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Nach Raketentreffer ausgebrannter Bus und Pkw in Cholon, 11. Mai 2021
© Von Yoav Keren (יואב קרן), CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=105204784

Der aktuelle Israel-Gaza-Konflikt und die Auswirkungen auf Deutschland

Prof. Dr. Stefan Goertz, Hochschule des Bundes, Bundespolizei

Die kriegerische Eskalation des aktuellen Israel-Gaza-Konflikts begann am 10. Mai 2021 und endete mit einer Waffenruhe am 21. Mai 2021. Nach Raketenangriffen von militanten palästinensischen Organisationen auf israelische Ziele reagierten die Israel Defense Forces mit Bombardierungen verschiedener Ziele im Gazastreifen. Am Wochenende des 14. bis 16. Mai gab es europaweit pro-palästinensische und anti-israelische Demonstrationen mit über hunderttausend Demonstranten, in deren Verlauf antisemitische und gewaltverherrlichende Parolen skandiert und Polizisten verletzt wurden. Dieser Beitrag untersucht die Hintergründe der aktuellen kriegerischen Eskalation in Gaza und in Israel, beleuchtet die Ereignisse des Wochenendes vom 14. bis 16. Mai. Abschließend werden Hintergrundinformationen zum islamistischen Antisemtismus weltweit dargelegt.

Dieser aktuelle Israel-Gaza-Konflikt und seine Folgen zeigen, dass die Grenzen zwischen Äußerer und Innerer Sicherheit seit Jahren verschwimmen und der Israel-Gaza-Konflikt kurze Zeit später auch Konsequenzen für die Innere Sicherheit Deutschlands und anderer europäischer Staaten hatte, in der Form von antisemitischen Straftaten und Gewalt gegen Polizisten.

Hintergründe der aktuellen kriegerischen Eskalation in Israel und Gaza

Im August 2020 verkündete die radikal-islamische Hamas nach Vermittlung Katars eine Waffenruhe mit Israel. Aber auch danach gab es immer wieder Verstöße gegen diese Waffenruhe. Die palästinensische Hamas wird von Israel, den USA und der Europäischen Union als terroristische Organisation eingestuft. Sie hat die „Zerstörung Israels“ zu ihrem Ziel erklärt. Die Hamas erkennt Israel als Staat nicht an und fordert einen Palästinenserstaat auf dem gesamten Gebiet des historischen Palästinas.

Nach einem Jahr relativer Ruhe kam es im Mai 2021 zu den schwersten kriegerischen Auseinandersetzungen seit Jahren im israelisch-palästinensischen Konflikt. Allein in der Nacht des 24. auf den 25. April feuerten verschiedene palästinensische Gruppen, u.a. die Fatah, über 40 Raketen aus Gaza nach Israel ab. Trotz des religiös sehr wichtigen Fastenmonats Ramadan (im Jahr 2021 im Zeitraum 13. April bis 12. Mai) kam es im April zu Ausschreitungen von gewaltbereiten Palästinensern gegen israelische Sicherheitskräfte. Palästinensische Jugendliche bewarfen israelische Passanten und Polizisten mit Steinen, dazu kam das neue Phänomen „TikTok-Terrorismus“. In diesem sozialen Netzwerk kursieren seit einigen Tagen Videos von jungen Palästinensern, die sich dabei filmen, wie sie ultraorthodoxe Juden gewaltsam angreifen.1

Jerusalem und der Status der Stadt als Ganzes spielen eine wichtige Rolle im Nahostkonflikt. Der Tempelberg ist für Juden und Muslime gleichermaßen von herausragender religiöser und politischer Bedeutung. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte Israel den Ostteil der Stadt von Jordanien. Im Jahr 1980 erklärte das israelische Parlament das gesamte Stadtgebiet Jerusalems zur untrennbaren Hauptstadt Israels. Im sogenannten Jerusalem-Gesetz heißt es: „Das vollständige und vereinigte Jerusalem ist die Hauptstadt Israels.“ Die Palästinenser beharren ihrerseits auf den Ostteil der Stadt, der im Falle der Gründung eines zukünftigen palästinensischen Staates auch Hauptstadt sein soll.2 Jedes Jahr am 10. Mai feiert Israel die Aneignung Ost-Jerusalems im Jahr 1967 im Zuge des Sechstagekriegs. Um die bereits absehbaren Auseinandersetzungen im Vorfeld zu verhindern, hatte die israelische Polizei in diesem Mai jüdischen Organisationen Flaggenmärsche auf den Tempelberg verboten, dennoch versammelten sich dort zahlreiche jüdische Gläubige, was von Palästinensern als Aggression und Eskalation gewertet wurde.

Als weitere Eskalation stellen aus palästinensischer Sicht die seit Jahren andauernden Enteignungen im palästinensischen Viertel Sheikh Jarrah in Jerusalem dar. Rund dreihundert palästinensische Ostjerusalemer leben dort auf Land, das Juden im 19. Jahrhundert gemäß osmanischem Recht gekauft hatten. Die palästinensischen Familien wiederum wurden nach dem israelischen „Unabhängigkeitskrieg“ von 1948 in den fünfziger Jahren dort angesiedelt, als Jordanien Ostjerusalem kontrollierte. Laut historischem israelischem Recht können Juden Grundstücke in Jerusalem, die sie oder ihre Vorfahren verloren hatten, zurückerhalten. Daher stehen mehrere arabische Familien in diesem Stadtviertel nun vor der Zwangsräumung.

Anfang Mai eskalierten die tagelangen Unruhen auf dem Tempelberg, es kam zu schweren Zusammenstößen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften, nach Angaben der Hilfsorganisation Roter Halbmond wurden dabei mehr als 400 Menschen verletzt. Auch in Ramallah, Nablus und Hebron gab es bei schweren Ausschreitungen Verletzte. Verschiedene Medien berichteten von geplanten Zwangsräumungen mehrerer palästinensischer Häuser im Viertel Scheich Dscharrah in Ost-Jerusalem durch israelische Behörden sowie Sperrungen in der Jerusalemer Altstadt als Ursache für die aktuellen Ausschreitungen.3

Kriegerische Handlungen in Israel und in Gaza

Foto eines israelischen Luftangriffs im Gazastreifen im Mai 2021
© Von Osama Eid, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=105283303
Nach Angaben der israelischen Streitkräfte feuerten Kämpfer der Hamas und des Islamischen Jihad in den elf Tagen mehr als 4340 Raketen in Richtung Israel ab, das sind in etwa so viele wie in den fünfzig Tagen, die der letzte Krieg im Jahr 2014 dauerte. Durch den Raketenbeschuss militanter Palästinenser und die militärische Antwort Israels starben Zivilisten und Kinder auf beiden Seiten und israelische Soldaten wurden getötet. Die israelischen Streitkräfte reagierten auf den Raketenbeschuss mit Luft- und Artillerieangriffen im Gazastreifen. Diese richteten sich nach eigenen Angaben gegen militärische Einrichtungen militanter Palästinenser, darunter das weit verzweigte Tunnelnetzwerk, Produktionsanlagen für Raketen und Schaltzentralen der Hamas und des Islamischen Jihad. Vieles davon haben die palästinensischen Kämpfer bekanntermaßen unter zivilen Einrichtungen versteckt. Die israelischen Streitkräfte bekämpften hochrangige palästinensische Kommandanten und Kämpfer, was umstritten ist, weil sich dabei zivile Opfer kaum vermeiden lassen.4

Aktuelle Waffenruhe

Seit der Nacht auf den 21.5.2021 gilt im kriegerischen Konflikt zwischen der palästinensischen Hamas und dem Staat Israel eine Waffenruhe. Kurz vor Beginn der Waffenruhe hatten Kämpfer der Hamas noch Raketen in Richtung Südisrael abgefeuert. Dieser Waffenruhe war ein intensives diplomatisches Ringen vorausgegangen, an dem die Vertreter zahlreicher Staaten, hier vor allem Ägypten, und die UNO beteiligt waren. US-Präsident Biden begrüßte die Feuerpause, beklagte aber in einer Fernsehansprache „ den tragischen Tod von so vielen Zivilisten, einschließlich Kindern“. Biden habe mehrere Male mit dem israelischen Ministerpräsidenten und mit dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas gesprochen. Der US-Präsident bekräftigte Israels Recht auf Selbstverteidigung und kündigte an, Washington werde den israelischen Raketenabwehrschirm „Iron Dome“ wieder mit Raketen aufstocken. Der palästinensischen Autonomiebehörden versprach Biden Hilfe beim Wiederaufbau.5

Im Gazastreifen gingen zehntausende Palästinenser auf die Straße, um den Waffenstillstand zu feiern. Autofahrer veranstalteten Hupkonzerte, viele schwangen die palästinensische Flagge, aber auch die der Hamas. Von den Moscheen ertönte „Allah akbar“ und Imame verkündeten über die Lautsprecher von Moscheen den „Sieg des Widerstands über die Besetzer“, begleitet von Schüssen in die Luft. Die Hamas versucht sich als „Siegerin der Schlacht“ zu inszenieren. Die Waffenruhe sei ein „Sieg für das palästinensische Volk“ und eine Niederlage für Netanyahu, erklärte die Hamas. Dazu veröffentlichte sie zur Verdeutlichung ihrer Kampfbereitschaft ein Video von Kämpfern, die Raketen durch einen Tunnel tragen.6

Wenige Tage nach Beginn dieser Waffenruhe wurden in Jerusalem zwei Männer niedergestochen und schwer verletzt, einer der beiden ist Soldat, die Sicherheitsbehörden gehen von einem islamistisch-terroristischen Hintergrund aus.7

Die Ereignisse des Wochenendes vom 14. bis 16. Mai in deutschen und anderen europäischen Städten

In der Türkei versammelten Mitte Mai an einem Tag mehrere Tausend Menschen vor der israelischen Botschaft, um gegen Israel und seine militärische Antwort zu protestieren. In verschiedenen deutschen Städten kam es im Rahmen von Demonstrationen zu antisemitischen Straftaten, beispielsweise wurde in Düsseldorf die Gedenktafel einer ehemaligen Synagoge angezündet, in mehreren deutschen Städten wurden Israel-Flaggen öffentlich verbrannt und die Türen von Synagogen mit Steinen beworfen und beschädigt. Am Wochenende des 14. bis 16. Mai gab es europaweit pro-palästinensische und anti-israelische Demonstrationen mit über hunderttausend Demonstranten, in deren Verlauf antisemitische und gewaltverherrlichende Parolen skandiert wurden. Alleine an diesem Wochenende kamen in Frankreich über 22.000 Menschen auf über 60 Kundgebungen zusammen, in Paris trotz eines Demonstrationsverbots, die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, um das Demonstrationsverbot durchzusetzen. Der französische Staatschef Emmanuel Macron sprach bereits vor zwei Jahren von einem „Wiedererstarken des Antisemitismus, wie es ihn vermutlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat“. So war die Holocaust-Überlebende Mireille Knoll 2018 in Paris mit elf Messerstichen ermordet worden. Während der Ermittlungen wurde bekannt, dass einer der Angeklagten mit der Hamas sympathisiert. Macron spricht von einem „Antisemitismus, der sich auf einen radikalen Islamismus gründet“. Diese Ideologie habe einige der Vorstadt-Banlieues derart vergiftet, dass es zur Bildung regelrechter Parallelgesellschaften gekommen sei.8

In London sollen über 150.000 Teilnehmer an Demonstrationen teilgenommen haben, bei denen u.a. das Ende „der Besatzung durch Israel“ gefordert wurde.9 In den sozialen Netzwerken wurde ein Clip eines propalästinensischen Autokorsos in London verbreitet, bei dem eine Männerstimme u.a. zur Vergewaltigung von jüdischen Frauen aufrief, Scotland Yard nahm vier Tatverdächtige fest.10

In Deutschland nahmen an jenem Wochenende Zehntausende Menschen an pro-palästinensischen und anti-israelischen Kundgebungen teil, dort gab es zahlreiche antisemitische Vorfälle. Die Bundesregierung kritisierte die antisemitischen Vorfälle bei den pro-palästinensischen und anti-israelischen Kundgebungen in Deutschland. „Was in den letzten Tagen an Judenhass, an antisemitischen Beschimpfungen zu hören war, ist beschämend“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Man könne von jedem Demonstranten verlangen, zu trennen zwischen Kritik an der Politik des Staates Israel, die jeder äußern dürfe, und „dem, was wir auf keinen Fall hinnehmen können“, nämlich Hass und Aggression gegen Juden und gegen das israelische Volk.11

Teilnehmerin einer Demonstration für ein freies Palästina in Berlin, 15. Mai 2021
© Von Michael Künne, PRESSCOV picture agency - https://presscov.com/2021/06/08/frau-bei-einer-demonstration-in-berlin-freiheit-fur-palastina-15-mai-2021/, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=106378584

Das Internationale Auschwitz Komitee hat diese aktuellen antisemitischen Vorfälle bei den pro-palästinensischen Demonstrationen in Deutschland als „schwere Last“ für die Überlebenden des Holocaust bezeichnet. Das Auschwitz Komitee sei besorgt über Veränderungen, die mit juden- und israelfeindlichen Hassparolen auf pro-palästinensischen Kundgebungen sichtbar geworden seien, sagte Christoph Heubner, Vizepräsident des Komitees. Jede antisemitische Protestattacke, jede angezündete Israelflagge, jeder durchgestrichene Judenstern, jeder zerstörte Stolperstein, bestätigt, dass in der deutschen Gesellschaft etwas ins Rutschen gekommen ist. Entscheidend sei nun die Frage, ob es der deutschen Gesellschaft nach der allgemeinen Empörung über die Proteste gelinge, einen Schritt weiter zu gehen. Sie müsse deutlich machen, dass Antisemitismus nicht toleriert wird. „Es war über jahrzehntelang gesellschaftlicher Konsens, dass Antisemitismus zu ächten ist. Aber viele Überlebende zweifeln daran, dass der Konsens heute noch so besteht“, beschreibt Heubner.12

Bei einer pro-palästinensischen Demonstration in Berlin mit rund 3500 Teilnehmern warfen Demonstranten Steine und Flaschen auf Polizisten, dabei wurden 93 Polizisten verletzt. Der deutsche Bundesminister des Innern, Horst Seehofer (CSU), sprach in Bezug auf den Umgang damit von der „vollen Härte des Rechtsstaats“.13 Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) sagte: „Ich bin dagegen, jetzt reflexartig immer Strafrechtsverschärfungen zu fordern.“14 Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, bewertete die staatlichen Mittel gegen Antisemitismus in Deutschland als „noch längst nicht ausgeschöpft“ und zeigte sich erschüttert, „wie schamlos der Antisemitismus auf den Demonstrationen der letzten Tage zur Schau gestellt wurde“. Es gebe Synagogen als Angriffsziele und Pro-Israel-Demos, die nur mit Polizeischutz stattfinden können. „Wenn das unsere Realität ist, hat der Judenhass gewonnen.“ Knobloch betont, wenn auf solchen Demonstrationen die „Vernichtung Israels“ gefordert werde, müsse der demokratische Staat solche Versammlungen verbieten.15

Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erklärte sein Entsetzen über antisemitische Hetze bei diesen Demonstrationen: „Die Bilder sind unerträglich“. Natürlich dürfe man die Politik Israels scharf kritisieren und dagegen laut protestieren, „aber für Antisemitismus, Hass und Gewalt gibt es keine Begründung“ sagte Schäuble. Deshalb brauche es „die ganze rechtsstaatliche Härte gegen Gewalttäter, und es braucht den größtmöglichen Schutz für die jüdischen Gemeinden und Einrichtungen“, betonte der Bundestagspräsident. Er mahnte zugleich: „Wer sich in seinem Protest nicht eindeutig davon abgrenzt, wenn das Existenzrecht Israels angegriffen wird, macht sich mitschuldig.“ Deutschland müsse muslimischen Migranten klarmachen, sie seien „in ein Land eingewandert, in dem die besondere Verantwortung für Israel Teil unseres Selbstverständnisses ist“.16

Hintergrundinformation zum islamistischen Antisemitismus weltweit

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich der europäische Antisemitismus in der Analyse des Bundesamtes für Verfassungsschutz in zunehmendem Maße auch in der islamischen Welt. Eine spürbare Zunahme von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Muslimen ist ab den 1920erJahren feststellbar, im organisierten Islamismus gewannen antisemitische Einstellungen ab dieser Zeit zunehmend an Bedeutung. Der Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin Al Husseini, pflegte enge Kontakte zu den deutschen Nationalsozialisten und hetzte in Radioansprachen offen gegen die Juden. Aber auch in der ägyptischen „Muslimbruderschaft“ fanden arabische Übersetzungen europäischer judenfeindlicher Schriften ab den 1930er Jahren weitere Verbreitung und großen Anklang.

Im Jahr 1948 stellte die Gründung des Staates Israel und dessen militärischer Sieg über die verbündeten arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak im Unabhängigkeitskrieg einen Höhepunkt der Eskalation dar. In arabischen Staaten führte diese militärische Niederlage zu einer stärkeren Ausweitung antisemitischer Einstellungen in weiten Kreisen der Bevölkerung. Eine Erklärung der unerwarteten Niederlage gegen das kleine und vermeintlich schwache Land schien in der Analyse des Bundesamtes für Verfassungsschutz nur durch das Konstrukt einer „jüdischen Weltverschwörung“, wie sie in der antisemitischen Schmähschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ dargestellt wird, möglich. Der von der ägyptischen Regierung forcierte Nachdruck einer arabischen Übersetzung dieser Schrift führte schließlich im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu ihrer massenhaften Verbreitung im arabischen Sprachraum.17

Als ideologischer Meilenstein“ des islamistischen Antisemitismus gilt die 1950 von Sayyid Qutb veröffentlichte Schrift „Unser Kampf mit den Juden“. Der Ägypter Sayyid Qutb galt schon zu Lebzeiten als einer der wichtigsten Theoretiker der islamistischen „Muslimbruderschaft“. Er kombinierte in dieser Schrift europäisch-antisemitische Stereotype, die Verschwörungstheorien der „Protokolle der Weisen von Zion“ und antijüdische Koranstellen zu einer gedanklichen Einheit und entwickelte so die ideologische Grundlage für einen islamistischen Antisemitismus. Nach Ansicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz erschuf Qutb einen neuartigen – islamistischen – Antisemitismus und dieser ist bis heute anschlussfähig für Antisemiten aus verschiedensten gesellschaftlichen. Als Beispiele hierfür nennen die deutschen Verfassungsschutzbehörden die partiellen Kooperationen von rechtsextremistischen und islamistischen Holocaust-Leugnern. Auch die Unterstützung der Hamas durch linksextremistische Gruppen ist in diesem Kontext zu betrachten.18

Die Ablehnung des Staates Israel durch islamistische Organisationen zieht sich durch das gesamte islamistische Spektrum weltweit, auch in Deutschland. Es gibt islamistische Organisationen, beispielsweise die Hamas und die Hizbullah, für die der Kampf gegen die Existenz des Staates Israel das wesentliche Ziel darstellt. Beide Organisationen bekämpfen Israel mit militärischen und terroristischen Mitteln und rufen im Rahmen ihrer Propagandaaktivitäten immer wieder zur „vollständigen Vernichtung Israels“ auf. Ein gängiger Slogan der Propaganda lautet: “Palestine will be free, from the river to the sea!“ Diese Formulierung bezieht sich auf den Fluss Jordan und das Mittelmeer und macht nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz deutlich, dass für den Staat Israel kein Platz und damit kein Existenzrecht vorgesehen ist. Der Nahostkonflikt wird Islamisten weltweit als ein Teil einer grundsätzlichen globalen Auseinandersetzung zwischen „den Muslimen und dem Rest der Welt“ (ideologisch propagierte Dichotomie „Gläubige“ versus „Ungläubige“) wahrgenommen.19

Antisemitische Stereotype im Islamismus

Das Bundesamt für Verfassungsschutz führt aus, dass es allen islamistischen Organisationen gemein ist, dass sie kaum bis gar nicht zwischen dem Staat Israel und dem jüdischen Volk unterscheiden, weder sprachlich noch inhaltlich. So werden oftmals jahrhundertealte antisemitische Stereotype auf den aktuellen Staat Israel übertragen. Ein besonders weit verbreitetes Beispiel ist die sogenannte Ritualmordlegende, die ihren Ursprung im christlichen Mittelalter hat. Den Juden wurde hierbei unterstellt, zur Vorbereitung ihres Pessach-Festes ungesäuertes Brot (Mazzen) mit dem Blut christlicher Kinder zu backen. Das Motiv des „Kinder schlachtenden Juden“ rückte vor allem nach dem Gazakrieg im Jahr 2014 in den Mittelpunkt antiisraelischer Agitation.20

Der Kerngedanke der antisemitischen Stereotype im Islamismus ist der Ansatz, dass Juden im Verborgenen nach der Weltherrschaft streben bzw. diese bereits ausüben und somit die Weltpolitik und -wirtschaft kontrollieren. Die literarische Grundlage für diese Weltverschwörungstheorie, auf die auch der ägyptische Islamist Sayyid Qutb zurückgegriffen hat, sind die „Protokolle der Weisen von Zion“. Eines der antisemitischen Stereotype im Islamismus ist die Herrschaft der Juden über die Finanz- und Wirtschaftssysteme. Dieses lautet, dass die vermeintlichen „jüdischen Verschwörer“ „den Rest der Welt durch absichtlich verursachte Wirtschaftskrisen sowie durch eine künstliche Verknappung der Geldmittel von sich abhängig machen“ wollen.21 Das angebliche Schüren von Kriegen und Konflikten durch Juden ist ein weiteres Stereotyp von Islamisten. Den „Protokollen der Weisen von Zion“ zufolge „zetteln jüdische Verschwörer weltweit Kriege und Konflikte an, um Völker und Nationen gegeneinander auszuspielen und zu zermürben“. Dieser Vorwurf wurde auch in der Charta der Hamas von 1987 aufgegriffen, die den Juden unterstellt, sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg ausgelöst zu haben.22

Jüdisches Handeln mit Hilfe von Geheimagenten und Geheimorganisationen ist ein weiteres islamistisches Stereotyp und wurde von zahlreichen Islamisten aufgegriffen. Die Unterstellung lautet, „die Juden“ würden als Drahtzieher hinter verschiedensten Vereinigungen und Bewegungen stehen, angefangen von den USA über die UN und den Liberalismus bis hin zu den Freimaurern. Damit verbunden ist eine gängige islamistische Strategie, politische Gegner dadurch zu diskreditieren, dass sie als jüdische Verbündete oder Helfershelfer dargestellt werden. Das abschließende islamistische Stereotyp ist „der ewige Kampf zwischen Muslimen und Juden“. Vor allem Salafisten und Jihadisten weltweit unterteilen die Menschheit in „Gläubige“ und „Ungläubige“ und schließen damit alle Nicht-Muslime aus. In dieser Weltsicht werden Juden als Teil und häufig auch als Anführer der Ungläubigen dargestellt. Ihr Ziel sei es, „den Islam systematisch zu bekämpfen und zu zerstören“.23

Islamistische Organisationen und Akteure von Antisemitismus in Deutschland sind nach Angaben der deutschen Sicherheitsbehörden u.a. die „Muslimbruderschaft“ (MB), die Hamas, die Hizbullah, die „Hizb ut-Tahrir“, die „Millî Görüş“-Bewegung, das salafistische Milieu sowie Jihadisten.

2006: Wahlplakat der Hamas in Ramallah. Auf ihm wird ein „Palästina von der See bis zum Fluss“ gefordert
© Von Hoheit (¿!) - Übertragen aus de.wikipedia nach Commons durch Ervaude mithilfe des CommonsHelper.Own work (Originaltext: selbst photographiert), CC BY-SA 2.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5638777

Fazit

Trotz des aktuellen Waffenstillstands, der israelisch-palästinensische Konflikt, u.a. ein Konflikt um Territorium, wird noch lange bestehen bleiben. Der Nahostkonflikt ist hochgradig komplex und seit Jahrzehnten davon geprägt, dass Gewaltwellen kommen und gehen. Internationale Akteure wie die USA, die Europäische Union und Staaten wie der Iran spielen eine – unterschiedlich einflussreiche – Rolle. Es bleibt abzuwarten, wie lange die aktuelle Waffenruhe hält, ziemlich wahrscheinlich ist sie lediglich „die Ruhe vor dem nächsten Sturm“.

Die Bürgerkriege und Kriege in Syrien, im Irak, in Afghanistan, im Jemen und in Nord-Afrika haben seit Jahren bewiesen, dass die sicherheitspolitische Unterscheidung in Äußere Sicherheit (Aufgabe des Militärs und des Auslandsnachrichtendienstes) und Innere Sicherheit (Aufgaben der Polizeien und Verfassungsschutzbehörden) im 21. Jahrhundert nicht mehr realistisch und wirkungsvoll ist. Die kriegerische Eskalation des aktuellen Israel-Gaza-Konflikts Mitte Mai 2021 ist ein weiteres Beispiel hierfür. Jerusalem und die aktuelle kriegerische Eskalation in Israel und Gaza sind von Berlin über 4000 Kilometer entfernt und dennoch gab es innerhalb von wenigen Tagen massive Konsequenzen für die Innere Sicherheit Deutschlands, Antisemitische Gewalttaten und Hetze und zahlreiche verletzte Polizisten im Rahmen von Ausschreitungen auf pro-palästinensischen Demonstrationen.

Noch vor wenigen Monaten hatten die vier arabischen Staaten Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate, Marokko und der Nord-Sudan ihre Beziehungen zu Israel normalisiert, nun sind diese Staaten massivem innenpolitischem Druck ausgesetzt. Auch in diesen vier arabischen Staaten gab es zahlreiche Demonstrationen gegen Israel und Israelfahnen wurden verbrannt.

Es bleibt abzuwarten, wie lange die aktuelle Waffenruhe zwischen Israel und den palästinensischen Organisationen hält, ziemlich wahrscheinlich ist es „die Ruhe vor dem nächsten Sturm“. Dieser „nächste Sturm“ könnte dann auch wieder Konsequenzen für die Innere Sicherheit Deutschlands haben.

Dieser Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Autors dar.

Quellen:

1  Goertz, Stefan (2021): Der Israel-Gaza-Konflikt im Mai 2021. In: Schweizer Soldat 6/2021, S. 40.
2  https://www.deutschlandfunk.de/eskalation-im-nahen-osten-die-hintergruende-der-gewalt.2897.de.html?dram:article_id=496986 (25.5.2021).
3  Goertz, Stefan (2021): Der Israel-Gaza-Konflikt im Mai 2021. In: Schweizer Soldat 6/2021, S. 40-41.
4  https://www.nzz.ch/international/waffenruhe-zwischen-israel-und-der-hamas-freudenfeiern-in-gaza-und-ostjerusalem-ld.1626379 (25.5.2021).
5  Ebd.
6  Ebd.
7  https://www.spiegel.de/ausland/waffenruhe-in-nahost-messerattacke-in-jerusalem-auf-zwei-israelis-a-02af7678-1839-43ff-a916-2b82e64e7bb3 (27.5.2021).
8  https://www.tagesspiegel.de/politik/antisemitismus-in-deutschland-und-europa-die-hilflose-suche-nach-antworten-auf-den-judenhass/27195570.html (28.5.2021).
9  https://www.dw.com/de/pro-pal%C3%A4stinensische-demonstrationen-europaweit/a-57543622 (29.5.2021).
10  https://www.tagesspiegel.de/politik/aufruf-zur-vergewaltigung-juedischer-frauen-antisemitisches-video-aus-london-empoert-grossbritannien/27196152.html (30.5.2021).
11  https://www.tagesschau.de/inland/antisemitismus-strafen-103.html (30.5.2021).
12  https://www.zdf.de/nachrichten/politik/antisemitismus-nahost-proteste-holocaust-ueberlebende-100.html
13
 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-05/antisemitismus-deutschland-pro-palaestinensische-demonstrationen-israel-paelaestina-konflikt-politiker (31.5.2021).
14  https://www.tagesspiegel.de/politik/antisemitismus-in-deutschland-und-europa-die-hilflose-suche-nach-antworten-auf-den-judenhass/27195570.html (31.5.2021).
15  Ebd.
16  https://www.welt.de/politik/deutschland/article231179597/Antisemitismus-bei-Anti-Israel-Demos-Es-muss-sich-auch-in-den-Koepfen-etwas-veraendern.html (31.5.2021).
17  Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2019): Antisemitismus im Islamismus. Köln Juni 2019, S. 16-18.
18  Vgl. ebd., S. 19-20.
19  Vgl. ebd., S. 23-24.
20  Vgl. ebd., S. 25.
21  Vgl. ebd., S. 20.
22  Vgl. ebd., S. 21.
23  Vgl. ebd., S. 22.

 

Über den Autor
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz, Professor für Sicherheitspolitik, Schwerpunkt Extremismus- und Terrorismusforschung, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei
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