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Terrorangst: Vertrauen in die Sicherheitsbehörden ist wesentlich zur Stressreduktion der Bevölkerung
© Gerd Pachauer

Terroranschlag - Langfristige psychische Folgen

Von Corinna Obermaier

Terrorakte und politisch motivierte Anschläge unterscheiden sich in ihren Auswirkungen auf die Psyche und das Verhalten der Menschen teils erheblich von anderen Ereignissen wie Naturkatastrophen.
Am Vorabend des geplanten „2. Covid-19-bedingten Lockdowns“, am 2. November 2020, fielen plötzlich Schüsse im Herzen Wiens. Vier Menschen wurden getötet und mehr als 20 wurden teils schwer verletzt. Österreich erschütterte ein Terroranschlag, wie in den vergangenen Jahren auch viele andere europäische Staaten. Eines der strategischen Ziele von solchen Anschlägen ist es, über längere Zeit Angst, Verunsicherung und Schrecken in der Bevölkerung auszulösen. Internationale Erfahrungen nach Anschlägen mit sehr vielen Opfern zeigen, Terrorismus schädigt nicht nur aktuell, sondern für längere Zeit und auch persönlich nicht betroffene Menschen.

Die Opfer waren zufällig „zur falschen Zeit am falschen Ort“. Das Alltagsleben vieler Menschen änderte sich bei vergangenen terroristischen Angriffen schlagartig, Terrorangst wurde spürbar. Das Geschehene hatte Einfluss auf das Leben, die Gewohnheiten und das Verhalten vieler Bürger. So gab nach dem „9/11“ jeder vierte US-Bürger bzw. US-Bürgerin an, ihr bzw. sein Verkehrsverhalten geändert zu haben. Der Individualverkehr stieg nach dem „9/11“ massiv an, die Verkehrsunfallstatistiken rissen nach oben aus, die Anzahl der Todesopfer im Verkehr stieg deutlich an, die Anzahl der Flugmeilen sank in den Monaten Oktober bis Dezember 2001 um bis zu 20 Prozent. Die Menschen mieden Flugzeuge aber auch andere öffentlichen Verkehrsmittel für viele Monate.

Attentate

Terrorakte und politisch motivierte Anschläge unterscheiden sich in ihren Auswirkungen auf die Psyche und das Verhalten der Menschen von anderen Ereignissen wie etwa Naturkatastrophen teils erheblich. Beide passieren zwar unerwartet, überraschend und wirken anhaltend schockierend. Opferzahlen können vergleichbare Höhen erreichen – trotz allem, Naturkatastrophen haben einen klaren „Low Point“, ein Ende ist erkennbar, während dies bei Terroranschlägen meist schwer identifizierbar ist. Die rasche Bekanntgabe, dass es sich in Wien um einen Einzeltäter gehandelt habe sowie die umfangreichen Informationen der Regierung an die Öffentlichkeit dürften einiges an Sorge und Anspannung vor einem möglichen weiteren Anschlag in der Bevölkerung genommen haben und einen „Low Point“ für viele Menschen ermöglicht haben.

Am Tag des Anschlags, am 2. November, standen 9 der 20 am häufigs­ten auf Google gesuchten Nachrichten im Kontext mit dem Anschlag in Wien. Tags darauf waren es nur noch 3 von 20, am 4. November fand sich keine Schlagzeile, die sich mit dem Anschlag befasste, unter den Top-20-News-Abfragen auf Google-Österreich.

Länger anhaltende Verhaltens- und Einstellungsänderungen der Menschen in Österreich sind noch nicht seriös abschätzbar. Internationale Studien belegen die Relevanz psychischer Folgen für die möglichst rasche Wiederherstellung des Sicherheitsgefühls, des normalen Alltags bzw. des Zusammenlebens verschiedener Bevölkerungsgruppen. Terroristen werden oft als „das Böse“ empfunden. Wie soll man damit umgehen? Gefühle der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins machen sich bei so manchem breit. Kontrolle ist ein wesentlicher Faktor für die persönliche Risikowahrnehmung und in Folge für den Umgang mit Risiken. Die Kontrollmöglichkeit des individuellen Terror-Risikos (Wie kann ich mich, meine Familie schützen?) wird von vielen Bürgern als gering empfunden. Schutzmaßnahmen sind für Privatpersonen schwierig. Ist die angestrebte Kontrolle unerreichbar, steigt das persönliche Risikoempfinden, Gefühle der Hilflosigkeit können entstehen, die psychische Belastung steigt. Abhilfe kann hier vor allem hohes Vertrauen in die Sicherheitskräfte schaffen.

 Luftbild von Ground Zero am 23. September 2001
© Von Photograph by National Oceanic and Atmospheric Administration, overlay by National Institute of Standards and Technology - http://wtc.nist.gov/, for example, report NIST NCSTAR 1: Federal Building and Fire Safety Investigation of the World Trade Center Disaster: Final Report of the National Construction Safety Team on the Collapses of the World Trade Center Tower, figure 4-1, page 47 (in this report image erroneously credited as created in 2001-09-17), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=175456

Auswirkungen auf die Psyche

Terrorismus kann eine Nation weit über die unmittelbaren Opfer und den Sachschaden hinaus schädigen. Mit Folgeschäden auf ökonomischer, gesellschaftlicher, physischer und psychischer Ebene ist meist zu rechnen. Allgemein gültig und verlässlich können die psychischen Auswirkungen von Terroranschlägen auf die Bevölkerung nicht vorhergesagt werden. Bekannt ist, dass der Typus des traumatisierenden Ereignisses (wie Naturkatastrophe, Unfall oder Terroranschlag) sowie dessen Intensität Einfluss auf die Häufigkeit und Intensität der Reaktionen hat. Terroranschlägen fehlt meist der „Low Point“ von Naturkatas­trophen oder Unfällen – die Gewissheit, dass es nun wieder vorbei ist, dass die Situation sich wieder normalisieren wird. Sie hinterlassen einen belastenden Nachgeschmack der Ungewissheit und diffusen Bedrohung. Nach dem „9/11“ gelang dieser „Low Point“ nicht. Mediale Berichterstattungen trugen und tragen stets ebenso das Ihre zur seelischen Belastung der Menschen bei. 24 Stunden täglich emotional aufwühlende Bilder, Rhetorik und Wortwahl (so z. B. der Begriff „Krieg“, der nach den Anschlägen in Paris im November 2015 in vielen Schlagzeilen zu finden war) beeinflussen die rationale und emotionale Interpretation der Ereignisse, sie werden zum Nährboden für Bedrohungsgefühle in der Bevölkerung.

Umfragen

Eurobarometer-Umfragen im Herbst 2001 nach den Anschlägen auf das World Trade Center zeigten, dass sich 86 Prozent der EU-Bevölkerung vor Terrorismus fürchteten, was einem Spitzenwert entsprach. Im Frühjahr 2015, vor den großen Flüchtlingsströmen nach Europa und vor der Terrornacht am 13. November 2015 – jedoch nach den Terrorakten im Frühjahr 2015 in Paris, fürchteten sich 49 Prozent der EU-Bevölkerung vor Terrorismus (im Juni 2011 waren es 33 %) religiöser Extremismus machte 20 Prozent (im Juni 2011 waren es nur 6 %) der EU-Bürger Angst. In Österreich gaben im August 2017 61 Prozent der Befragten an, sich Sorgen wegen Terrorismus zu machen, dies, nachdem es in Europa im Jahr davor, gemäß Europol 142 gescheiterte, vereitelte oder abgeschlossene Terrorangriffe, 1.002 Festnahmen und 142 Todesopfer durch Terrorismus gab (https://www.europol.europa.eu/newsroom/news/2017-eu-terrorism-report-142-failed-foiled-and-completed-attacks-1002-arrests-and-142-victims-died, aufgerufen am 30.11.2020).

Wie sieht es im Corona-Jahr 2020 aus?

Es ereigneten sich bisher zwei islamistisch motivierte Anschläge in Europa, beide in Frankreich, jener in Wien war der dritte in diesem Jahr. Europa war 2020 beherrscht von Corona, Terrorismussorgen traten im Vergleich zu 2017 in den Hintergrund. Umfragen des Market Instituts (www.market.at/market-aktuell/details/angriff-auf-wien-terror-in-zeiten-von-corona.html, aufgerufen am 20.11.20) zeigten, in der Woche vom 2. bis 8. November 2020 fühlten sich 26 Prozent der Befragten „sehr“ oder „eher bedroht“ durch Terrorismus. Im Juni 2020 waren es noch 14 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher. Weitere Ergebnisse der Marketumfrage zeigten: fast 60 Prozent der Befragten befürchteten noch weitere Anschläge im Ausland oder anderen Städten, 11 Prozent waren sogar überzeugt davon, 45 Prozent befürchteten, dass der Anschlag in Wien keine Ausnahme war.

Verhältnis Sicherheitsbehörden / Bevölkerung

Vertrauen in die Sicherheitsbehörden ist wesentlich zur Stressreduktion der Bevölkerung. Gelingt es, das Vertrauen in die Polizei aufrechtzuerhalten, können Reaktionen wie Vermeidungsverhalten oder Muslimenfeindlichkeit verringert werden, andernfalls beginnen sich viele Bürger schutzlos, ausgeliefert oder bedroht zu fühlen. Manche könnten sich sogar berufen fühlen, selbst „für Sicherheit sorgen zu müssen“, etwa organisiert in Bürgerwehren etc.

Wie wirkte sich der „9/11“ auf die US-Bürger aus?

Einschlag in das WTC 2
© Von Robert on Flickr - Diese Datei ist ein Ausschnitt aus einer anderen Datei: UA Flight 175 hits WTC south tower 9-11 edit.jpeg, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17340779
Unmittelbar nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center (WTC) konnten zahlreiche heftige psychische Reaktionen und Stress-Folgeerkrankungen, vor allem in Manhattans Bevölkerung nachgewiesen werden. Viele schilderten posttraumatische Symptome, etwas mehr gaben Symptome einer depressiven Störung an. Mit zunehmender räumlicher Nähe zum WTC stiegen diese Zahlen, Symptome von posttraumatischem Stress nahmen zu. Bereits ein Jahr später konnte, anders als erwartet, in der Bevölkerung kein Zusammenhang mehr zwischen räumlicher Nähe zum WTC oder unmittelbarem Miterleben des Anschlags und posttraumatischen Symptomen oder akuter Stresssymptomatik in der Bevölkerung nachgewiesen werden. Besonders betroffen waren nun landesweit vor allem Menschen, die keinen oder einen schlechteren Zugang zu professioneller Hilfe und medizinischer oder psychologischer Versorgung hatten, Personen hispanischer oder schwarzafrikanischer Abstammung, Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen, jene mit psychischen Problemen und/oder Erkrankungen bereits vor dem Anschlag aber auch Personen ohne funktionierendes soziales Netzwerk usw. Pathologische Symptome in beachtlichen Teilen der Bevölkerung wurden nun als normale Reaktionen auf ein abnormales Ereignis erkannt, die Möglichkeit eines „nationalen Traumas“ nach einem Terroranschlag wurde bewusst.

Wie reagierten die Briten?

Alltag und Leben in London nach den Anschlägen 2005. Vor den Anschlägen in London 2005 gaben nur wenige der Einwohner an, ihr persönliches Verhalten geändert zu haben, um ihr individuelles Terror-Risiko zu reduzieren. 13 Tage nach den Attacken auf die Londoner U-Bahnen und einen Doppeldeckerbus hatten 32 Prozent der befragten Londoner den Vorsatz, öffentliche Verkehrsmittel künftig weniger nützen zu wollen als zuvor und Wege nach London Central zu vermeiden. In Relation zum „9/11“ wurden von den Londonern jedoch seltener Stresssymptome beschrieben als von der US-Bevölkerung. Noch 7 Monate nach den Anschlägen gaben 19 Prozent der Befragten an, als Folge der Bomben seltener als zuvor nach Central London zu fahren, 17 Prozent gaben an, dort weniger oft einzukaufen oder ihre Freizeitaktivitäten geändert zu haben. In Summe meinten über ein halbes Jahr nach den Anschlägen mehr als jeder vierte Befragte (28 %), das eigene Verhalten im Sinne von Vermeidung oder Schutz geändert zu haben.

Alltag und Leben in Madrid nach den Anschlägen vom 11. März 2004

Vergleichbar zum Vermeidungsverhalten der US-Bevölkerung nach den Anschlägen auf das WTC war auch in Spanien die Anzahl der Zugfahrgäste nach den Anschlägen vom 11. März 2004 rückläufig. Dieser Effekt hielt jedoch wesentlich kürzer als in den USA – nur etwa 2 Monate – an.

Kann Terrorismus zu einem vertrauten Alltagsrisiko werden?

Vertraute Risiken (z. B. Straßenverkehr, Kriminalität oder wirtschaftliche Probleme) gehören zum Alltag. Mögliche „Schutzmaßnahmen“ wie persönlicher Lebensstil, Sicherheitsvorkehrungen, Versicherungen, erhöhte Wachsamkeit im Straßenverkehr etc. sind weitgehend bekannt und helfen, emotionale Bela­s­tungen zu vermeiden oder abzubauen.

Eine vergleichbare Vertrautheit mit dem persönlichen Terrorrisiko ist in den meisten EU-Staaten jedoch (noch) nicht anzunehmen. Meist überschätzen Laien die Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen deutlich, vor allem auch, weil es eine relativ unbekannte, aber stark Furcht einflößende, Bedrohung ist. Mit zunehmender Emotionalität sinkt jedoch die Vernunft, Verhalten wird unberechenbarer, Überreaktionen werden wahrscheinlicher.

Die gegenüber dem „9/11“ geringeren und eher kurzzeitigeren Stressreaktionen der Londoner aber auch der Madrider Bevölkerung lassen einerseits eine Vertrautheit der dortigen Bevölkerung mit Terrorismus (die in den USA gänzlich fehlte), aber auch ein fest verankertes Vertrauen in die nationalen Sicherheitsbehörden vermuten. Dieses Vertrauen in die Sicherheitsbehörden und die Polizei zeigt sich seit vielen Jahren auch bei verschiedenen Umfragen in Österreich. Die österreichische Exekutive genießt ein sehr hohes Vertrauen in der Bevölkerung.

Fazit

Verunsicherung, Ängste, Vermeidungsverhalten, Störungen des öffentlichen Lebens und so fort sind Ziele von Terroristen. Ihre Anschläge richten sich nicht nur unmittelbar gegen Betroffene, sondern langfristig gegen die Psyche der Bevölkerung. Terroristische Folgeschäden sind anhaltend, ihre psychischen Langzeitwirkungen werden unterschätzt, diese Opfer kaum gezählt. Staatliche Überreaktionen können weiter verunsichern – je heftiger die wahrnehmbaren Reaktionen der Sicherheitskräfte und der Politik sind, desto heftiger wird die Bedrohung von der Öffentlichkeit interpretiert. Gleichzeitig sind erkennbare Signale, die Situation unter Kontrolle zu haben, für die Sicherheit der Bürger zu sorgen, in politischen Entscheidungen einig, sicher und kompetent zu sein, unabdingbar für das Sicherheitsgefühl der Menschen – ein Drahtseilakt für die Verantwortlichen. Möglichst hohes Vertrauen in nationale Sicherheitsbehörden und Politik sind unabdingbar, um Menschen nach Terroranschlägen wieder in den gewohnten Alltag und in ein Leben wie davor zurückhelfen zu können.

Zeugen und Opfer eines Terroranschlags mussten eine außergewöhnlich bedrohliche Situation miterleben, die oftmals lebensgefährlich war, die nicht dem normalen Erleben entspricht. Vor allem in den ersten Tagen und Wochen danach ist es wichtig, sich mit empathischen Menschen zu umgeben, Angehörigen oder Freunde sind häufig überfordert. Ambulanzen für Psychotherapie, Psychosomatik bzw. Psychiatrie, Psychotherapeuten oder Beratungsstellen bieten professionelle Hilfe an. Praktische Ärzte und Ärztinnen sind zumeist gut informiert über das regionale Angebot.

-Erstveröffentlich in Öffentliche Sicherheit 1-2/21 https://www.bmi.gv.at/magazin/magazin.aspx?id=131-