassen, sofern er/sie der Pflicht zum Zakat einmal im Jahr nachkommt. Wie Sie sich vorstellen können, handelt es sich natürlich um keine Mehrheit der Muslime, aber ein gewisser Prozentsatz setzt die Zakat zur Finanzierung des Jihad ein. In manchen Fällen kann es aber auch sein, dass die Zakat zweckentfremdet wird. Soll heißen: Es ist möglich, dass man die Zakat einem Imam gibt, um zum Beispiel ein Waisenhaus zu unterstützen und dann ein Teil der Spende dafür verwandt wird, während ein Teilbetrag dem Jihad zugeführt wird, weil der Imam insgeheim den Jihad als gute Sache empfindet.

Der IS erscheint wie eine Mixtur aus Gruppen, die überhaupt nicht zusammenzupassen scheinen, wie Extrem-Islamisten und ehemalige irakische Offiziere oder Mitglieder der früheren Baath-Partei. Was ist das Bindeglied?

In der Tat eine gute Frage. Ehemaligen Offizieren der Armee oder des irakischen Geheimdienstes sowie Funktionären der Baath-Partei ging es primär darum, den Einfluss der Schiiten zurückzudrängen. Aus ihrer Sicht wurden die Anhänger dieser islamischen Glaubensrichtung zu mächtig und haben die Sunniten an den Rand gedrängt/marginalisiert. Es lag also im Interesse dieser Eliten des alten Irak, diese Tatsache umzukehren.

Es war auch viel Frust dabei. Denken Sie daran, die USA haben alle Personen entlassen, die in der Baath-Partei waren. Damit gab es eine Menge Soldaten und Offiziere, die von einem Tag auf den anderen arbeitslos wurden und wenig Perspektive hatten, aber kämpferisch gut ausgebildet waren. Währenddessen versank das Land im Chaos, und die Regierung um Präsident Malika und seinen Nachfolgern sorgte für viel Entfremdung. Saddams Regime wird oft als säkular betrachtet, was auch stimmt. Aber auch Saddam war bewusst, dass die Religion für die irakische Bevölkerung eine große Rolle spielte. Ihm war auch klar, dass, wenn er die Religion komplett ausblendet, er damit Islamisten wie beispielsweise der Muslimbruderschaft die Möglichkeit bietet, ihre Anhängerschaft zu vergrößern. Somit hat auch Saddam sich dazu entschlossen, die Religion einzubinden und zum Beispiel Staatsangestellte in religiöse Seminare geschickt. Dies mit dem Hintergedanken, dass diese somit gegenüber der Ideologie der Baath-Partei loyal bleiben und sich nicht Islamisten anschließen. Ergebnis: Es entstand ein neues Phänomen, nämlich nationalistische salafistische islamistische Baathisten! Und genau diese Leute gehörten zu denen, die entweder frustriert waren über die plötzliche Machtübernahme der Schiiten im Land oder ideologisch per  se dagegen waren.

Wo liegt der Reiz des IS für junge Muslime?

Da handelt es sich, denke ich, primär um soziopsychologische Motivationen. Die Religion dient sozusagen als „Absolution vom eigenen Leben“, mit dem man nicht mehr fertig wird, frustriert ist, wenig Selbstbewusstsein hat und so weiter. Da kommt dann der IS und gibt dem Leben einen Sinn. Ein arabischer Wissenschaftler hat mir kürzlich berichtet, wie er ein Gespräch zwischen einem Imam in Deutschland und einem Deutschen mitbekommen hat. Der Deutsche meinte: „Ich habe Probleme mit den Behörden in Deutschland, bin mit dem Leben hier wenig zufrieden und suche nach etwas mit mehr Gemeinschaftssinn und würde gern mehr zum Islam erfahren." Einige Wochen später hat er die gleiche Person zufällig wieder in Salafistenkreisen in einer anderen Stadt gesehen. Schließt man sich dem IS an, muss man sich um das eigene Leben nur noch wenige Gedanken machen, da IS gerne alle Dinge des Lebens für einen regelt. Alle religiösen Fanatiker sind von Iislamischen Prophezeiungen motiviert und dem Glauben, dass mit dem Arabischen Frühling die Epoche der „tyranical rule“ zu Ende ging und entsprechend der Prophezeiungen nun das „Caliphate“ folgt. Genau aus diesem Grund war es ein kluger Schachzug von IS, das Kalifat auszurufen. Das wirkt Wunder in Bezug auf Rekrutierung und Propaganda.

Was wissen Sie über Waffenlieferungen an die IS, die über die syrisch-türkische Grenze abgewickelt werden sollen?

Beweise gibt es offiziell bislang keine, aber rein logistisch ist eigentlich klar, dass diese vor allem über die türkische Grenze ins Land gekommen sind, zumindest zu einem großen Teil. Genau aus diesem Grund hören Sie derzeit in den Medien auch kaum etwas dazu, dass die Türkei den IS bekämpft, sondern eigentlich nur  hauptsächlich die PKK. Sie erinnern sich vielleicht: Am Anfang hieß es in den Medien, dass die Türkei gegen beide - IS und PKK - kämpfe, sehr bald hat man aber nichts mehr vom Kampf gegen IS gehört. Im Gegenteil, die USA müssen die Türkei nach wie vor darauf drängen, auch mehr gegen IS zu unternehmen. Warum? Aus zwei Gründen hat die Türkei wenig Appetit darauf:

1. Sollte man stärker gegen den IS vorgehen, macht man sich verwundbar und muss mit Vergeltung in Form von Terroranschlägen in der Türkei rechnen. Das tut weder der Wirtschaft gut (Tourismus) noch der AKP, deren Stellung aus vielen Gründen innenpolitisch derzeit schwächelt.

Diese Einstellung einer Regierung ist aber nicht einzigartig oder ungewöhnlich. Ähnliches sieht man in Pakistan in Bezug auf die Taliban. Um sich selbst vor mehr Anschlägen zu schützen, kooperiert man gern mal mit dem „Teufel“.

2. Der IS ist genau wie die AKP-Regierung gegen Assad; auch ist es der Türkei lange ein Dorn im Auge, dass der Westen, vor allem die USA, in Nordsyrien keine Safezone eingerichtet hat, um zum einen den Flüchtlingsstrom aufzuhalten noch die syrischen Kurden unter Kontrolle zu behalten. Der Türkei/AKP hat es nicht gepasst, dass die Kurden, die ja hauptsächlich den IS am Boden bekämpft haben, dadurch am Ende auch mehr Einfluss gewonnen haben.

Frau Kern, herzlichen Dank für das Gespräch.

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Veko-online erreichte Rosi Kern auf elektronischem Wege im Nahen Osten. Das Interview führte Klaus Henning Glitza.

 

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