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Bundesinnenminister Horst Seehofer beim virtuellen Treffen der EU-Innenminister: Deutschland forciert Stärkung der „Polizeipartnerschaft“ in Europa.
© Henning Schacht, www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/07/informeller-rat-innenminister-07-Juli-2020.html

Eine Europäische Polizeipartnerschaft

Die Schwerpunkte des deutschen EU-Ratsvorsitzes und der Europäischen Kommission im Bereich innere Sicherheit.

Von Antonio-Maria Martino

Deutschland hat am 1. Juli 2020 die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union von Kroatien übernommen. Ähnlich wie für das jüngste EU-Mitgliedsland Kroatien, das im ersten Halbjahr 2020 zum ersten Mal einen EU-Ratsvorsitz bestreiten durfte, wird auch die deutsche Ratspräsidentschaft keine „normale“ Präsidentschaft sein. Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie steht die gesamte EU vor neuen, bisher nie da gewesenen Herausforderungen.

Das Programm des Triovorsitzes (Deutschland, Portugal und Slowenien) wurde angepasst und das Hauptaugenmerk auf die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise gelegt. Dessen ungeachtet bleiben viele der in den letzten Jahren ganz oben auf der EU-Agenda stehenden Themen – wie Klimawandel, Migration, Terrorismus – weiterhin aktuell. Im Bereich der inneren Sicherheit wird sich Deutschland insbesondere einer Stärkung der „Polizeipartnerschaft“ in Europa widmen, um „mehr Zusammenarbeit und einen besseren Austausch von polizeilichen Erkenntnissen zwischen den Mitgliedstaaten und anderen Partnern“ zu erzielen, wie bereits anlässlich des Europäischen Polizeikongresses in Berlin im Februar 2020 verkündet worden war. (www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2020/02/europaeischer-polizeikongress.html)

COVID-19

Die Covid-19-Pandemie hat mehr denn je gezeigt, wie stark die EU-Mitgliedstaaten voneinander abhängig sind und wie umfangreich sich die Maßnahmen eines Staates (Grenzschließungen, Reisewarnungen) auf andere Staaten auswirken. Die Pandemie hat aber auch gezeigt, dass sich die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen besser abstimmen müssen, damit die verschiedenen nationalen und europäischen Maßnahmen kongruent sind und das gemeinsame Ziel, möglichst rasch die Covid-Krise zu überwinden, nicht konterkarieren. Das gilt für die Gesundheitspolitik genauso wie für andere Politiken und Kooperationsformen.

Polizeikooperation

Eine der bewährtesten Arten grenzüberschreitender Zusammenarbeit in Europa ist die polizeiliche Zusammenarbeit, die in ihren Ursprüngen auf dem Schengener Abkommen 1985 beruht. In letzter Zeit war nicht nur wegen der Covid-19-Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten, sondern schon vorher aufgrund der Migrationskrise 2015/16 eher von einer tiefgehenden Krise des Schengenraums denn von seiner Reform die Rede. Das hat die deutsche Ratspräsidentschaft zum Anlass genommen, um „die grenz­überschreitende Zusammenarbeit unserer Polizeibehörden in einer Europäischen Polizeipartnerschaft“ zu verbessern. „Polizistinnen und Polizisten in der Europäischen Union sollen so die notwendigen Informationen aus anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen.“ (So lauten die Vorgaben laut „Gemeinsam. Europa wieder stark machen. Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“, S. 19). Auch die Zusammenarbeit von Polizei, Zoll und Justiz soll verbessert werden.

Verfügbarkeitsprinzip

Die von der deutschen Ratspräsidentschaft skizzierte Europäische Polizeipartnerschaft (European Police Partnership – EuPP) soll sich auf ein im Grunde genommen altbekanntes, aber deswegen nicht unbedingt vollständig umgesetztes Prinzip gründen: dem vom Haager Programm 2004 aufgestellten Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen. Das Haager Programm sah vor, dass sich ab 1. Januar 2008 der Austausch von Informationen nach dem Grundsatz der Verfügbarkeit funktionieren sollte. Dies bedeutet, „dass unionsweit ein Strafverfolgungsbeamter in einem Mitgliedstaat, der für die Erfüllung seiner Aufgaben Informationen benötigt, diese aus einem anderen Mitgliedstaat erhalten kann und dass die Strafverfolgungsbehörde in dem anderen Mitgliedstaat, die über diese Informationen verfügt, sie – unter Berücksichtigung des Erfordernisses in diesem Staat anhängiger Ermittlungen – für den erklärten Zweck bereitstellt.“ (Haager Programm, S. 7). Dieser Grundsatz ist aber bislang unvollständig umgesetzt worden und gilt im Wesentlichen nur für jene Informationen, die nach den Prümer Beschlüssen ausgetauscht bzw. abgeglichen werden (wie DNA- oder Fingerabdruckdaten).

Eine Revision der Prümer-Beschlüsse steht zumindest auch laut der Mitteilung der Europäischen Kommission über eine neue „Strategie für eine Sicherheitsunion“ im Raum, um diese im Lichte der neuesten technologischen, forensischen und datenschutzrechtlichen Entwicklungen anzupassen. Ein Legislativvorschlag könnte Ende 2020 oder im ersten Halbjahr 2021 vorgelegt werden.

Die Innenminister der EU-Mitgliedstaaten haben sich zu den Plänen der deutschen Präsidentschaft für eine EuPP am 7. Juli 2020 im Rahmen eines informellen Treffens per Videokonferenz ausgetauscht und haben dieses Vorhaben mit breiter Zustimmung bedacht. Die Ratspräsidentschaft forderte die Europäische Kommission auf, die Ergebnisse bei der Diskussion über die neue Strategie für eine Sicherheitsunion zu berücksichtigen. Insbesondere solle die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit im Lichte der Vielzahl bestehender bilateraler Staatsverträge angepasst und vereinfacht werden.

Die Innenminister teilten ferner die Ansicht des Vorsitzes, dass ein besonderer Schwerpunkt auf die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und auf die Drogenkriminalität gelegt werden sollte. Es seien gerade die Entwicklungen im Cyber-Raum, die Anlass zur Sorge geben. Dies habe sich während der Covid-19-Pandemie noch verstärkt. Zu diesem Zweck sollen nach den Absichten der deutschen Ratspräsidentschaft die verfügbaren Möglichkeiten des Informationsmanagements voll ausgeschöpft werden, damit jeder Polizeibeamte in jedem Mitgliedstaat unter Einhaltung der geltenden Gesetze jederzeit auf die von ihm benötigten Informationen aus jedem anderen Mitgliedsstaat zugreifen kann.

Die Mitgliedstaaten waren sich einig, dass Instrumente wie Prüm und SIS wirksamer eingesetzt werden müssen, was eine qualitativ hochwertigere und vollständigere Versorgung dieser Systeme impliziert.

Sicherheitsunion

Die bereits erwähnte Mitteilung der Europäischen Union über eine neue Strategie zur Sicherheitsunion soll die wichtigsten Herausforderungen im Sicherheitsbereich für den Zeitraum 2020-2025 abdecken und den Rahmen für die zu treffenden Maßnahmen abgrenzen. Sie soll nach den Plänen des für den Bereich Inneres verantwortlichen Kommissions-Vizepräsidenten Margaritis Schinas die bislang nach Silostrukturen funktionierende Behandlung der Sicherheitspolitik überwinden. Die Kommission wertet in dieser Mitteilung die Cyber-Sicherheit als eine Angelegenheit, die von strategischer Bedeutung ist, was die umfassende Bekämpfung der cyber-bezogenen Kriminalität erfordert. Es wird daher in den kommenden fünf Jahren gesetzgeberische Initiativen zur Überarbeitung der NIS-Richtlinie (Network Information System), zur Revision der Gesetzgebung im Bereich kritischer Infrastruktur, zum Zwecke der Resilienz des Finanzsektors sowie etliche nicht legislative Maßnahmen geben (so ist etwa der Aufbau einer gemeinsamen Cyber-Einheit vorgesehen).

Cyber-Sicherheit

Diese Fokussierung auf den Bereich Cyber-Sicherheit/Cyber-Kriminalität deckt sich auch mit den tatsächlichen Befürchtungen der Bürgerinnen und Bürger, wie eine aktuelle Umfrage (Your rights matter: Security concerns and experiences, 2020) der EU-Grundrechteagentur (FRA) mit Sitz in Wien ergab. Laut dieser Umfrage sind etwa 55 Prozent der Befragten besorgt, dass die Informationen, die sie online und in sozialen Medien austauschen, mit böswilliger Absicht abgerufen werden könnten.

Neben der Angst vor Cybercrime zeigte sich jeder dritte Befragte (31 Prozent) besorgt darüber, dass Unternehmen ohne Erlaubnis auf die persönlichen Daten zugreifen könnten. Einer von fünf Menschen in der EU ist zudem sehr besorgt, einen Terroranschlag zu erleben. Bei der Umfrage wurden ca. 36.000 Personen in den EU-Mitgliedstaaten, dem Vereinigten Königreich und Nordmazedonien befragt.

Die Covid-19-Pandemie hat nicht nur die cyber-bezogene Kriminalität verstärkt, sondern auch die Verbreitung von Hassbotschaften, Desinformation und Verschwörungstheorien im Internet befeuert. Bereits 2016 wurde von der Kommission ein Verhaltenskodex herausgegeben, der eine freiwillige Selbstbindung der Internetfirmen und sozialen Medien vorgesehen hat. Jetzt soll ein Schritt zu mehr (auch gerichtlich) durchsetzbarer Verbindlichkeit durch den im Herbst 2020 zu erwartenden Digital Services Act gemacht werden. Dieses große Legislativpaket soll u. a. eine Klarstellung und Verstärkung der Verantwortlichkeit für digitale Dienste bringen, um die Verbreitung illegaler Inhalte, Güter oder Dienste zu bekämpfen.

Ferner wurde bereits am 24. Juli 2020 eine Strategie zur Bekämpfung sexueller Ausbeutung von Kindern im Internet vorgelegt. Ebenso wird die Europäische Kommission eine Agenda gegen organisiertes Verbrechen und Menschenhandel vorlegen, die in Verbindung mit einem neuen Aktionsplan gegen den Menschenschmuggel die bislang unterdurchschnittliche strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung in diesen Bereichen verbessern und die operative Zusammenarbeit der betreffenden Strafverfolgungs- und Polizeibehörden effektiver gestalten soll. Der Bekämpfung des Drogen- sowie des illegalen Waffenhandels sind spezifische Mitteilungen bzw. ein Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen gewidmet. Die Strategie gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern sowie die angesprochenen Maßnahmen gegen Drogen- und illegalen Waffenhandel wurden gemeinsam mit der Strategie zur Sicherheitsunion präsentiert, was die Dringlichkeit des Handelns in diesen Bereichen unterstreicht.

Maßnahmen

Die Abwehr der vielfältigen hybriden Bedrohungen‚ die den sozialen Zusammenhalt schwächen und das Vertrauen in Institutionen untergraben können, werden ebenfalls in der Mitteilung der Europäischen Kommission angesprochen – wiewohl sie schon länger auf der EU-Agenda sind. Dessen ungeachtet erfordern diese Herausforderungen noch mehr Anstrengungen der Europäischen Union und insbesondere eine enge Abstimmung zwischen den verschiedenen involvierten Kommissaren (Justiz, Inneres) und dem Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell. Zentrale Maßnahme wird die Erstellung eines EU-Konzepts für die Abwehr hybrider Bedrohungen sein. Dieses Konzept wird die Früherkennung, Analyse, Sensibilisierung sowie den Aufbau von Resilienz bis hin zur Prävention bis und Krisenreaktion bzw. Folgenbewältigung abdecken.

Die Terrorismusbekämpfung beginnt mit Maßnahmen gegen die Polarisierung der Gesellschaft sowie gegen Diskriminierung und andere Faktoren, die die Menschen anfälliger für radikales Gedankengut machen können“ (Europäische Kommission, Pressemitteilung, 24.7.2020). Dieser Ansatz entspricht auch dem Zugang, den Österreich jahrelang in den relevanten Gremien (wie CATS, COSI) vertreten hat und sich auch mit den Vorgaben der österreichischen Sicherheitsstrategie (ÖSS) deckt.

Ein starkes europäisches Sicherheitsökosystem. Die Europäische Kommission setzt mit der Verbesserung der operativen Zusammenarbeit und der Schaffung eines Polizeikooperations-Kodex für spezifische Formen der Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden sowie mit einer Überarbeitung der Europol-Verordnung weitere Schwerpunkte.

Die Überarbeitung des so genannten EMPACT, einem operativen Politikzyklus, der verschiedene Kriminalitätsbereiche durch das Zusammenwirken der verschiedenen EU-Agenturen und der Strafverfolgungs- und Polizeibehörden der Mitgliedstaaten adressiert, sowie die Absicht, die Beziehungen zu Interpol zu intensivieren, zeigen, dass diese Kommission stärker als in der Vergangenheit der polizeilichen Zusammenarbeit mehr Gewicht verleihen möchte. Dies ist sehr zu begrüßen, da es nicht nur einem während der Entstehungsphase der Mitteilung zur Sicherheitsunion artikulierten Forderung Österreichs entspricht, sondern eine absolute Notwendigkeit darstellt, zumal der derzeitige rechtliche Rahmen der (operativen) polizeilichen Zusammenarbeit auf EU-Ebene 30 Jahre alt ist und entsprechend modernisiert werden sollte. Dabei wären wohl auch Anstrengungen zu unternehmen, um rechtliche Grundlagen etwa für den grenzüberschreitenden Einsatz von Flugsicherheitsbegleitern (Air Marshals) vorzusehen, damit diese zumindest EU-weit unabhängig vom Vorliegen bilateraler völkerrechtlicher Verträge von sämtlichen EU-Staaten in Anspruch genommen werden können. Nicht zuletzt werden die nächsten Monate entscheidend sein, um allenfalls doch noch das künftige Verhältnis der EU zum Vereinigten Königreich im so wichtigen Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit zu regeln. Das Vereinigte Königreich ist mit 31. Jänner 2020 aus der EU ausgetreten, wird aber bis Ende 2020 noch den sämtlichen EU-Besitzstand anwenden bzw. wird es im Wesentlichen als Mitgliedstaat behandelt (auch wenn es als nunmehriger Drittstaat aus allen EU-Institutionen ausgetreten ist). Leider blieben die Verhandlungsfortschritte in diesem Bereich bislang bescheiden, was einen „hard BREXIT“ bis Jahresende durchaus wahrscheinlich macht.

 

Über den Autor
Dr. Antonio-Maria Martino
Dr. Antonio-Maria Martino
Dr. Antonio-Maria Martino, LL.M, studierte an der Universität Wien und an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand. Er wurde 2011 zum Leiter des Referats für EU-Grundsatzfragen und Koordination im österreichischen Bundesministerium für Inneres bestellt. Dort ist er derzeit als Berater im Büro des Leiters der Gruppe „Internationales, EU, Protokoll“ tätig. Auf EU-Ebene ist er Leiter der österreichischen Delegationen in der Arbeitsgruppe der Europäischen Kommission gegen Antisemitismus sowie im Koordinierungsausschuss des Rates der Europäischen Union für den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (CATS). Martino ist Lektor an den Universitäten Innsbruck und Wien sowie Autor verschiedener Beiträge zu europa- und völkerrechtlichen Themen.
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