Rechter Terrorismus: international – digital - analog
Rechter Terrorismus: international – digital - analog
Marc Coester, Anna Daun, Florian Hartleb, Christoph Kopke, Vincenz Leuschner (Hrsgg.),
Wiesbaden 2023, 422 Seiten.
ISBN 978-3-658-40395-9.
Ladenverkaufspreis 39,99 €.„In westlichen Demokratien häufen sich Fälle von rechtem Terrorismus“. Mit dieser These steigen die Herausgeber des zu besprechenden Sammelbandes in ihr Thema ein. Sie stützten ihre Annahme mit Verweisen auf die blutige Spur, die der politisch rechts motivierte Terror in den letzten Jahren zog, angefangen mit Anders Breivik in Norwegen im Jahr 2011 und zuletzt mit den im Mai 2022 von Payton S. Gendron in Buffalo/USA verübten Morden.
Das Verbindende der 16 in diesem Band veröffentlichten Aufsätze ist die Frage: „Inwiefern haben wir es mit einem neuen Rechtsterrorismus zu tun?“ Vor den Antworten ist eine ganze Batterie von Problemen aufgetürmt, die in diesem Buch angesprochen, aber nicht gelöst werden können. Dies ist nicht etwa ein Mangel der Beiträge dieses Bandes, vielmehr ist es die Folge einer schier unüberblickbaren Vielfalt unterschiedlicher Forschungsergebnisse, woraus es bisher nicht gelungen ist, eine allgemeingültige Definition des Begriffes Terrorismus zu erarbeiten. Bereits im Jahr 1988 trugen die Politikwissenschaftler Schmid und Jongman insgesamt 109 Definitionen von Terrorismus zusammen. Es ist aber nicht nur die schiere Quantität, die das wissenschaftliche Arbeiten erschwert. Mehr noch wirkt sich die Heterogenität der Forschungsergebnisse aus, was sich aus der unterschiedlichen Sozialisation des jeweiligen Verfassers, insbesondere durch dessen beruflichen Hintergrund ergibt: Ein Soziologe oder Politikwissenschaftler blickt anders auf diese Fragen als ein Jurist oder Psychologe, Journalist oder Schriftsteller. Sieht man tiefer, bereitet die Abgrenzung zu anderen Begriffen Probleme: Kann man einen politisch motivierten Amokläufer als Terroristen bezeichnen? Des Weiteren ist unter Wissenschaftlern umstritten, was man denn unter politisch „rechts“ versteht.
Bei der Suche nach den Gründen, aus denen sich Terroristen entwickeln, lehnen sich die Herausgeber an die Umschreibung der Politikwissenschaftlerin Louise Richardson an. Sie führt als deren wesentliche Antriebe Rache, Ruhm und Reaktion an.
Für die Erklärung des Rechtsterrorismus bilden für die Herausgeber dieses Buches die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)“ einen markanten Einschnitt. Die Taten seien unterschätzt und von den zuständigen staatlichen Stellen lange Zeit falsch zugeordnet worden. Auch an diesem Punkt öffnet sich ein weites thematisches Feld; denn es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob der Terror von rechts in der Bundesrepublik notorisch unterschätzt und sogar verharmlost wurde. Dies schwinge oft mit, so die Herausgeber, wenn rechte Terroristen als psychisch gestörte Persönlichkeiten oder als verschrobene Einzeltäter gesehen würden.
Aus diesen Vorüberlegungen in der Einleitung der Herausgeber ergeben sich vier Betrachtungsebenen für die weiteren Darstellungen in diesem Sammelband: Neben der weltanschaulichen Ebene wird die operative, kommunikative und ebenso die praktische Ebene des Rechtsterrorismus behandelt. Einige dieser Darstellungen wollen wir im Folgenden näher beschreiben.
Nico Unkelbach befasst sich mit der Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland. Er blickt auf dessen Wurzeln, die er bis zum Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) verfolgt und legt einen Schwerpunkt auf politische Attentate. Auf Attentate und daneben auch auf Amokläufe legt Vincenz Leuschner sein Hauptaugenmerk. Während in diesen beiden Beiträgen eher die Fakten der Tatbegehung im Vordergrund stehen, sieht Fabian Virchow auf die theoretische Seite des Themas, indem er fünfzehn Manifeste des rechten Terrorismus gegenüberstellt. Als Kontrapunkt dazu darf man Florian Hartlebs Beitrag sehen, in dem er die These der „Einsamen Wölfe“ beleuchtet. In einem weiteren Aufsatz geht der gleiche Autor unter dem Titel „Breivik als Dammbruch“ auf dessen Motive ein, die er in der Psyche des Amokläufers verortet. Gerade diese Täter stellen für die Prävention eine große – viele Beobachter vertreten die Auffassung, es sei eine unlösbare – Herausforderung dar. Verschwörungstheorien spielen gerade im rechtsextremen und rechtsterroristischen Spektrum eine große Rolle. Dementsprechend betrachten Armin Langer, aber auch Florian Hartleb und Christoph Schiebel dieses Thema anhand einiger Beispiele, genannt seien stellvertretend für andere die Verschwörungstheorien um George Soros und QAnon.
Eine Sonderstellung nimmt der Beitrag von Judith Goetz und Alexander Winkler ein, in dem sie das „Naheverhältnis der Identitären zum Rechtsterrorismus“ betrachten. Die Wurzeln der Identitären liegen in Frankreich, in der „Génération identitaire“. Von dort verbreitete sich die Bewegung in viele Staaten Europas, wobei als Schwerpunkte Österreich und Deutschland gelten. Gemeinsam ist ihnen der ideologische Überbau, der auf dem von Alain de Benoist entwickelten Konzept der Metapolitik aufbaut. Vereinfachend ausgedrückt wird damit das Ziel verfolgt, die vorpolitische Ebene mit eigenen Begrifflichkeiten und Wertvorstellungen zu okkupieren. Ganz konkret setzen die Identitären zum Beispiel an den Begriffen „Volk“ und „Nation“ an und füllen sie mit ihren rechten Inhalten. Besonders große Wirkung erzielt die auch von den Identitären verbreitete Verschwörungstheorie des „großen Austauschs“ – also das bewusst herbeigeführte Ersetzen der autochthonen europäischen Bevölkerung durch Einwanderer. Die rechtsterroristischen Attentäter von Christchurch, El Paso, Buffalo und auch Halle verübten ihre Taten mit der Begründung, diesen Austausch verhindern zu wollen. Die Gefahr der Identitären rührt, so die beiden Autoren, aus deren ideologischer Nähe zum Rechtsterrorismus und tief verwurzelten personellen Kontakten in dieses Lager. Sie weisen insbesondere darauf hin, es ließe sich eine Verbindungslinie ziehen von der „Gewalt der Worte“ zu der „Gewalt der Taten“. Zwar gehen die Autoren nicht darauf ein, aber die Ähnlichkeit zur Entwicklung des Linksterrorismus in den 1960er und frühen 1970er Jahren springt ins Auge.
Der Sammelband liefert deutlich mehr als einen ersten Einstieg in das Thema Rechtsterrorismus. Er bildet in vielen der Teilaspekte den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ab, stellt aber auch zahlreiche Fragen, die für eine vertiefende Betrachtung den Ausgangspunkt bilden werden.
Der Rezensent vermisst lediglich einen Beitrag zum erfolgreichen Kampf der Landesämter und des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegen den Rechtsterrorismus. Auf dem rechten Auge blind sind die deutschen Verfassungsschützer ganz sicher nicht.
-von Dr. Reinhard Scholzen-