Ausweispflicht per Corona-Verordnung?
Verordnungsgeber missachten rechtsstaatliche Grenzen
Von Jan Fährmann, Clemens Arzt, Hartmut Aden
Hektische Rechtsetzung in Krisenzeiten gefährdet den Rechtsstaat. Das gilt in einer Pandemiekrise genauso wie nach einem Terroranschlag. Rechtsstaatliche Defizite der derzeit erlassenen Gesetze und Verordnungen unterstreichen die Dringlichkeit der von Kingreen formulierten Aufforderung an Jurist*innen zum „Schutz des Rechts“.
Viele Landesregierungen haben in den letzten Wochen von der Verordnungsermächtigung in § 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG) Gebrauch gemacht; in anderen Ländern wurden Allgemeinverfügungen erlassen. § 32 IfSG ermöglicht, Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zugunsten der im IfSG vorgesehenen Schutzzwecke (§§ 28 bis 31) „auch durch Rechtsverordnungen“ zu erlassen. Je schwerer die Eingriffe wiegen, desto genauer müssen die zulässigen Maßnahmen in einem Parlamentsgesetz geregelt und durch Tatbestandsvoraussetzungen abgesichert werden, die eine Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sicherstellen (z.B. BVerfGE 49, 89 (133ff.)). Die Maßnahmen, wie sie derzeit per Rechtsverordnung zur Pandemiebekämpfung angeordnet werden, sind in ihrer Tiefe und Breite teilweise nicht durch die Verordnungsermächtigung gedeckt (so auch Carsten Bäcker). Daran ändert auch die am 25. März 2020 im Bundestag beschlossene Änderung des § 28 IfSG (Drucksache 19/18111, S. 10) nichts, da die Norm weder tatbestandlich, noch auf Rechtsfolgenseite konkretisiert wurde (so auch Klafki und Möllers).
Auch in Berlin wurde am 14. März 2020 eine „Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Berlin“ erlassen und seither bereits zweimal erweitert (nachfolgend Corona-VO). Immerhin wurden die Maßnahmen so auf eine etwas solidere Basis gestellt als in Bayern, wo die Landesregierung weitreichende Grundrechtseinschränkungen zunächst per Allgemeinverfügung anordnete und dafür vom Verwaltungsgericht München zutreffend gerügt wurde. Inzwischen hat die Bayerische Landesregierung daher ebenfalls eine Verordnung erlassen.
Die Corona-Verordnungen erlauben schwere Grundrechtseingriffe (Überblick). In § 17 der Berliner Corona-VO ist geregelt, dass „der Personalausweis oder ein anderer amtlicher Lichtbildausweis nebst einem Dokument, aus dem die Wohnanschrift der Person ersichtlich ist, mitzuführen und auf Verlangen der Polizei und den zuständigen Ordnungsbehörden vorzulegen“ ist. Auch die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat per Corona-Verordnung eine Ausweispflicht eingeführt, dort in § 18 Abs. 4 Satz 3. Das Beispiel der Ausweispflicht demonstriert, welche – aus einer rechtsstaatlichen Perspektive – gravierenden Fehler in Zeiten einer Pandemie in Rechtsvorschriften Eingang finden können.
Ähnlich wie in anderen Bundesländern wurden in Berlin „vorübergehende Kontaktbeschränkungen“ für Menschen verfügt. Nach § 14 Abs. 1 Corona-VO haben sich Menschen in „ihrer Wohnung oder ständigen Unterkunft“ aufzuhalten. § 14 Abs. 3 sieht Ausnahmen vor; manche davon sind problematisch unpräzise formuliert, etwa wenn § 14 Abs. 2 lit. n eine „Glaubhaftmachung“ der Notwendigkeit eines Besuchs beim Rechtsanwalt verlangt. Die Unbestimmtheit dieser Vorschriften kann für Betroffene und Polizeibeamt*innen zum Problem werden, auch wegen des Straftatbestands in § 75 Abs. 1 Nr. 1 IfSG (ähnlich Sußner). Auch die Ausnahme für „Sport und Bewegung an der frischen Luft“ nach § 14 Abs. 2 lit. i ist unpräzise; die Polizei untersagt Menschen sogar das Verweilen in Parks (siehe auch Lehner). Die nebenstrafrechtlichen Vorschriften des § 75 IfSG dürften zudem bei Verstößen gegen die Corona-VO den besonderen Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an die Formulierung von Strafvorschriften kaum gerecht werden.
In Berlin darf also die Wohnung für Sport und Bewegung an der frischen Luft verlassen werden, allerdings nur alleine, mit Angehörigen des eigenen Haushalts oder mit einer anderen Person. Das Vorliegen von Ausnahmegründen ist nach § 14 Abs. 2 Satz 1 gegenüber der Polizei und den zuständigen Ordnungsbehörden glaubhaft zu machen. Welchem legitimen Zwecken soll dabei die Ausweispflicht in § 17 der Corona-VO dienen? Mangels Begründung kann dies nur vermutet werden.
Wann darf die Polizei die Einhaltung der Corona-VO kontrollieren?
In der Berliner Corona-VO sind keine Voraussetzungen für eine Kontrolle genannt. Daher gelten nur die üblichen gesetzlichen Eingriffsbefugnisse zu Befragungen und Personenkontrollen, d.h. die Normen aus den Polizeigesetzen und der Strafprozessordnung (ggf. i.V.m. § 46 OWiG). Ob berechtigte Gründe für das Verlassen der Wohnung vorliegen, kann im Rahmen einer Befragung geklärt werden. Nach § 18 ASOG Bln ist eine Befragung mit Erhebung personenbezogener Daten zur Abwehr einer konkreten Gefahr zulässig. Dabei muss die befragte Person in der Regel Verursacher der Gefahr sein. Eine konkrete Gefahr läge bei einem Normverstoß vor, hier also § 14 Abs. 1 Corona-VO, sofern man über eine Rechtsverordnung überhaupt so weitgehende Kompetenzen zulassen will (zu Recht ablehnend Klafki, Kießling, Edenharter, Kingreen; Bethge und Kalscheuer fordern zeitnah neue Normen; für eine grundsätzliche Zulässigkeit nach dem Katastrophenschutzrecht Thiele). Dann läge indes bereits eine repressiv-polizeiliche Maßnahme vor.
Da § 14 Abs. 3 Corona-VO weitgehende Ausnahmen von dem Kontaktverbot vorsieht, wird es bei einer einzelnen angetroffenen Person in der Regel keine äußerlichen Hinweise auf einen Normverstoß geben. Erst, wenn mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum interagieren, könnte das ein Hinweis auf einen Verstoß sein, ausgenommen, es handelte sich um Angehörige eines Haushaltes. Insofern sind zwar die Kontrollkompetenzen von Ordnungsbehörden und Polizei durch die Corona-VO massiv ausgeweitet worden; im Regelfall dürfte aber ihre Anwendung nicht rechtmäßig sein, sofern zwei Personen zusammen unterwegs sind und den Abstand zu anderen Personen einhalten.
Grundsätzlich denkbar wäre auch die Ausweiskontrolle zur Abwehr von Gefahren aus der Verbreitung des Virus. Einschlägig wäre in Berlin § 21 Abs. 1 ASOG, wonach zur Abwehr einer (konkreten) Gefahr die Identität festgestellt werden darf. Diese käme wieder bei mehr als zwei Personen in Betracht. Allerdings wären die Auswirkungen von Verstößen in der Regel so gering, dass eine Identitätsfeststellung zumeist unverhältnismäßig wäre. Wegen der Summierung der vielen weitreichenden Grundrechtseingriffe, die derzeit per Verordnung von der Exekutive erlassen werden, und potentiell diskriminierender Auswahl der Kontrollierten ist eine Ausweiskontrolle mehr als ein geringfügiger oder zu vernachlässigender Grundrechtseingriff (vgl. Oberverwaltungsgericht Hamburg). Eine Ermahnung dürfte in den meisten Fällen ausreichen. Sollte es sich um eine infizierte Person handeln, so entstünde eine Gefährdung für die beteiligten Mitarbeiter*innen von Ordnungsbehörden oder Polizei erst durch die Kontrolle, nicht zuletzt, weil diese offenkundig noch immer nicht hinreichend mit Schutzmasken u.ä. ausgerüstet sind.
Es ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die nicht an eine konkrete Gefahr gebundenen Kontrollkompetenzen der Polizei an den meisten kriminalitätsbelasteten Orten (in Berlin: § 21 Abs. 2 Nr. 1a ASOG) aktuell vorübergehend nicht mehr anwendbar sein dürften, da sich das Erscheinungsbild solcher Orte durch das allgemeine Kontaktverbot verändert hat. Da Menschen sich dort jetzt wegen der Corona-VO ohnehin nicht mehr über einen längeren Zeitraum aufhalten können, ohne gegen das Kontaktverbot zu verstoßen, dürfte die „Kriminalitätsbelastung“ dieser Örtlichkeiten faktisch erheblich abgenommen haben. Dennoch wird dort weiterhin kontrolliert.
Ist die Pflicht, einen Ausweis dabei zu haben, rechtmäßig?
Eine Pflicht, stets ein Ausweisdokument mitzuführen und sich auszuweisen, gibt es in Deutschland grundsätzlich nicht, dies wird nach ganz herrschender Ansicht daraus hergeleitet, dass weder im Personalausweisgesetz (PAuswG) noch im Passgesetz oder im Aufenthaltsgesetz eine entsprechende Pflicht geregelt ist.
Nach allgemeiner Meinung besteht keine gesetzliche Pflicht der Staatsbürger*innen, sich ohne Grund auf amtliche Aufforderung auszuweisen (BGHSt 25, 13 (19)). Eine Mitführens- und Vorlagepflicht kann zwar spezialgesetzlich vorgeschrieben werden, wie etwa in § 38 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Waffengesetz (zu solchen Ausnahmen). Eine Abweichung vom PAuswG durch landesrechtliche Verordnung auf Grundlage des § 32 IfSG erscheint indes ausgeschlossen, weil die Ermächtigungsnorm in § 32 wie auch §§ 28 ff. IfSG hierzu keine Regelungen enthalten.
Eine Mitführens- und Vorlagepflicht für Ausweisdokumente müsste den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen und insbesondere hinreichend bestimmt sein (BVerfG). Parlamentsgesetzliche Ermächtigungsnormen zum Erlass von Rechtsverordnungen müssen nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG die zulässigen Grundrechtseingriffe bezüglich Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt festlegen. Das Bundesverfassungsgericht hat Maßstäbe entwickelt, die dieses Bestimmtheitsgebot konkretisieren. An der „notwendigen Beschränkung fehlt es dann, wenn die Ermächtigung so unbestimmt ist, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können“ (BVerfGE 2; 307 (334), auch BVerfGE 102, 197 (222). „Das Parlament soll sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entäußern können, dass es einen Teil der Gesetzgebungsmacht der Exekutive überträgt, ohne die Grenzen dieser Kompetenzen bedacht und diese nach Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, dass schon aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll.“ (BVerfGE 58, 257 (277)).
Der Zweck des Bestimmtheitsgebots für Rechtsverordnungen besteht also in der parlamentarischen Steuerung und Begrenzung der exekutiven Verordnungsmacht. Im Umkehrschluss folgt daraus für den Verordnungsgeber (also die Regierungen), dass Rechtsverordnungen nicht über die im Parlamentsgesetz festgelegten Zwecke hinausgehen dürfen, insbesondere bezüglich zugelassener Grundrechtseingriffe. Zwar erlaubten die §§ 28 bis 31 IfSG auch nach der Gesetzesfassung vor der Corona-
Pandemie bereits sehr weitreichende Grundrechtseingriffe, u.a. zum Schutz vor Ansteckung und zur Beobachtung Ansteckungsverdächtiger. Eine Ausweispflicht oder auch nur deren implizite Notwendigkeit kann indes aus den dort genannten Zwecken nicht hergeleitet werden, schon gar nicht für die gesamte Landesbevölkerung. § 17 Corona-VO in Berlin ist daher ebenso wenig mit Art. 80 Abs. 1 GG vereinbar wie die Parallelvorschrift in Sachsen-Anhalt.Zudem ist fraglich, welchem Zweck im Sinne der Schutzziele des IfSG eine Feststellung der Wohnanschrift haben könnte, sodass Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Ausweispflicht in Corona-Verordnungen bestehen. Zwar käme als legitimer Zweck in Betracht, die Einhaltung einer Beschränkung des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu kontrollieren, jedenfalls unter der Prämisse, dass diese selbst verfassungsmäßig sei. Allerdings stellt sich die Frage, ob ein Ausweisdokument oder ein Nachweis des Wohnsitzes bei einer Kontrolle die Einhaltung des Kontaktverbotes belegen kann. Ausnahmegründe können nur durch das Vorbringen der betroffenen Personen oder spezielle Dokumente glaubhaft gemacht werden. Das Ausweisdokument enthält nur Angaben wie Namen, Alter, Körpergröße und Meldeanschrift, die keinen Bezug zu den Ausnahmegründen haben. Sofern zwei Menschen zusammen unterwegs sind, müssen sie ihren gemeinsamen Wohnsitz nicht nachweisen, da sie nach § 14 Abs. 3 lit. i Corona-VO Berlin zusammen unterwegs sein dürfen. Auch wäre es nicht rechtmäßig, mit dem Ausweis zu prüfen, ob sich eine Person in der Nähe ihrer Wohnung befindet. Denn es ist (bisher) grundsätzlich nicht verboten, sich in einer weiteren Entfernung vom Wohnsitz aufzuhalten. Viele Menschen haben zudem Zweitwohnsitze (hierzu Thiele) – eine Residenz- und Aufenthaltspflicht in der Erstwohnung gibt es nicht. Ein Aufenthalt jenseits einer weder im Gesetz oder der Verordnung definierten „Umgebung“ der Wohnung kann aufgrund von verschiedenen Ausnahmegründen der Verordnung gerechtfertigt sein, auch aufgrund der Zulässigkeit von Sport und Bewegung im Freien. Dass nur kurze Spaziergänge umfasst sind, steht nicht in der Verordnung. Vor dem Hintergrund der extremen Eingriffsintensität können diese Normen auch keinesfalls noch weitergehend ausgelegt werden, als sie ohnehin schon formuliert sind. Auch ist eine so weitgehende Verpflichtung alles andere als ein irrelevanter Eingriff, da die Maßnahmen aus den Corona-Verordnungen eine hohe Streubreite haben (vgl. Bethge).
Schlussfolgerungen
Die im Eiltempo erlassenen Corona-Verordnungen der Länder enthalten weitreichende Grundrechtseingriffe, über deren Reichweite und Zweck anscheinend in der Eile der Verordnungsgebung nicht in jedem Fall hinreichend nachgedacht werden konnte. Der Fokus lag offenbar mehr darauf, wie die Ausbreitung des Virus verhindert werden kann, als auf rechtsstaatlichen Standards. Dies mag in diesen Zeiten nachvollziehbar sein, ist aber kein Zustand, der so beibehalten werden darf.
Gerade in einer Situation, in der Entscheidungen notwendig auf der Basis unscharfer Prognosen gefällt werden, muss eine sinnvolle Kontrolle der Gesetz- und Verordnungsgebung gewährleistet sein. Dies gilt umso mehr für Maßnahmen, deren Sinn für die Bekämpfung des Virus nicht unmittelbar erkennbar und nachvollziehbar ist. Dabei sollte auch die Perspektive der Betroffenen stärker berücksichtigt werden, damit die Maßnahmen auf Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen (hierzu auch Kugelmann). Maßnahmen sollten grundrechtsschonend weiter ausdifferenziert werden, auch um die Situation von Menschen zu berücksichtigen, für die Kontaktverbote zu besonderen Härten führen – etwa Kinder getrenntlebender Eltern, Geflüchtete, Singles, Menschen mit sehr kleinen Wohnungen, Obdachlose, psychisch Kranke oder Opfer von häuslicher Gewalt (Sußner). Rechtsstaatliche Erwägungen sind auch in einer Krisensituation essentiell; rechtswidrige Normen müssen zeitnahe korrigiert werden (ähnlich Kingreen).
Bei allem Verständnis für die schwierigen Aufgaben, vor denen Regierungen in einer Pandemiekrise stehen, dürfen rechtsstaatliche Grundsätze nicht zu Nebensächlichkeiten verkommen. Die Landesregierungen sollten die von ihnen erlassenen Verordnungen schnellstmöglich selbstkritisch prüfen und überflüssige oder rechtswidrige Grundrechtseingriffe wie die per Verordnung oktroyierte Ausweispflicht in Berlin und Sachsen-Anhalt streichen, nicht zuletzt, um Polizei und Ordnungsbehörden Handlungssicherheit zu vermitteln, die auch unnötige Konfrontationen und Anzeigen vermeiden kann. Es wäre ein gutes Zeichen für das Funktionieren des Rechtsstaats in Krisenzeiten, wenn die Landesregierungen damit nicht warten, bis sie durch Gerichte dazu gezwungen werden.
-Erstveröffentlicht Max Steinbeis Verfassungsblog GmbH-