Nach Hanau
Der Tätertypus des rechtsextremistischen einsamen Wolfs als größer werdende Gefahr
Von Dr. Florian Hartleb
Nicht schon wieder Rechtsterrorismus, begangen durch einen Einzeltäter, denken sich nicht nur die Sicherheitsbehörden, sondern auch viele Bürger. Eine allgemeine Verunsicherung greift um sich, wie auch die Reaktionen zeigen. So wird versucht, der AfD den Mord in die Schuhe zu schieben. So äußerte sich bereits die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer demensprechend. Sie instrumentalisiert die Tat, spricht in unglücklicher Wortwahl davon, den Beleg zu haben, „eine Brandmauer gegen die AfD“ zu halten
Kein Wunder: Erst im Oktober war die Republik in heller Aufregung: Der 27-jährige Stephan Balliet versuchte am 9. Oktober, mitten am Tag in eine jüdische Synagoge einzudringen, ermordete nach dem Misserfolg willkürlich zwei Menschen. Er streamte live auf der Plattform Twitch. Nun sorgte ein 43-jähriger gelernter Bankkaufmann mit absolviertem Studium, Tobias R. für ein Fanal. Scheinbar unauffällig, sozial isoliert und arbeitslos bei seinen Eltern lebend, ermordete er zehn Menschen, darunter seine Mutter, verletzte zusätzliche Menschen schwer und richtete dann sich selbst. Bereits die Opferauswahl deutet auf Rechtsterrorismus hin, da er Orte aufsuchte, in denen sich bevorzugt Menschen mit Migrationshintergrund befinden. Diese wurden dann zu seinen Opfern, die er kaltblütig, aus nächster Distanz ermordete.
Die Tat war akribisch vorbereitet, von langer Hand geplant. Dafür sprechen ein 24-seitiges Manifest, das er hinterließ, sowie ein You tube-Video. Der Täter wollte seine kruden Verschwörungstheorien verbreiten, wandte sich in seinem Manifest an das „gesamte deutsche Volk“. Sein You-tube -Video richtet sich hingegen in sehr gutem Englisch an „alle Amerikaner“. Aufgenommen wurde es im heimischen Zimmer. Man sieht das nicht-gemachte Bett im Hintergrund. Die Botschaft „aus dem Kinderzimmer“ ist eindeutig. Der Täter fühlt sich verfolgt, spricht davon, dass er von einem Geheimdienst überwacht werde. Und am liebsten will er die ganze Welt „eliminieren“, von Marokko über Türkei bis hin zu Kambodscha. Am Ende soll auch das eigene Volk „daran glauben“. Deutlich wird hier, was diesen Einzeltäter ausmacht. Er schneidert sich eine persönliche Kränkungsideologie zurecht, die persönliche Frustrationen mit politischen Motiven verbindet. Seine Tat trägt klar die Handschrift eines rechtsterroristischen Einzeltäters, eines „einsamen Wolfs“. 1
Terror durch Einzelne, ohne dass eine Organisation dahinter die Strippen zieht – dieses Phänomen, umschrieben mit der Metapher des Einsamen Wolfes, meinten wir lange nur aus anderen Weltregionen zu kennen, aus Afghanistan, dem Irak oder dem Israel-Konflikt, wo radikale Palästinenser gezielte Messerattacken verüben. Doch ob wir es wahr haben wollen oder nicht: Akte des Terrors sind mitten unter uns. Das 21. Jahrhundert ist zwar schon jetzt das Jahrhundert des Individualterrorismus. Es braucht eben keine Terrororganisation mehr. Ein Computer mit Internetzugang reicht zur Radikalisierung aus. Seit dem 22. Juli 2011 ist dieser Tätertypus der Weltöffentlichkeit bekannt. Nach jahrelanger Planung ermordete der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik 77 Menschen, darunter viele Jugendliche. Fünf Jahre später, am Tag genau, versetzte der 18-jährige Deutsch-Iraner David Sonboly die Stadt München in einem Ausnahmezustand. Wie Tobias R. ermordete er Menschen mit Migrationshintergrund. Nach mehr als drei Jahren werden die Taten auch als politisch-motiviert eingestuft.
Die Einzeltäter sind Männer, die sich eine persönliche Sendungsideologie zurechtgebastelt haben und die sich virtuell radikalisiert haben, dann aber nicht mit gleichgesinnten, sondern alleine losschlagen. Für eine akribische Vorbereitung spricht, dass sich die Täter als Public-Relations-Strategen in eigener Sache sehen und bei ihren Terrortaten für eine Publizität sorgen wollen, die sie für angemessen halten. Der Täter von Hanau etwa hat nicht nur ein Manifest vorgelegt, das sich an das deutsche Volk richtet, sondern auch noch ein Youtube-Video auf Englisch publiziert, das sich an die Amerikaner richtet. Hier wird ein großes Maß an Narzissmus deutlich. Der Täter sieht sich als Retter, Erlöser, Befreier. Auf seine Gedanken gingen demnach mehrere Hollywood-Filme und weltgeschichtliche Ereignisse, die auf seinem Willen zurückzuführen 2
Die hinterlassenen Pamphlete und Videos von Tobias R. zeigen: Sein Motiv entspricht nicht klischeehaft dem eines klassischen Neonationalsozialisten mit Merkmalen wie Hitler-Verehrung, Rassismus und Antisemitismus. Jeder einsame Wolf hat seine eigene Kriegsideologie, die schwer im realen Leben zu lokalisieren ist. Jedes Manifest trägt daher eine unterschiedliche Handschrift. Breivik etwa sah sich als Tempelritter, der Europa vor der Islamisierung retten wollte. David Sonboly wollte München, sein Vaterland, befreien. Und Stephan Balliet sieht „die Juden“ verantwortlich für alles Übel dieser Welt. Wir sprechen hier von sozial isolierten Menschen, die in der großen Öffentlichkeit kaum greifbar sind. Auch der Täter von Hanau war offenbar weitestgehend unauffällig, so wurde er zumindest von seinem Schützenverein beschrieben. Die Sicherheitsbehörden müssen daher im digitalen Raum ansetzen. Das ist die Lebensrealität der einsamen Wölfe.
Es sind neben Vernichtungsphantasien Verschwörungstheorien eigner Art, die etwa auch an die Reichsbürger erinnern lassen. Ähnlich wie diese suchte Tobias R. den Kontakt zu Behörden, wandte sich wegen der angeblichen Existenz einer Geheimorganisation an die Bundesanwaltschaft. Er suchte deswegen auch eine Privatdetektei auf. All das zeigt, dass der Täter offenbar psychisch gestört war, unter Verfolgungswahn litt. Doch das schließt eine politische Radikalisierung, eine politische Motivlage nicht aus. Das eine sollte nicht gegen das andere ausgespielt werden: Psychische Gestörte können Extremisten sein, Extremisten psychisch gestört sein.
Eine weitere Parallele zu anderen Tätern ist: Es handelt sich um beziehungsunfähige Männer mit zahlreichen persönlichen Frustrationen. Beim Fall von Hanau ist auffällig, dass der Täter ein gestörtes Frauenbild zu haben schien. Dem Thema ist in seinem Manifest ein ganzes Kapitel gewidmet. Er spricht in seinen Texten auch davon, er habe extra angefangen zu studieren, um eine Frau kennenzulernen, nach einem Date habe er aber feststellen müssen, dass seine Bekannte auch irgendwie überwacht worden sei. Offenbar hat hier die Incel-Bewegung Einfluss auf das Weltbild des Täters: Diese kommt aus den USA und findet in den virtuellen Welten, etwa auf den Plattformen 4chan und 8chan Verbreitung. „Incels“ betrachten sich oft als Männer zweiter Klasse, die sich von Frauen zurückgewiesen fühlen und Rache üben wollen. Sie denken, dass sie deshalb auf der Verliererseite stünden, da Frauen „Alphamänner“ wollen.
Hinzu kommt: Der Täter wohnte bei seiner Mutter – die er nun auch umgebracht hat. Ein Breivik war auch wieder bei seiner Mutter eingezogen, und Stephan B., der Täter von Halle, hat ebenfalls bei seiner Mutter gelebt. Hier erkennt man ein Muster. Den Täter von Halle kannte man nicht einmal in der örtlichen Kneipe. Zugleich war er im virtuellen Raum sehr aktiv. Das heißt, das soziale Leben dieser Täter findet häufig mehr oder weniger komplett im Internet statt. Der Täter von Hanau hatte zum Beispiel auch eine eigene Web-Site, hatte zahlreiche Videos hochgeladen. Er war Narzisst, hielt sich für ein Genie. Im Internet finden solche vereinsamten Seelen leicht Gleichgesinnte, ihr ideologisches Rudel. Und dieses trägt dann zu einer weiteren Radikalisierung der Täter bei. Beim Individual-Terrorismus spricht man von einer spezifischen Radikalisierungsphase und irgendwann gibt es den sogenannten Trigger, den auslösenden Punkt, wo es dann in die Planungsphase übergeht, wo der Täter sich ganz konkret damit beschäftigt, wie er sich eine Waffe beschafft. Tobis R. verschaffte sich die Tatwaffe legal, war Mitglied eines Schützenvereins.
Die Sicherheitsbehörden sind sich mittlerweile dieser Gefahr bewusst. Es gibt neue Analysetools, etwa das Risikobewertungssystem Radar-rechts, das es bereits im Bereich des islamistischen Terrors gibt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz arbeitet inzwischen testweise mit Künstlicher Intelligenz, um im Internet mithilfe bestimmter Schlüsselworte potenzielle Täter aufzuspüren. Trotzdem gibt es noch eine Menge Baustellen in den Behörden, vor allem, was das Personal angeht: Der Verfassungsschutz geht intern davon aus, dass noch immer bundesweit eine dreistellige Zahl von Mitarbeitern fehlt – allein im Bereich Rechtsextremismus. Vor allem IT-Fachleute und Daten-Auswerter werden händeringend gesucht. Und: Wir müssen hier weg von der Beamtenkultur und brauchen junge Leute, die sich auf rechtsradikalen Plattformen wie
„8chan“ oder „4chan“ bewegen und den dort verwendete Szene-Sprech entschlüsseln können. Helfen wird das wenig, da die einsamen Wölfe unbeschriebene Blätter für die Sicherheitsbehörden sind. Ein Stephan Balliet war ebenso wenig polizeilich bekannt wie ein Breivik. Allein mit Repression zu antworten, reicht ohnehin nicht aus. Nach Breiviks Taten lautete das Mantra in Norwegen „mehr Offenheit, mehr Demokratie” – das Gegenteil von dem, was er erreichen wollte. Nach Christchurch war die Reaktion eine ähnliche. Und es ist auch die Gesellschaft an sich angesprochen. Verschwörungstheorien grassieren, eine Bewegung wie die Reichsbürger, die ähnlich wie der Täter an dunkle Mächte und die Überwachung durch einen von den USA gesteuerten Geheimdienst glauben, hat massiv Zulauf erhalten. Von daher sind auch die „einsamen Wölfe“ Kinder ihrer Zeit und Seismographen unserer Zeit. Beruhigend ist das alles nicht, auch wenn die Politik beschwichtigen muss. Vielleicht helfen Rezepte aus anderen Ländern. Nach dem Breivik-Schock gab man in Norwegen die Parole „mehr Offenheit“ aus. Vielleicht sollte man hierzulande derart reagieren. Und politische Bildung sollte hier ansetzen: Langfristig sollte schon in der Schule behandelt werden, wie man mit Fake News, alternativen Medien und Verschwörungstheorien umgeht.Quellen:
1 Siehe dazu: Florian Hartleb: Nach dem Horrorjahr 2019 und unter dem Eindruck von Halle: Lässt sich der rechtsextremistisch motivierte Einzeltäterterrorismus bekämpfen?, in: VEKO online, Dezember 2019, Vernetzte Kompetenz im Sicherheitsmanagement, https://www.veko-online.de/titel/nach-dem-horrorjahr-2019-und-unter-dem-eindruck-von-halle.html
2 Siehe zu diesem Tätertypus Florian Hartleb: Einsame Wölfe: Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter, Hoffmann und Campe: Hamburg 2018 sowie auf Englisch in aktualisierter Form Florian Hartleb: Lone Wolves. The New Terrorism of Right-Wing Single Actors, Springer Nature: Cham u.a. 2020.