Im Windschatten von Corona zeigt der IS Flagge – online wie offline
Forschungsergebnisse der Sulis Insights Studie zu Bekenntnissen des IS zu Anschlägen im Irak im ersten Halbjahr 2020
Von Friedrich Christian Haas
Der Aufstieg und die anschließende Zerstörung des territorialen Islamischen Staates (IS) und seiner Anhänger führten viele Beobachter zu der Annahme, dass die extremistische Gruppe in ihrem ehemaligen irakischen Kernland weitgehend beseitigt wurde. Diese Forschung zeigt jedoch, dass es, während die Aufmerksamkeit der Welt in den letzten Monaten anderswo lag, im Verlauf der Pandemie zu einem starken Anstieg von Angriffen im Irak kam, die der IS auf seinen Medienkanälen für sich reklamiert.
Die Analyse der vorgeblichen Operationen und Anschläge des IS im Irak im ersten Halbjahr 2020 hebt vor allem die Wiederbelebung der IS-Medienmaschine im Irak hervor und unterzieht hunderte oft detaillierter Behauptungen einer genaueren Prüfung. Darüber hinaus versuchen die Autoren durch die Untersuchung der Anzahl und Art der vom IS für sich in Anspruch genommenen Operationen ein genaueres Bild des Umfangs der IS-Aktivitäten zu vermitteln, dass deutlich über die der Berichterstattung in internationalen und lokalen Medien sowie die von Seiten der irakischen Regierung hinaus geht. Die Autoren nutzen für ihre Analysen, ähnlich wie Bellingcat oder Complexium, neue digitale Instrumente und Methoden. Damit eröffnen diese Startups mit Techniken wie Digital Listening der Intelligence-Branche neue Möglichkeiten der Informationsgewinnung und -auswertung. In diesem Falle verfügt die Co-Autorin und Gründerin Karina Weitzer auch über einschlägige Erfahrungen im Bereich in Intelligence zur MENA-Region und hat selber länger vor Ort im Irak gelebt.
Zwischen Januar und Mai 2020 bekannte sich der IS zu mehr Angriffen im Irak als jede andere regionale Gruppierung des IS im Mittleren Osten und Nordafrika inklusive der Sahelzone. Es wurden in diesem Bericht insgesamt 492 vom IS im Irak zwischen Januar und Mai 2020 publizierte Angriffe analysiert. Diese zeigen, dass insbesondere in der Zeit von Mitte März bis Ende Mai die vom IS für sich reklamierten Angriffe im Irak deutlich zunahmen. Im April wurden insgesamt 133 Angriffe und im Mai 193 Angriffe verzeichnet (im Gegensatz zu 42 behaupteten Angriffen im Januar). Die Hauptziele der Angriffe sollen die irakischen Streitkräfte (166 Angriffe), Stammes-Milizen (73 Angriffe) und Hashd al-Shaabi-Milizen (70 Angriffe) gewesen sein. Der IS behauptet, dass die Angriffe hauptsächlich auf Fahrzeuge (132 Angriffe), Kasernen (89 Angriffe) und landwirtschaftliche Betriebe oder Ackerland (33 Angriffe) gerichtet waren.
Ein Augenmerk der Studie gilt den Angriffen auf landwirtschaftliche Betriebe und Ackerland, die die Autoren als wirtschaftliche Sabotage einstufen und hauptsächlich in Form von Ernteverbrennungen erfolgten. Neben Angriffen auf die Elektrizitätsinfrastruktur werden diese Art von Angriffen vom IS als Teil seines „Wirtschaftskrieges“ und „Abnutzungskrieges“ gegen den irakischen Staat eingeordnet. Insbesondere im Mai gab es eine hohe Anzahl von solchen Angriffen, die hauptsächlich in den Regionen Kirkuk, Diyala und Salahaddin stattfanden.
Auffällig ist auch, dass es nur einen einzigen IS-Selbstmordanschlag zwischen Januar und Mai gegeben zu haben scheint, der im April in Kirkuk stattfand. Angesichts des hohen Werts von Selbstmordoperationen für dschihadistische Gruppen im Allgemeinen und der Beachtung, die sie in der offiziellen Kommunikation im Besonderen erhalten, könnte das Fehlen solcher Anschläge ein Hinweis auf eine verminderte Rekrutierungsfähigkeit sein und auf eine verlangsamte organisatorische Regeneration hinweisen oder auch auf andere interne Herausforderungen nach dem Führungswechsel. Eine weitere Option ist sicher auch, dass der IS oft Milizen und Kampfgruppen einzelner ihm nahestehender sunnitischer Stämme in der Propaganda zu seinen Kräften zählt, die in der Regel keine Selbstmordanschläge verüben und primär in ihren Operationen ihre regionalen tribalen Interessen verfolgen.
Die Studie zeigt, dass der IS und seine Einsatzfähigkeit oder zumindest seine einst gefürchtete Propagandamaschinerie wieder ein Aktivitätsniveau erreicht haben, wie es nur wenige im März 2019 erwartet hätten, als sich die Überreste des „Kalifats“ massenhaft in Baghuz in Ostsyrien ergaben. Ein mögliches Wiederaufleben des IS würde nicht nur die Integrität des Irak und die Sicherheit seiner Bürger bedrohen. Es wäre wünschenswert, dass die Möglichkeiten der Auswertung von online Medien durch Digital Listening noch stärker genutzt werden. Dabei wäre noch genauer zu untersuchen, wer hinter welchen Operationen gegen die Zentralregierung in Bagdad und ihren Verbündeten steht, wer bewusst und oder unbewusst und mit welchem Interesse unter der Flagge des IS operiert.
Eines ist jedoch offensichtlich, die Cyber-Fähigkeiten des IS im digitalen Raum sind weiter intakt. Die Frage wird sein, ob sie wieder in den Zielgruppen verfangen. Und wer im digitalen Raum stark ist, braucht ggf. auch keine Bodentruppen, um im Irak oder auch Europa seine fatale Wirkung entfalten zu können. Um so wichtiger zu sehen, dass sich junge Analysten, digital natives, eigenständig dieser digitalen Seite des Terrorismus und Extremismus widmen. Grundlegende Risikoanalysen müssen künftig diesen digitalen Raum ebenso umfassen wie den analogen, wenn ein echtes Lagebild gewährleistet werden soll.
Studie als PDF
https://www.sulisinsights.com/s/sulis_insights_is_iraq_report_jan-may-2020.pdf
Mehr zur Studien von www.sulisinsights.com im Blog
https://www.sulisinsights.com/blog/is-communications-monitoring-report-iraq-january-may-2020