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Anschlag auf Olympia

Was 1972 in München wirklich geschah

Sven Felix Kellerhoff,
Darmstadt 2022,
240 Seiten.
ISBN 978-3-8062-4420-5.
Ladenverkaufspreis 25 €.
Olympiade in München, 1972. Die Organisatoren waren sich einig: Es sollten heitere Spiele werden und das schöne Gesicht Deutschlands gezeigt werden. Ein Staat der Stärke zeigt, also viele uniformierte Polizisten oder gar Soldaten auf der Straße, passte nicht zu dieser Grundhaltung.

Was sich dann wenige Tage nach der Eröffnung der Sommerspiele ereignete, hat sich in das Gedächtnis vieler Deutscher eingebrannt: Palästinensische Terroristen überfielen das olympische Dorf, töteten israelische Sportler und nahmen andere als Geiseln. Die Tat endete in einem Feuergefecht mit der bayerischen Polizei auf dem Flughafen von Fürstenfeldbruck, in dessen Verlauf alle Israelis getötet wurden.

Sven Felix Kellerhoff wurde ein Jahr vor dem Attentat von München geboren, studierte unter anderem Geschichte an der FU Berlin und arbeitete danach als Journalist bei zahlreichen Zeitungen und für Rundfunksender. Er veröffentlichte mehrere Bücher unter anderem über politische Attentate und die Rote Armee Fraktion. Ein Buch über das Olympia-Attentat zu schreiben, lag somit nahe. Die zahlreichen Anmerkungen und Literaturhinweise weisen auf eine wissenschaftliche Publikation hin. Aber dazu will der Titel des Buches nicht so recht passen. Dieser suggeriert nämlich in seinem zweiten Teil, dass bisher die Wahrheit über das Attentat zumindest der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Dem kann man ohne Wenn und Aber zustimmen. Noch ein wenig weiter gedacht, hat der Titel in sich jedoch etwas Endgültiges und verspricht, dass danach keine Fragen mehr offen bleiben. Gerade diese Endgültigkeit gibt es jedoch in der Geschichtswissenschaft nicht.

Der Autor beschreibt in einer „historischen Reportage“ zunächst einige Rahmenbedingungen des Attentats von 1972. Dabei bildet das Sicherheitskonzept einen Schwerpunkt. Eindrucksvoll zeichnet er auf, dass man in München unverdrossen auf Deeskalation setzte, obwohl die Bedrohung durch den Terrorismus in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren eine feste Konstante nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in vielen westlichen Staaten geworden war. Mehrere Anschläge ereigneten sich in dieser Zeit in und am Flughafen München-Riem. Neben der politisch motivierten Kriminalität, stellten aber auch neue Formen der Schwerstkriminalität eine Herausforderung für die Polizei dar. Spektakulär war Anfang August 1971 der Fall Rammelmayer, ein bewaffneter Raubüberfall auf eine Filiale der Deutschen Bank in München, mit anschließender Geiselnahme, der für eine Geisel und einen Täter tödlich endete.

Den Ablauf des Anschlags auf das olympische Dorf beschreibt Kellerhoff chronologisch: Von den ersten Schüssen über die ersten Reaktionen der Polizei und der zuständigen Politiker bis zu den Verhandlungen mit den Geiselnehmern. Dabei gewichtet er zunächst die Sichtweise der Polizistin Annelies Graes sehr hoch, die zeitweise allein mit dem Anführer der Terroristin sprach, später gibt er den Schilderungen dreier DDR-Journalisten breiten Raum. Daneben schildert der Autor die vielfältigen diplomatischen Anstrengungen der Bundesregierung, eine friedliche Lösung zu erreichen und ebenso die Bemühungen der Terroristen, in der arabischen Welt Unterstützung zu finden. Kellerhoff beschreibt auch ansatzweise die Entwicklung der Überlegungen der Bundes- und Landesregierung, eine gewaltsame Geiselbefreiung durchzuführen. Zwei Varianten sind angedacht: Eine Befreiung der Geiseln im olympischen Dorf oder eine Befreiungsaktion auf dem Flughafen von Fürstenfeldbruck. Die erste Version scheidet aus, da der Anführer der Terroristen misstrauisch wird, somit wird innerhalb weniger Stunden ein Zugriff auf dem Flughafengelände geplant.

Eindrucksvoll zeichnet der Autor nach, wie sich dort Fehler an Fehler reihte: Die Präzisionsschützen wussten nicht, wie viele Täter sie bekämpfen mussten, hatten weder Funkgeräte noch ein freies Schussfeld, die Hubschrauber landeten an der falschen Stelle und Plan B scheiterte, weil die dafür vorgesehenen Polizisten dieses „Himmelfahrtskommando“ ablehnten. Der eigentliche Zugriff endete in einem Desaster: alle israelischen Geiseln und ein deutscher Polizist wurden getötet, ebenso fünf Terroristen. Drei Geiselnehmer überlebten und wurden festgenommen. Einige Wochen später wurden sie durch eine Flugzeugentführung freigepresst.

Unter der Überschrift „Vergeltung“ schildert der Autor einige Maßnahmen, die die israelische Regierung gegen „Terrorbasen“ im Libanon und in Syrien ergriff. In der Folgezeit tötete der israelische Geheimdienst einige der Drahtzieher der Terroraktion von München.

Die Bundesregierung wies unmittelbar nach dem Anschlag in Westdeutschland studierende Araber aus und verbot mehrere palästinensische Organisationen. Wenige Tage später beschloss Innenminister Genscher, eine Anti-Terror-Spezialeinheit aufzubauen: Die Geburtsstunde der GSG 9.

Was 1972 in München wirklich geschah, bleibt auch trotz der fleißigen Arbeit des Autors zu einem großen Teil im Dunkeln. Das liegt zum einen daran, dass die Seite der Täter lediglich angedeutet bleibt. Nur von ihren Auswirkungen her werden die handelnden Polizeibeamten betrachtet. Die vom Autor beabsichtigte „historische Reportage“ schweigt zum Beispiel über die Entscheidungsfindung in der polizeilichen Führung und ebenso bleibt vieles von dem unbetrachtet, das auf der politischen Ebene zu den Entscheidungen führte. Man kommt somit auch bei diesem Thema zu dem Ergebnis, dass es „die“ Wahrheit in der Geschichtswissenschaft nicht gibt und sich im Laufe der Zeit – mit sich verändernden Fragen – auch immer neue Antworten zu einem historischen Ereignis ergeben.

Von Dr. Reinhard Scholzen

 

Über den Autor
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen, M. A. wurde 1959 in Essen geboren. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Trier. Nach dem Magister Artium arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte 1992. Anschließend absolvierte der Autor eine Ausbildung zum Public Relations (PR) Berater. Als Abschlussarbeit verfasste er eine Konzeption für die Öffentlichkeitsarbeit der GSG 9. Danach veröffentlichte er Aufsätze und Bücher über die innere und äußere Sicherheit sowie über Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs: Unter anderem über die GSG 9, die Spezialeinsatzkommandos der Bundesländer und das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr.
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