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Notwehr und Nothilfe   
Eingriffsermächtigung oder Rechtfertigung?

Von Jürgen Roos, Polizeidirektor a.D.

Notwehr und Nothilfe rechtfertigen im Einzelfall schwere Verletzungen und sogar die Tötung eines Angreifers, sofern dem Bürger nicht zeitgerecht staatliche Hilfe gewährt werden kann. Notwehr und Nothilfe durchbrechen das Gewaltmonopol des Staates. Handelt der gegen einen Bürger einschreitende Polizeibeamte selbst in Notwehr für sich oder Nothilfe für einen anderen, muss sich die Beurteilung des Geschehens einerseits als strafrechtliche Rechtfertigung beurteilen lassen, andererseits ist auch die Zulässigkeit des Handeln an der polizei­rechtlichen Ermächtigungsgrundlage zu messen. Besonders deutlich wird die „Wesensverschie­denheit“ von Straf- und Polizeirecht, wenn Polizeibeamte durch Schusswaffengebrauch töten oder verletzen. Ist ihr gerechtfertigtes Handeln ggfs. Verwaltungsunrecht?

 

Dem Laien sind die verschlungenen Pfade juristischen Denkens oft unverständlich; am vorgenann­ten Problem entzünden sich auch dogmatisch versierte Geister. Auch eine Entscheidung des OLG Celle lässt Fragen offen; eine der Einheit der Rechtsordnung entsprechende befriedigende Lösung ist nicht in Sicht.

 

1. Einleitung

Obwohl man annehmen könnte, dass die Fragestellung aufgrund des Zeitablaufs und der inzwischen mannigfachen Entscheidungen an Aktualität verloren haben müsste, kommt es dennoch immer wieder neu zu heftigen Diskussionen darüber, ob die Maßnahme des Polizeibeamten rechtmäßig gewesen ist oder im Sinne des Strafrechts “nur” gerechtfertigt werden kann[1]. Die Diskussion wird dann beson­ders “lebhaft”, wenn ein Beamter nach einer Bedrohung geschossen und dabei den Störer/Täter verletzt oder getötet hat. Stets wird die Frage gestellt, ob die Bestimmungen über die Notwehr oder die Nothilfe als Ermächtigungsgrundlage im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG für diese Schussabgabe herangezogen werden können.

 

2. Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes

Schon im Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz[2] war im § 35 Abs. 2 bestimmt, dass die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben. Diese Formulierung ist so oder ähnlich auch noch heute in den Polizeigesetzen zu lesen[3]. Heise/Riegel schrie­ben damals als Anmerkung zu dieser Bestimmung, dass mit dieser Vorschrift die Grundkonzeption des Musterentwurfs verdeutlicht werden sollte, wonach hoheit­liches Handeln nur auf der Grundlage öffentlich-rechtlicher Ermächtigungsnor­men zulässig sei. Liegen jedoch auch die Voraussetzungen einer Notwehr- oder Notstandssituation vor, so die Verfasser, so bleiben die Vorschriften des Straf- und Zivilrechts in ihren Wirkungen unberührt. “Das heißt vor allem, dass der Po­lizeibeamte beim Überschreiten der Grenzen der Befugnisse[4] nach Polizeirecht den strafrechtlichen Schutz des § 32 StGB etc. nicht verliert; er kann allenfallsdisziplinarrechtlich belangt werden. (. . .) Doch kann der Polizist sich für sein ho­heitliches (“Initiativ-”) Handeln nur auf die Befugnisse des Polizeirechts stützen”[5]. Damit war schon damals klargestellt, dass diese “Regelung” keine (Eingriffs-) Befugnisnorm für hoheitliches Handeln darstellt, sondern lediglich geeignet ist, den handelnden Beamten wie jeden anderen Bürger strafrechtlich zu rechtferti­gen. Die Vorschrift kann daher lediglich die (strafrechtliche) Rechtswidrigkeit des Handelns durch den Beamten beseitigen, so dass er weder bestraft noch zivil­rechtlich zum Schadenersatz herangezogen werden kann. Diese strafrechtliche Beurteilung durch den Staatsanwalt oder durch den Straf- oder Zivilrichter ist je­doch regelmäßig nicht geeignet, auch die verwaltungsrechtliche Frage zur Rechtmäßigkeit der Eingriffsmaßnahme zu beantworten. Während der Strafrich­ter mit Rechtfertigungs- oder auch Entschuldigungsgründen argumentieren kann, sind diese dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren fremd. Hier geht es allein um die Beachtung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen einschließlich der dazu ergangenen Formvorschriften im Vergleich mit der erfolgten Anwendung im konkret zu beurteilenden Fall.

 

3. Wesensunterschiede zwischen Straf- und Polizeirecht

Strafrechtliche Rechtfertigungsgründe und öffentlich-rechtliche Ermächtigungsgrundlagen sind wesensverschieden. Während die Notrechtsregelungen die individuelle Verantwortlichkeit betref­fen, erfasst die verwaltungsrechtliche Ermächti­gungsgrundlage das Handeln einer Behörde unab­hängig davon, wer dieses Handeln vollzogen hat. Verwaltungsrechtlich müssen daher polizei­liche Maß­nahmen als Ausübung hoheitlicher Gewalt hinsichtlich ihrer Zulässigkeit grund­sätzlich öffentlich-rechtlich begründet sein[6] und sich demzufolge auch anderen Kriterien unter­werfen. Dieses entspricht auch dem verfassungsrechtlichen Ver­ständnis vom Vorbehalt des Gesetzes und dem Bestimmtheitsgebot.

Unbestritten ist, dass auch einem Polizeibeamten bei Ausübung seines Dienstes das Notwehrrecht uneingeschränkt zur Seite steht. Der Polizeibeamte ist kein Bürger minderen Rechts. Was jedem Privaten nach § 32 StGB erlaubt ist, kann dem Polizeibeamten nicht verwehrt sein (Sch/Lenckner StGB 23.Aufl. § 32 Rn.42 c). Auch das Polizeirecht beschneidet den Rechtfertigungsgrund der Notwehr nicht[7]. Vielmehr stellt das BayObLG fest, dass es unzulässig sei, an "die Handhabung der Notwehrrechte durch Polizeibeamte strengere Anforderungen als an Private zu stellen".

 

4. Vorbehalt des Gesetzes

Nach Art. 20 Abs. 3 GG dürfen staatliche Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers nur auf der Grundlage eines förmlichen Gesetzes erfolgen. Dabei soll dieses Gesetz inhaltlich so bestimmt sein, dass der von dem Eingriff betroffene Bürger schon vorher in der Lage ist zu erkennen, was von ihm verlangt wird und mit welchen Konsequenzen er im Einzelfall der Nichtbeachtung zu rechnen hat. Dieses wurde durch das Bundesverfassungsgericht in inzwischen verfestigter Rechtsprechung immer wieder bestätigt[8]. Bereichsspezifisch, normenklar und in gewissen Bereichen amtshilfefest sind Ermächtigungsgrundlagen durch den Ge­setzgeber auszugestalten. Insbesondere das Merkmal “bereichsspezifisch” ist in dieser Überlegung von besonderer Bedeutung. Schon in der damaligen Diskus­sion im Zusammenhang mit dem sogen. „Todesschuss” wurde vehement dar­über diskutiert, ob in den Polizeigesetzen durch den Gesetzgeber eine konkrete und spezielle Ermächtigung einzubringen oder ob der Hinweis auf die Geltung der Nothilfebestimmung ausreichend ist.

Schon damals wies Prof. Dr. P. Lerche in seinem Rechtsgutachten[9] auf die Problematik der Eingriffsermächtigung im Verhältnis zu den allgemeinen Rechtfertigungsbestimmungen der Notwehr und Nothilfe hin. Er stellte die Frage[10], ob ein Handeln des Polizeibeamten in einer Notwehr- oder Nothilfesituation überhaupt als Ausfluss hoheitlichen Handelns zu werten ist oder nicht. Er verband damit die Überlegung nach der verfassungsrechtlichen Zuständigkeit des Landesgesetzgebers[11]. Für eine uneingeschränkte und alleinige Anwendung der Bestimmungen der Notwehr- und Nothilfebestimmungen spräche, so Lerche, dass der Polizeibeamte “als Mensch wie jeder andere” betroffen werde. Kein Gesetzgeber sei daher berechtigt, dem Polizeibeamten das in den Notrechten konkretisierte „natürliche Selbstverteidigungsrecht” zu nehmen. Allerdings, so wird dann auch festgestellt, sei dieses Handeln dann auch nicht dem hoheitlichen Handeln im Sinne der Subordinationstheorie[12] zuzurechnen. Der Akt der Notwehr oder der Nothilfe stelle dann auch keinen obrigkeitlichen Eingriff dar. „Hoheitliches Handeln liegt nur dann vor, wenn es mit Hoheitsrechten begründbar ist.” Entscheidend ist bei dieser Überlegung also, ob das Verhalten des Poli­zeibeamten der öffentlichen Gewalt, also dem hoheitlich handelnden Staat im weiteren Sinne zuzurechnen ist oder nicht. Diese „entweder – oder” Betrachtung kann grundsätzlich auch nicht abgelehnt oder abgeschwächt werden, da ein- und dasselbe Verhalten zwar unter verschiedenen Rechtsaspekten gesehen werden kann, eine letztendliche Rechtsverbindlichkeit aber nur entweder hoheitlich oder privatrechtlich beurteilt werden muss. Wäre das nicht der Fall, würde jede Dis­kussion über Handlungskompetenz (sei es als Recht oder sei es als Pflicht) ge­rade bei schwersten Rechtseingriffen überflüssig sein. Bestehende Jedermann-Rechte wie die Notwehr oder die Nothilfe würden gesetzliche Eingriffsermächti­gungen entbehrlich machen.

Die Vorschriften über Notwehr und Nothilfe sollen grundsätzlich daher nur dort wirken, wo staatliches Schutzhandeln für den Bürger zu spät käme und der dar­aus entstehende oder mögliche Schaden für ihn oder den anderen Mitbürger eine unzumutbare Belastung darstellen würde. Nur deswegen soll der Bürger das Recht haben, diese bedeutenden Interessen zu schützen und Angriffe auf seine Rechtsgüter oder die Rechtsgüter anderer abwehren zu dürfen. Der Bürger handelt für sich oder für den anderen in Not befindlichen Mitbürger, aber eben nicht namens oder im Auftrag einer Hoheitsperson oder des Staates. Dieses wird auch dadurch verdeutlicht, dass in dem Augenblick die Notwehrberechtigung entfällt, in dem der Staat handlungsfähig dem Bürger zur Seite steht. Damit wird auch dem Grundsatz des Gewaltanwendungsmonopols des Staates entsprochen. Notwehr oder Nothilfe sind daher nie darauf angelegt, Ermächtigungen für ein staatliches Eingriffshandeln zu geben oder gar vorhandene, aber im Umfang “nicht ausreichende” Ermächtigungen zu ergänzen oder gar zu unterlaufen.

So ist es durchaus schlüssig, dass schon im Rahmen der Vorbereitungshand­lungen für z.B. einen Geisel­einsatz wegen des Vorbehalts des Gesetzes gesetz­liche Vorgaben berücksichtigt werden müssen (wie z.B. Wahl des Standortes für den Schützen, um möglichst Unbeteiligte nicht zu gefährden). Wie könnte dann aber der nächste Schritt, der Einsatz selbst, also der „gezielte Nothilfeschuss” als „privates Verhalten der Nothilfe” gesehen werden?

Doch warum bedarf es dann überhaupt einer solchen gesetzlichen Festlegung, dass Notwehr und Nothilfe unberührt bleiben, wenn sie neben der Selbstverständlichkeit im weiteren nur zur „Verwirrung” und/oder zu kontroversen Dis­kussionen beizutragen vermag?

Aus den obigen Ausführungen lässt sich schlussfolgern, dass der Polizeibeamte sowohl bei der Inanspruchnahme von Notwehrrechten als auch bei der Anwen­dung unmittelbaren Zwangs in Ausübung hoheitlicher Funktion handelt. Das be­deutet, dass in jedem Fall durch den Beamten sowohl Verfahrensvorschriften ebenso zu beachten sind wie die dem öffentlichen Recht zugrunde liegenden „mehrstufigen” Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit. Der sich in Beschränkun­gen ausdrückende Wille des Gesetzgebers, z.B. den Waffengebrauch grundsätzlich anzudrohen, nurflucht- oder angriffsunfähig zu schießen, nur mit bestimmten, nämlich den vom Dienstherrn zur Verfügung gestellten Waffen zu schießen oder die Gefährdung anderer möglichst auszuschließen, kann somit nicht durch ein Ausweichen auf eine nicht so konkret strukturierte und jedermann zustehende Norm unterlaufen werden.

 

5. Verhältnismäßigkeit bei Waffenauswahl

So stellt z.B. die in den Polizeigesetzen vorhandene Aufzählung der zugelassenen Waffe eine abschließende Regelung dar. Das bedeutet, dass der Einsatz anderer (auch neuerer) Waffen nur nach entsprechender Änderung dieser Vorschrift möglich ist. Sowohl die Art der Waffen (Schlagstock, Pistole, Revolver etc.) als auch der Typ der anwendbaren Waffe und deren Munition wird vom Dienstherrn festgelegt. Diese Befugnis zur Auswahl ist Teil der Organisations­gewalt des Dienstherrn und berücksichtigt, in welcher Form der Staat die Polizeibeamten beim Einschreiten schützen will. Daraus entsteht jedoch nicht das alleinige Erfordernis, stets den größtmöglichen Verteidigungserfolg zum Vorteil des Beamten sicherzustellen. Vielmehr hat der Staat auch die Art der Bewaffnung zu den Rechten der Personen in Beziehung zu setzen, gegen die der Beamte tätig wird.Wie stark z.B. die Wirkung der Schusswaffe sein soll, ist daher stets eine Frage des dienstlichen Bedürfnisses (Schutz des Beamten) einerseits, aber eben auch der Wertung im Rahmen des Übermaßverbotes andererseits. Störer wie auch Straftäter sind durch Grundrechte geschützt, in die der Staat mit unmittelbarem Zwang eingreift.Dabei ist der Staat stets gehalten, die Auswirkungen des Waffengebrauchs so gering wie möglich zu halten. Die Festlegung bei der Auswahl der Waffen ist daher ein Kompromiss zwischen dem dienstlichen Bedürfnis und der rechtlichen Erforderlichkeit und Geeignetheit, für den der politische Entscheidungsträger die alleinige Verantwortung trägt[13]. Es ist daher dem einzelnen Beamten auch nicht zugestanden, von der Festlegung des Ge­setzes abzuweichen und z.B. ein Seitengewehr oder einen Säbel zu benutzen oder eine Waffe mit einem größeren Kaliber. Eine eventuell vorhandene waffen­rechtliche Erlaubnis, über die der Beamte zusätzlich verfügt, ist für den dienst­lichen Einsatz der Waffe nicht bedeutsam und verdrängt die o.a. Festlegung nicht. Diese enge Bindung aber wäre für den sich auf Notwehr/Nothilfe be­rufenden Beamten ohne Belang. Diesen Jedermannsrechten ist eine solche Festlegung fremd, da hier allein eine angemessene Zweckorientierung die Be­rechtigung zum Handeln begründet. Ähnliches gilt für die Regelung der Andro­hung des Zwangs. Da der Gesetzgeber in der Zwangsanwendung gegenüber dem Bürger eine besondere Eingriffsschwere sieht, fordert er im Falle der An­wendung des unmittelbaren Zwangs zwingend die vorherige Androhung (“ist ... anzudrohen”). Es ist also nicht in das „Belieben” des Beamten gestellt, ob er den unmittelbaren Zwang androht oder nicht. Lediglich im Ausnahmefall erfolgt eine Abschwächung, die der Gesetzgeber dann aber regelmäßig in einer ausführ­lichen und differenzierten Regelung modifiziert. Eine Nichtbeachtung dieser Vor­schrift macht die Anwendung des unmittelbaren Zwangs rechtswidrig – das ist gesetzgeberischer Wille. Wird eine Maßnahme des unmittelbaren Zwangs ohne vorherige Androhung durchgeführt, obwohl eine Androhung zuvor möglich gewe­sen wäre, ist die Anwendung des unmittelbaren Zwangs rechtswidrig. Ebenfalls begründet eine Androhung, die entweder formal oder auch inhaltlich den allgemeinen Rechtmäßigkeitsanforderungen nicht entspricht, die Rechtswidrigkeit des nachfolgenden unmittelbaren Zwangs. Auch dieses ist den Bestimmungen der §§ 32, 34 StGB fremd. Würde sich der Beamte also zulässig allein auf diese Vorschriften als Eingriffsermächtigung berufen können, würde er (bewusst und gewollt?) den gesetzgeberischen Willen in Bezug auf staatliches Eingriffshandeln unterlaufen können. Das Rechtsstaatsprinzip, das u.a. den Vorbehalt des Geset­zes und dessen Bestimmtheit meint, wäre wirkungslos.

 

6. Beispiele

Das Gesagte lässt sich noch an einigen Beispielen verdeutlichen.

Beispiel 1

Bei einer Geiselnahme zögert der Polizeibeamte noch mit dem Einsatz der Schusswaffe, da er eine Gefährdung Unbeteiligter nicht ausschließen kann. In dieser Phase stellt sich der in seinem Verein als sehr treffsicher bekannte Sportschütze an seine Seite. Mit dem Hinweis auf die bereits durch ihn erlangten Auszeichnungen für seine Treffsicherheit will er nun unter Bezugnahme auf die Nothilfe aus § 34 StGB diese „Situation bereinigen”, zumal er die “Rechtsbedenken” des Beamten nicht teilt und auch nicht zu beachten habe.

Würden sich die hoheitlichen Eingriffsnormen und die Notwehr-/ Nothilfe­rechte gleichberechtigt gegenüberstehen, so hätte der Polizeibeamte dieses Handeln des Sportschützen hinzunehmen. Er könnte sich nicht mit öffentlich-rechtlichen Mitteln dagegen wenden. Dieses würde aber dem Verständnis vom staatlich vorbehaltenen Zwangshandeln wider­sprechen.

Sollen aber nun die Jedermann-Rechte völlig wirkungslos sein? Diese Frage kann ebenso eindeutig verneint werden.

Beispiel 2

Der Polizeibeamte wird bei der Festnahme von dem bewaffneten Täter überwältigt und mit einer Schusswaffe bedroht; seine Dienstwaffe wird ihm abgenommen. Es gelingt dem Beamten im Rahmen des Handgemenges aber, die Waffe des auf ihm liegen­den Täters zu greifen. Um sich aus der lebensgefährlichen Bedrohung zu befreien, schießt der Beamte ohne Androhung mit dieser fremden großkalibrigen Waffe.

Da es sich bei der Waffe um die des Täters handelte, also um die nicht dienstlich gelieferte Waffe, wäre dieser Schusswaffengebrauch nicht von den Vorschriften dieses Gesetzes gedeckt und damit in enger rechtlicher Eingriffsbetrachtung unzulässig.

Allerdings wäre das Handeln des Beamten auf der Grundlage des allgemeinen Notwehrrechts aus § 32 StGB zulässig. Zu entscheiden wäre dann aber, ob in der Konsequenz des Handelns er wie „Jedermann” zu beurteilen wäre, also nicht als Amtswalter mit einer hoheitlichen Maßnahme?

Beispiel 3

Gleiches gilt dann, wenn der Beamte, in seiner Freizeit als Jäger unterwegs, plötzlich auf den mit Haftbefehl gesuchten Straftäter trifft. Der Beamte, der „sich in Dienst versetzt”, schießt nach vorheriger Androhung mit seiner Jagdwaffe auf den fliehenden Gesuchten.

Da die Waffe nicht dienstlich geliefert war, wäre dieser Schusswaffengebrauch rechtswidrig[14]. In diesen Beispielen wird deutlich, welche Wirkung die Gesetzesformulierung „die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand bleiben unberührt” nur haben kann: Sie sollen eine formal mögliche strafrechtliche Bewertung von dem Beamten dann fernhalten, wenn formal verwaltungsrechtlich die Maßnahme zwar als rechtswidrig zu beurteilen wäre, die Körperverletzung oder der Tod des Adressaten aber als Folge eines sachlichen inneren Zusammenhangs zwischen Dienstausübung und Rechtsfolge hervorgerufen worden ist. Dieses kann aber andererseits nicht bedeuten, dass die „öffentlich-rechtliche Eingriffsschwelle” damit für den Beamten gänzlich aufgehoben oder aber deutlich herabgesetzt wäre.Und genau hier liegt die wesentliche Beurteilung in diesem Thema: Der Beamte hat die (strengeren) öffentlich-rechtlichen Vorgaben der Verhältnismäßigkeit (Erforderlichkeit) auch dann zu beachten, wenn er im Einzelfall durch § 32 StGB gerechtfertigt sein sollte. Selbst wenn der Bürger in einem solchen Fall des § 32 StGB schon handeln dürfte, unterliegt diese Grenze für den Polizeibeamten aufgrund seiner spezielleren Kenntnisse (und auch Ausbildung) einer differenzierten Beurteilung.

An dieser Feststellung vermögen auch einzelne Entscheidungen der Gerichte[15] nichts ändern, die sich in den meisten Fällen nur auf eine Sichtweise (entweder strafrechtlich oder zivilrechtlich) beschränken, aber die Parallelität des Eingriffs- (Polizei-)rechts nicht einbeziehen. Dieses wird auch in einer Entscheidung des OLG Celle deutlich, die wegen der klaren Aussagen der Richter beeindruckend ist, von der man aber bei genauerem Durchlesen ebenfalls behaupten muss, dass die Richter der o.a. Konfliktsituation nicht Rechnung getragen haben (oder ausgewichen sind?).

 

7. Entscheidung OLG Celle[16]

Ausgangssachverhalt

Ein Beschuldigter, der in einem Streifenwagen zur Entnahme einer Blut­probe transportiert wurde, bedrohte während der Fahrt plötzlich den Fah­rer, indem er ihm ein Messer an den Hals setzte. Der Beifahrer schoss daraufhin innerhalb des Fahrzeuges gezielt auf den Täter, der an den Schussfolgen später verstarb.

Das Gericht, das sich zivilrechtlich mit einer Schadenersatzforderung durch die Krankenversicherung des Täters auseinanderzusetzen hatte, begründete das Handeln des Polizeibeamten ausschließlich auf der Grundlage der §§ 227 BGB, 32 StGB und führte u.a. aus, dass„die Verletzung und letztlich Tötung des Beschuldigten durch Nothilfe nach §§ 227 BGB, 32 StGB gerechtfertigt war.”Insbesondere betonte das Gericht dann weiter[17]:

„Da das Verhalten des Beamten gegenüber dem Versicherungsnehmer der Klägerin bereits nach §§ 227 BGB, 32 StGB gerechtfertigt war, kommt es nicht darauf an, ob als Rechtferti­gungsgrund für den letztlich tödlichen Einsatz der Schusswaffe auch die Vorschriften des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes eingreifen.

Genauso wenig bedarf es in diesem Zusammenhang der Entscheidung, ob die dortigen Rege­lungen über den unmittelbaren Zwang bzw. den Schusswaffengebrauch engere und hier nicht vorliegende Voraussetzungen für den Einsatz der Schusswaffe aufstellen. Denn § 71 Abs. 2 NGefAG[18] bestimmt, dass die zivil‑ und straf­rechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben. Dies entspricht dem Vorrang des Bundesrechtes vor dem Landesrecht, wonach im Anwendungsbereich der §§ 227 BGB, 32 StGB d. h. beim Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffes und dessen Abwehr, landes­rechtliche Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch die Regelungen des bundes­rechtlichen Notwehr- bzw. Nothilferechtes nicht einschränken können.“

Diese Sichtweise des Gerichts ist ob ihrer Einfachheit überraschend, zumal sie an der oben dargestellten grundsätzlichen Rechtslage nur „vorbeischrammt”.

Klar und deutlich, aber in der Rechtskonsequenz wenig für eine manifestierbare Lösung aus Sicht der Gesamtproblematik hilfreich, äußert sich das Gericht dann wie folgt:

„Soweit im öffentlich‑rechtlichen Schrifttum teilweise (. . .) die Auffassung vertreten wird, eine Überschreitung der landesrechtlichen Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch begründe ‑ ungeachtet etwaiger Notrechtsverweisungen wie in § 71 Abs. 2 NGefAG ‑ ein rechts- und amtspflichtwidriges Verwaltungshandeln gegenüber dem betroffenen Bürger, folgt dem der Senat für den Bereich der Staatshaftung nach § 839 BGB, Art. 34 GG (bzw. § 80 Abs. 1 Satz 2 NGefAG) nicht, jedenfalls nicht soweit es wie hier um die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben eines Beamten geht.

Eine bestimmte Verteidigungshandlung kann im Verhältnis Staat (Polizeibeamter) ‑ Bürger (Angreifer) nicht unterschiedlich als rechtmäßig oder rechtswidrig im Zivil-, Straf‑ und öf­fentlichen Recht angesehen werden. Hat der Beamte im Wege der Notwehr oder Nothilfe rechtmäßig den Angreifer verletzt, kann nicht die gleiche Handlung wegen Verstoßes gegen die vom allgemeinen Notwehrrecht abweichenden Regelungen über den Schusswaffenge­brauch als rechtswidrige Amtspflichtverletzung oder im Hinblick auf § 80 Abs. 1 Satz 2 NGefAG als rechtswidrige Maßnahme der Polizei eingestuft werden. Es wäre ... geradezu ‚schizoid’, wenn ein einheitlicher Hoheitsakt hinsichtlich des gleichen Bezugsobjektes, d. h. hier bezüglich des Angreifers, in der rechtlichen Wertung zerrissen wird und eine im Rah­men der §§ 32 StGB, 227 BGB rechtmäßige Verletzung des Angreifers andererseits im Rah­men des Staatshaftungsrechtes als rechtswidriges Staatshandeln eingestuft wird.“

Logisch und den grundsätzlichen Überlegungen nicht widersprechend folgert das Gericht dann, dass das Verhalten des Beamten kraft bundesgesetzlicher Nothilfebestimmungen gerechtfertigt gewesen ist und von dem beklagten Land kein Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung verlangt werden kann. Mit anderen Worten: Wenn etwas im Bereich des Strafrechtes rechtmäßig ist, kann es nicht in anderen Bereichen rechtswidrig sein, da ansonsten Polizisten schlechter gestellt wären als Bürger. Nur verkennt das Gericht hier die „Bedeutung und Wirkung“ von „Rechtsfertigungsgrund“ und „Eingriffsermächtigung“.

 

8. Fazit

Aus allen Überlegungen lässt sich folgendes Fazit ableiten:

  • Der Polizeibeamte hat sich bei Ausübung seiner hoheitlichen Tätigkeit grundsätzlich allein an den gesetzlichen (Eingriffs-)Ermächtigungsgrundlagen zu orientieren. Dieses gebietet der verfassungsrechtliche Vorbehalt des Gesetzes.
  • Gerät er aber während seiner Dienstausübung in eine Gefahrensituation, die er lediglich unter Inanspruchnahme der allgemeinen Notwehrrechte bewältigen kann, so stehen ihm diese Befugnisse zwar nicht als Hoheitsträger, aber als Privatmann zur Seite. Der Beamte kann strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden (und nur darum geht es).
  • Es ist stets unzulässig, die Jedermannsrechte zu benutzen, um die öffentlich-rechtlichen Formvorschriften zu unterlaufen.
  • Die Ansicht des OLG Celle ist durchaus nachvollziehbar unter dem Aspekt, Schadenersatz­ansprüche gegen den Dienstherrn abzuwehren (und nur darum ging es!). Trotz der von den Richtern betonten klaren „Rechtsgleichstellung“ vermieden die Richter aber jede konkrete Bezugnahme auf den verfassungsrechtlich gebotenen und damit zu beachtenden Gesetzes­vorbehalt für hoheitliches Handeln.
  • Der öffentlich-rechtlich verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann das Handeln des Amtswalters durchaus dort untersagen[19], wo der Privatmann noch in Notwehr handeln könnte. Das Nichthandeln des Beamten würde dann jedoch keine Pflichtverletzung, sondern sich als die Beachtung öffentlich-rechtlicher Normen darstellen.

Der Beamte sollte sich bewusst sein, dass ihn bei einer Überschreitung der Not­wehr die gleichen strafrechtlichen Konsequenzen treffen wie jeden anderen Staatsbürger auch. Eine Amtshaftung scheidet aus.

 

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Quellen:

[1 Dieses hätte zur Folge, dass der Beamte strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen wird (er also nicht verurteilt würde).

[2] Heise/Riegel, Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes 1978 (ME PolG)

[3] Im § 8 des Saaländischen Polizeigesetzes wird im Abs. 3 ausdrücklich erwähnt, dass die zivil- und strafrechtlichen Vorschriften über Notwehr oder Notstand keine polizeilichen Befugnisse begründen.

[4] Hervorhebung durch den Autor

[5] ME PolG zu § 35 Abs. 2, Begründung Nr. 4

[6 So schon Gintzel, DIE POLIZEI 1972, 1 ff

[7] Bayerisches Oberstes Landesgericht Beschluss vom 13.12.1990 - RReg 5 St 152/90 -

[8] Stellvertretend seien hier genannt das “Volkszählungsurteil” BVerfGE 65,1; “Sexualkunde-Entschei­dung“, BVerfGE 47,46 [78]; “Kalkar”-Entscheidung 49,89 [126]

[9] Unveröffentlichtes Rechtsgutachten zu § 41 Abs. 2 und § 44 Musterentwurf, erstattet im Auftrag der IMK

[10] Rechtsgutachten ME PolG, a.a.O., Seite 5

[11] Die Landesgesetzgeber können aus Gründen der verfassungsmäßigen Zuständigkeit das Zivil- und Strafrecht nicht ändern, Art. 74 Nr. 1 GG.

[12] Der Staat handelt dem Bürger gegenüber kraft hoheitlicher Aufgabenwahrnehmung, was bedeutet, dass der Amtswalter dem Bürger übergeordnet ist.

[13] So auch schon OVG Lüneburg amm 22.3.1976, Az.: VIII OVG A 31/76

[14] A. A. LG Ulm, Beschluss vom 8.2.1990, NStZ 1991, 83 mit Anmerkung Arzt, da das hier verwendete Kaliber der Waffe deutlich geringer war als bei der Dienstwaffe und daher auch die Wirkung weniger einschneidend war, wurde die Rechtmäßigkeit bejaht.

[15] So z.B. BayObLG, JZ 1991, 936; OLG Düsseldorf, NWVBl 1995, 395

[16]16.Zivilsenat vom 20.1.2000, Az.: 16 U 106/99, nach Kenntnis des Verfassers unveröffentlicht.

[17] OLG Celle, a.a.O., Ziff. 2 c der Begründung

[18] heute Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG)

[19] Der Beamte schießt aus Gründen der Unverhältnismäßigkeit nicht auf den fliehenden Juwelendieb. Der Juwelier dagegen hätte ohne Anwesenheit des Amtswalters vermutlich zulässig versucht, auch mit Einsatz der Schusswaffe den Verlust seines Eigentums zu verhindern.