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Antisemitismus als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung

Von Dr. Florian Hartleb

Seit dem 7. Oktober 2023 hat der Terroranschlag der Hamas auf Israel die bestehende für eine neue Zeitenwende in der internationalen Politik gesorgt. Etwa 3.000 Terroristen stürmten aus dem Gazastreifen auf dem Land-, Luft- und Seeweg über die Grenze nach Israel, töteten etwa 1.400 Menschen und nahmen über 240 Geiseln jeden Alters unter dem Deckmantel Tausender auf Israel abgefeuerter Raketen. Der Angriff kam überraschend und stellt offensichtlich ein großes Versagen der Geheimdienste dar, die gerade in Israel höchst professionell ausgestellt sind.1

Dies veranlasste den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, der Hamas den Krieg zu erklären, der seiner Meinung nach nun in den Jahren 2024 und 2025 fortgesetzt werde.2 Die Regierung unter Benjamin Netanjahu erntet auch heftige Kritik. Karim Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, wirft Israel unter anderem das Aushungern von Zivilisten im Gaza-Krieg vor. Die Richter sollen Haftbefehle gegen Israels Premier (und die Hamas-Führung) ausstellen. Khan sieht hinreichend Beweise dafür, dass die israelische Führung in den Monaten danach bewusst die Zivilbevölkerung im Gazastreifen bombardiert und ausgehungert habe. Als Beispiele führt er an, dass Israel für lange Zeiträume die Wasser- und Stromversorgung im Gazastreifen unterbrochen und die Grenzübergänge für humanitäre Hilfe geschlossen habe. Das Recht auf Selbstverteidigung befreie Israel nicht von seiner Verpflichtung, internationales Recht zu achten, mahnt Khan.3

Wie der Nahostwissenschaftler Tom Khaled Würdemann schreibt, ist diese Debatte durchaus heikel: „Israel ist ein Staat. Das bedeutet, dass die ‚Kritik der Israelkritik` in einem sensiblen Bereich liegt: Als unpersönliche Entitäten der Gewalt und Machtausübung verdienen Staaten beziehungsweise ihre Regierungen es wie kaum ein anderer Aspekt menschlicher Gesellschaft, umfassender Kritik zu unterliegen. Für Israel und seine Regierung gilt das genauso wie für andere Staaten und deren Regierungen. Mutmaßliche Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg, illegale Siedlungen im Westjordanland und systematische Diskriminierungen nicht-jüdischer Gruppen, etwa von palästinensischen Bürgern in Ost-Jerusalem, sind klar als solche zu benennen – wie es ja vielfach auch geschieht. Gleichzeitig ist klar, dass im Schatten der ‚Israelkritik‘ der Antisemitismus blüht“.4

Es gibt sechs Schlüsselfaktoren, die den Antisemitismus fördern:5

  • (1) Der Konflikt im Nahen und Mittleren Osten kann möglicherweise dauerhaft eskalieren. Dadurch verstärkt sich der Antisemitismus auch in Europa.
  • (2) Die Zunahme von Verschwörungserzählungen, die, ob alt oder neu, mehr oder weniger antisemitisch geprägt sind. Diese Entwicklung konnten wir während der Covid-19-Pandemie beobachten, wenn es etwa hieß, der Virus wurde durch Juden verbreitet.
  • (3) Antisemitismus spielt in allen ideologischen Strömungen und Richtungen eine beträchtliche Rolle. Hier gibt es zahlreiche wechselseitige Inspirationen und Interaktionen. Mit der Verbreitung von radikalen Ideologien nimmt somit auch der Antisemitismus automatisch zu.
  • (4) Die neue Dynamik auf verschiedenen virtuellen Plattformen, die zur Verbreitung von antisemitischen Inhalten verwendet werden.
  • (5) Der antiglobalistische Populismus ist zumindest latent antisemitisch und bereitet das Feld für offenen Antisemitismus. Ebenso sind auch antisemitische Einstellungen bei woken Eliten deutlich wahrzunehmen.
  • (6) Die dominante Rolle des Politischen Islam, welche einen „importierten Antisemitismus“ nach Europa einschließt.

Mit der Annahme eines ansteigenden Antisemitismus entstehen in der Konsequenz Sicherheitsrisiken:

  • (1) Zunehmende Attacken, Angriffe und Anschläge gegenüber Juden in Person oder gegenüber jüdischen Symbolen und Besitztümern;
  • (2) Radikalisierung des öffentlichen Diskurses mitsamt einer Verbreitung von antisemitischer Rhetorik, sei es offen oder unterschwellig;
  • (3) Anstieg des Politischen Islam, auch und gerade, wenn es zu Wechselwirkungen mit anderen Ideologien kommt;
  • (4) Einfluss auf die Außenpolitik der europäischen Staaten (und der Europäischen Union, EU) gegenüber Israel und den islamischen Staaten. Die Einstellungen gegenüber Juden können hier als Schlüsselfaktor gelten.

Blumen und Zettel an der Mauer vor der Synagoge in Halle (Saale)
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Der hybride Krieg spielt sich auch und gerade in den Sozialen Medien ab. Hemmschwellen, was israelbezogenen Antisemitismus angeht, wurden nochmals abgebaut. Videos, die Israel das Existenzrecht absprechen, erscheinen dabei fast schon als alltägliche „Normalität“, wie Deborah Schnabel, Direktorin der „Bildungsstätte Anne Frank“ in Frankfurt am Main, konstatiert.6

Innerhalb des islamistisch-extremistischen Spektrums gibt es Organisationen, deren Hauptziel der Kampf gegen die Existenz des Staates Israel ist. Dazu gehören die palästinensische Hamas und die libanesische Hisbollah. Beide Organisationen bekämpfen Israel mit militärischen und terroristischen Mitteln und fordern in ihrer Propaganda immer wieder die völlige Vernichtung Israels. Das Thema ist gleichwohl allumfassender als die aktuelle Konfliktlage: Bestehende Verschwörungstheorien über die jüdische Kontrolle über politische, Medien- und Finanzinstitutionen wurden auf den Konflikt angewendet. Die Verbreitung der Ideologie der palästinensischen Befreiung kann als nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Eskalation des Konflikts fällt unmittelbar auf uns zurück, fast zu vergleichen mit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine7; sie ist Teil von neuen Auseinandersetzungen, die eben auch von Russland ausgehen. In vielen Ländern ist es im Nachgang des 7. Oktober in vielen Städten Europas zu erheblichen Demonstrationen gekommen. Diese Ereignisse richteten sich selten gegen die Hamas. Die meisten Demonstrationen konzentrierten sich auf die von Israel erwarteten Reaktionen. Es ist von einem beginnenden „Völkermord an den Palästinensern“ die Rede. Demonstranten haben den Hassslogan „Kindermörder Israel“ skandiert. Darüber hinaus wurde die Idee der Vernichtung des Staates Israel verbal heraufbeschworen. „From The River To The Sea, Palestine Will Be Free“, eine tragende Säule pro-palästinensischer Märsche, und das Tragen des schwarz-weißen Keffiyeh oder Schals, der heute mit palästinensischen Arabern in Verbindung gebracht wird, waren bei diesen Versammlungen und Märschen allgegenwärtig.

In diesen illiberal gewordenen Zeiten kann nicht oft genug betont werden: Antisemitismus ist als Ideologie der Vorurteile und des Hasses mit den Grundwerten Europas unvereinbar. Antisemitismus stellt nicht nur eine Bedrohung für jüdische Gemeinden und das jüdische Leben dar, sondern auch für eine offene Gesellschaft, für die Demokratie und die europäische Lebensweise. Daher ist Antisemitismus ein besorgniserregender Trend, der sich gerade manifestiert, auch an Universitäten8 und auf den Straßen. Er zeigt sich in allen Phänomenbereichen des Extremismus, ebenso in den neuen virtuellen Welten. Als besondere Herausforderung gilt gerade die Militanz im islamistischen Terrorismus, welche das Risiko von Anschlägen in Europa weiter steigen lässt. Und in Zukunft wird die Vervielfältigung von antisemitischem Material durch generative Künstliche Intelligenz neue Herausforderungen an die Forschung stellen.9

 

Quellen:

1 Vgl. Haleigh Bartos/John Chin: What went wrong? Three hypotheses on Israel`s massive intelligence failure, 31. Oktober 2023, Modern War Institute at Westpoint, https://mwi.westpoint.edu/what-went-wrong-three-hypotheses-on-israels-massive-intelligence-failure/ (abgerufen am 13. Oktober 2024).
2 Vgl. The Times of Israel, 17. Januar 2024: Netanyahu says war against Hamas set to continue into 2025. TV report, https://www.timesofisrael.com/netanyahu-says-war-against-hamas-set-to-continue-into-2025-tv-report/ (abgerufen am 13. Oktober 2024).
3 Vgl. Handelsblatt: Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs beantragt Haftbefehl für Netanjahu, 20. Mai 2024, https://www.handelsblatt.com/politik/international/nahost-krieg-chefanklaeger-des-internationalen-strafgerichtshofs-beantragt-haftbefehl-fuer-netanjahu/100038608.html (abgerufen am 13. Oktober 2024).
4 Tom Khaled Würdemann: Israel und der Antisemitismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 74 (2024) 25-26, S. 11-18, hier S. 12
5 Gustav Gustenau/Florian Hartleb: Einleitung: Antisemitismus. Realität statt Phantom. in: Dies. (Hg.): Antisemitismus auf dem Vormarsch. Neue ideologische Dynamiken“, Nomos: Baden-Baden, S. 17-41.
6 Deborah Schnabel: Antisemitismus in digitalen Räumen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 74 (2024) 25–26, S. 31-37.
7 Vgl. Armin Langer: in: Gustav Gustenau/Florian Hartleb (Hg.): Antisemitismus auf dem Vormarsch. Neue ideologische Dynamiken“, Nomos: Baden-Baden,
8 Vgl. Michael Wolffsohn: Gebildete Barbaren? Wie sich westliche Wissenschaft und Kultur abschaffen, in: Gustav Gustenau/Florian Hartleb (Hg.): Antisemitismus auf dem Vormarsch. Neue ideologische Dynamiken“, Nomos: Baden-Baden, S. 7-13.
9 Vgl. Gabriel Weimann: Neue Trends im Online-Antisemitismus, in: Gustav Gustenau/Florian Hartleb (Hg.): Antisemitismus auf dem Vormarsch. Neue ideologische Dynamiken“, Nomos: Baden-Baden, S. 91-110.

 

Über den Autor
Dr. Florian Hartleb
Dr. Florian Hartleb
Hartleb, Florian, Dr. phil., ist seit August 2023 als Forschungsdirektor beim Europäisches Institut für Terrorismusbekämpfung und Konfliktprävention (EICTP) in Wien tätig. Er lehrt derzeit an der Katholischen Universität Eichstätt, der Universität Passau und der Fachhochschule des bfi in Wien. Gerade hat er mit Gustav Gustenau dass Buch „Antisemitismus auf dem Vormarsch. Neue ideologische Dynamiken“ beim Nomos-Verlag (Baden-Baden) herausgegeben
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