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 Ein Scharfschütze der vierten Kompanie des 2. REP mit dem FRF1 und einem Zielfernrohr APXL-806
Foto: © KépiBlanc / Légion étrangère

DAS GEISELDRAMA VON LOYADA

Von Thomas Gast

VORWORT

Afrikakarte
Foto: © Thomas Gast
Fährt man mit dem Schiff von Norden kommend durch den Suezkanal, dann gelangt man ins Rote Meer. Vorbei an Ägypten, Eritrea, Saudi-Arabien und Jemen, stößt der Reisende an die Pforten des Bab-el-Mandeb. In Fahrtrichtung vorne rechts, also im Süden, wacht der Ras Siyyan und gleich dahinter, einmal durch eine der beiden Engen hindurch, werden kleine Hügel sichtbar, die, so scheint es, vom Nebel umhüllt auf dem Wasser tanzen. Es sind die ´Sieben Brüder`, die Shawabi-Inseln im Indischen Ozean. Rechts davon, immer noch in Fahrtrichtung gesehen, liegt Dschibuti. Dschibuti ist ein kleines Land von großem strategischem Interesse. Seit 1962, Datum, an dem die 13. Halbbrigade der Legion an der Französischen Somaliküste ihre Quartiere aufgeschlagen hat, durchqueren Fremdenlegionäre die Wüsten bei Dikhil, Ali Sabieh, Tadjoura, Holl-Holl, Oueah und Obock. Kennen und lieben gelernt habe ich das Land und seine Menschen im Jahr 1988. Ich kann mich ganz genau an den Tag erinnern, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Dschibuti kam. Es war der 2. Dezember 1988. Kaum angekommen, legten wir – die 1. Kompanie des 2. REP 1– auch schon die Fallschirme an, um über der Gagade-Wüste abzuspringen. Ein zweitägiges Manöver sollte folgen. Den Schirm auf dem Rücken, das schwere Sprunggepäck zu meinen Füßen, saß mir ein Elsässer gegenüber. Wir unterhielten uns über die fünf Legionäre, die bei einem Hubschrauberunfall im Mai 1976 in Holl-Holl ums Leben gekommen waren. Und wir redeten natürlich über den ´Hadschi` Hassan Gouled Aptidon, den ewigen Präsidenten Dschibutis, und nicht zuletzt auch über die Geiselnahme von Gladbeck. Zwei völlig durchgedrehte Geiselnehmer hatten Deutschland tagelang in Atem gehalten, nachdem sie am 16. August 1988 einen Bus mit 32 Fahrgästen in ihre Gewalt gebracht hatten. Die Stichworte ´Bus` und ´Geiselnahme` waren gefallen, und natürlich dauerte es nicht lange, bis das nächste fiel: Loyada2!

„On ne fait pas une colonie avec des pucelles, ni une armée sans légionnaires.“ – Weder gründet man eine Kolonie mit männlichen Jungfrauen, noch eine Armee ohne Fremdenlegionäre.
Maréchal LYAUTEY

COUNTDOWN IN LOYADA. FEBRUAR 1976

Am Horn von Afrika war der Teufel los. Es war noch nicht mal zwei Jahre her, dass im benachbarten Äthiopien Mengistu Haile Mariam den wiedergekehrten Messias und Kaiser Haile Selassie gestürzt und seinen Leichnam unter einer Toilette hatte einmauern lassen. In Eritrea und Ogaden tobten grausame Abspaltungskriege. Im heutigen Dschibuti sympathisierte das Afarvolk, auch Danakil genannt, mit Frankreich und mit Äthiopien, während die Issa, ein Clan der Somali, ihre Seelen an Somalia verkauften. Die militanten Somalier hatten es schon immer auf das kleine Land der Hirten, der Milch und der Schafe abgesehen. Das nicht zuletzt auch wegen des strategisch optimal gelegenen Hafens. In Dschibuti Stadt patrouillierten zu dieser Zeit Legionäre der 13. DBLE 3und der 2. Kompanie des 2. REP. Letztere waren seit Ende November in dem Land, das Frankreich bisher noch nicht in die Unabhängigkeit entlassen hatte. Man suchte nach Waffenverstecken und nach Militanten einer Rebellen-Organisation namens FLCS. Die FLCS hatte ihr Hauptquartier in Mogadischu. Ihr erklärtes Ziel? Die sofortige Unabhängigkeit für Dschibuti oder dessen Einsatzskizze
Foto : © S.I.H.L.E / 2.REP / Légion étrangère
Integration in einen großen Somalia-Staat! Am 3. Februar 1976 brachten vier mit Handgranaten, Sterling-MPs und Sturmgewehren-44 bewaffnete Terroristen der FLCS einen Bus unter ihre Kontrolle. Es war ein Schulbus mit insgesamt zweiunddreißig Insassen an Bord. Darunter einunddreißig Kinder von französischen, in Dschibuti stationierten Militärs, sowie der Fahrer, Jean-Michel Dupont, ein junger wehrpflichtiger Soldat. Das Ganze geschah kurz nach 7 Uhr unweit der Luftwaffenbasis 188 ´Colonel Émile Massart´. Mit den sechs- bis zwölfjährigen Kindern als Geiseln, machten sich die Rebellen Richtung somalische Grenze auf. Unterwegs stießen sie auf einen Checkpoint der Gendarmerie. Einer der Terroristen hielt dem Fahrer die Kanone seiner MP-44 in den Nacken. Wenige Sekunden später rammte der Bus die Barriere. Dann raste er im Höchsttempo weiter Richtung Doraleh. Von dort aus fuhr er mit unvermindertem Tempo nach Osten, hin zur Grenze nach Somalia. Der Grenzposten war bereits alarmiert worden. Die Gendarmen, es handelte sich um zwei Franzosen und vier Afrikaner, hatten über Funk den Befehl erhalten, den Bus zu stoppen. Um das zu bewerkstelligen, stellten sie ihren Geländewagen - ein bulliges Allradfahrzeug - quer über die Straße. Der Bus musste anhalten, und genauso geschah es.

AUFTRAG:

Die Antiterroreinheit GIGN 4und die Fallschirmjäger der Legion arbeiten gemeinsam auf eine spektakuläre Befreiungsaktion hin. Ihr Plan ist verwegen: Die Scharfschützen der GIGN sollen die Terroristen mit gezielten Schüssen zur Strecke bringen, während gleichzeitig die Fallschirmjäger Legionäre des 2. REP im Sturm die somalischen Grenzsoldaten ausschalten und die Kinder befreien.

General Brasart, der Oberbefehlshaber der in Dschibuti stationierten Truppen, alarmierte noch in der gleichen Stunde alle verfügbaren Einheiten, darunter die 13. DBLE und die 2. Kompanie des 2. REP. Brasart wusste, was er mit den Paras-Legion für einen Joker parat hatte. Er war selbst ein alter Fallschirmjäger. Als solcher hatte er 1945 Kommandoaktionen in Laos angeführt und war dabei mehrmals schwer verwundet worden. Nachdem die Paras Legion von der Situation unterrichtet waren, verlegte eine Gruppe Legionäre unter dem Befehl von Capitaine Soubirou mit einem Puma Hubschrauber nach Loyada. So diskret wie nur möglich umzingelten sie den entführten Bus. Von ihrem Hügel aus konnten sie deutlich erkennen, wie auf der anderen Seite der Grenze Truppenbewegungen im Gange waren.

Mit einem ´coup de force`, da waren sich alle Verantwortlichen einig, konnte mehr Schaden angerichtet werden, als gut war, doch alle diplomatischen Varianten waren ausgespielt. Verhandlungen mit den Geiselnehmern, die fast den ganzen Morgen andauerten, brachten nicht den gewünschten Erfolg.

GIGN operators during a demonstration, June 2018
Foto: © By Domenjod - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70932217
Im Élysée-Palast in Paris überlegte man derweil, welche Optionen es gab, den Terroristen zu begegnen. Frankreichs Staatspräsident Giscard d'Estaing hörte seelenruhig allen Beratern zu und traf dann seine Entscheidung. Seine Wahl fiel auf eine bis dato fast unbekannte Polizeieinheit: die GIGN. Leutnant Christian Prouteau, der Chef dieser exzellenten Truppe, hatte seine Männer unter den besten Anwärtern ausgesucht, die Frankreich zu bieten hatte. Vor allem ihre Schießtechnik revolutionierte und überzeugte die Welt der Spezialeinheiten restlos. Die Super-Cops trafen mit ihren Repetier-Scharfschützengewehren auch auf größere Distanz ganz frech ins Schwarze.

Unterdessen war die Zahl der Terroristen angestiegen. Es befanden sich nun fünf bewaffnete Männer im Bus. Somalische Grenzsoldaten lagen jenseits der Grenze auf der Lauer. Doch auch diesseits rückte Verstärkung an. Ein Aufklärungseskadron der 13. DBLE brachte ihre Panzerwagen, die Automitrailleuse Légère, kurz AML, in Stellung. Kampfpanzer vom Typ AMX-13 des 5. RIAOM besetzten Stellungen in etwa 1 Km Entfernung zur Grenze.

Bevor die Nacht fiel, wurde Jehanne Bru, eine Sozialarbeiterin, die alle Kinder im Bus sehr gut kannte, benachrichtigt. Sie sollte den Jungen und Mädchen beistehen. Die Terroristen gaben dafür ihr grünes Licht. Von seinem Beobachtungsposten aus, sah Sergent-chef Jorand, ein alter Hase unter den Paras Legion, wie Jehanne Bru resolut den Bus bestieg. Jehanne war nun ein Faustpfand mehr für die Banditen. Jorand sollte beim Sturm auf den Grenzposten einen Halbzug anführen. Natürlich war auch ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken an die Kinder und die Frau im Bus, aber eines wusste er sehr genau. Es gab keine Soldaten auf der Welt, mit denen er lieber hier wäre als mit seinen Legionären. In Calvi hatten sie eine sehr harte Ausbildung erfahren. Sicher, sie konnten die Soldaten aller anderen Armeen gnadenlos unter den Tisch saufen. Sicher war aber auch, dass sie mit einem Sack auf dem Rücken alle anderen in Grund und Boden marschieren und es im Gefecht mit jedem Gegner aufnehmen konnten. Er vertraute ihnen blind.

Mitten in der Nacht trafen die neun Männer der GIGN in Dschibuti ein. Ein Jeep und ein VLRA (Aufklärungsfahrzeug), beide fuhren mit Blackout Tarnlicht, brachten sie direkt zu einer Lageeinweisung unweit des Einsatzortes. Im olivgrünen, nach außen gut abgedunkelten OPS-Zelt herrschte eine gespannte Atmosphäre. Die Einweisung Einsatzskizze
Foto: © Thomas Gast
erfolgte im Beisein aller Offiziere der an der Operation teilnehmenden Einheiten. Als die GIGN-Truppe hinter Prouteau das Zelt betrat, bedachte man sie mit missmutigen Blicken. Prouteaus Männer hatten lange Haare, er selbst trug Brille. Als General Brasart seine Einweisung beendet hatte, wandte er sich direkt an Prouteau.

»Wie wollen Sie vorgehen?« Seine Stimme klang aggressiv. Er hatte das Détachement einer modernen und schlagkräftigen Eliteeinheit erwartet, doch nicht eine ´Bande Lustig`, wie man im Legions-Militärjargon Soldaten nannte, die man nicht ernst nahm.
Prouteau schien sich seiner Sache sicher. »Meine Männer kommen bis auf etwa 200 Meter ungesehen an den Bus ran. Bis hierher.« Er wies mit seinem Finger auf eine Karte an der Wand. »Auf diese Entfernung treffen wir die Köpfe der Banditen. Fünf Terroristen, das macht fünf Schüsse, vielleicht sechs, mal sehen. Das Signal zur Feuereröffnung gebe ich.«

Einer der Offiziere lachte. Der General glaubte, sich verhört zu haben. Noch nie hatte ein einfacher Leutnant so unverschämt offen mit ihm gesprochen, aber: Noch nie allerdings hatte er von so einem verwegenen Plan gehört.
»Sie vergessen«, sagte er, »dass das hier kein Alleingang der GIGN ist. Und was den Befehl zur Feuereröffnung angeht, der kommt, wenn schon, dann aus Paris. Ich gebe ihn dann an Sie weiter und Sie führen meine Befehle aus.«
»Meine Schützen«, erwiderte Prouteau, »melden mir, wenn sie ihr Ziel im Fadenkreuz haben und es bekämpfen können. Im besten Fall alle gleichzeitig. Wie oft dies sein wird, darüber will ich nicht mal nachdenken. Vielleicht nie, vielleicht ein-, zwei oder dreimal an einem Tag, und das dann auch nur für eine, zwei oder drei Sekunden. Sobald sich nämlich einer der Terroristen bückt oder sich in allerletzter Sekunde wegdreht oder gar ganz aus dem Blickfeld verschwindet, beginnt das ganze Spiel von vorne.«

Das leuchtete dem General ein, auch wenn er von Zielverteilung, Countdown und Schuss-Code noch nie etwas gehört hatte.
Prouteau sah hinüber zu Soubirou. »Wenn es losgeht ... wie viele Sekunden brauchen Ihre Legionäre um den Bus erreichen?«
»Sechzig!«
»Perfekt. Doch was ist, wenn die Grenzsoldaten der Somali eingreifen?«
Sturmangriff auf Bus und Grenzposten
Foto: © Par légion étrangère — centre de documentation de la Légion étrangère, Domaine public, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=714825
»Dann sprechen die Kanonen der AML«, antwortete Brasart.

Der Plan war in der Tat verwegen. Die Scharfschützen der GIGN sollten die Terroristen mit gezielten Schüssen zur Strecke bringen, während in der gleichen Sekunde die Legionäre vorstürmten, mit einem Stoßtrupp in den Bus eindrangen, die Kinder herausholten und aus der Gefahrenzone brachten. Ein Legionärszug würde den somalischen Grenzposten neutralisieren, ein weiterer die Soldaten, die in einem Palmenhain unmittelbar daneben in Stellung lagen. Die Kanonen der AML Panzerwagen sollten die ganze Aktion mit ihrem Feuer decken.

Diese Art Vorgehen erforderte eine sachkundige, sekundengenaue Koordination. Leutnant Prouteau kannte die Legionäre nicht, wusste also kaum, wozu diese fähig waren. Umgekehrt verhielt es sich genauso. Für Capitaine Soubirou stellte die GIGN eine große Unbekannte dar. Er selbst hatte in seinen Reihen einige exzellente Scharfschützen, einlenken musste er dennoch. Das 2. REP, auch die Kompanie Soubirou, verfügte zwar über die neuen Scharfschützengewehre FRF1, diese aber waren in Calvi zu Händen der vierten Kompanie zurückgeblieben. Es handelte sich um wertvolle, brandneue Gewehre. Bedient von einem guten Schützen repräsentierten sie modernste Technik und Effizienz. Aber sie waren in der Testphase und womöglich anfällig. Das Regiment wollte nicht das Risiko eingehen, sie jetzt schon in Afrika einzusetzen. Vor allem nicht in Dschibuti, wo die extreme Hitze gepaart mit der hohen Feuchtigkeit die Kanonen innerhalb weniger Zeit von innen regelrecht zerfressen würde. Die Scharfschützen der Legion verfügten vor Ort also nur über die alte MAS 1949-56. Auch wenn diese Waffe haarscharf mit derselben Optik, dem Zielfernrohr APXL-806, ausgestattet war wie auch die FRF1, so ließ die Präzision über die Dreihundert-Meter-Grenze hinaus doch zu wünschen übrig. Das alles wusste Soubirou.

Das FRF1
Foto: © Von Quickload in der Wikipedia auf Englisch, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4379634
General Brasarts Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch. »An die Arbeit, meine Herren. Viel Erfolg und Gott mit den Kindern!«
Leutnant Doucet hatte sich das grüne Barett tief in den Nacken geschoben und beobachtete mit seinem Feldstecher die somalische Grenze. Was er sah, gefiel ihm nicht.
»Wenn die da drüben ernst machen, wird’s zappenduster.«
Soubirou nickte. Jenseits der Grenze tat sich was. Einheiten der regulären somalischen Armee brachten dort ein gut aussortiertes Waffenarsenal in Stellung.

»Da brat mir doch einen ’nen Storch«, sagte Leutnant Andrieu. »Das sind deutsche MG-42. Und die sind auch noch richtig gut platziert.« Sein Zug lag einsatzbereit dreihundert Meter hinter ihm und genoss die Ruhe vor dem Sturm. Auch Soubirou kannte diese MGs, wusste um deren Feuerkraft. Er sah sich im Gelände um, entdeckte jedoch nur eine Stelle, die ihm als Ausgangsbasis für einen Sturm auf den Bus und den Grenzposten geeignet schien.

»Doucet. Links von uns, einhundert. Am Strand, die leeren Tonnen mit dem Stacheldraht.«
»Gesehen!«
»Bringen Sie dort Ihren Zug in Stellung. Maximale Diskretion bei der Annäherung.«
Der Leutnant nickte humorlos.
»Die anderen Sturmgruppen positionieren sich rechts von Doucet. Jorand Mitte, Raoul außen. Den Befehl zum Sturm gebe ich, sobald die GIGN loslegt. Für alle aber gilt: Sollte auch nur ein einziger Schuss auf eine der Geiseln abgegeben werden, egal in welcher Phase, gehen wir sofort zum Angriff über.«
Die Zugführer sahen sich an.
»Ihre Männer, Raoul, knöpfen sich den somalischen Grenzposten vor. Egal was Ihnen auf dem Weg dorthin um die Ohren fliegt, Sie halten nicht an, bevor Sie das Ziel Das Wappen der 13. DBLE zeigt das Lothringer Kreuz
Foto: © Thomas Gast
erreicht und gereinigt haben. Jorand und Doucet attackieren die Feindstellung in der Palmenreihe und Sie, Andrieu, beziehen auf dem Dach des Grenzpostens der Nomaden hinter uns Position und geben von dort aus Deckungsfeuer.«
»Ich werde hauptsächlich Leuchtspurmunition verschießen«, nickte der Leutnant. »Wäre gut, wenn mir die Züge ihre MGs hierlassen. Die stören eh nur beim Sturm, und wir können sie hier gut gebrauchen. Sobald die Sturmgruppen auf Höhe des Busses sind, muss ich das Feuer wohl aufheben oder nach rechts verlegen. Es wird sonst zu gefährlich.«
»Seh ich genauso, mon lieutenant«, warf Sergent-chef Raoul ein. »Aber trotzdem. Den Sicherheitsabstand zu meinen Männern können Sie getrost auf ein Minimum beschränken.«

Soubirou konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er fand die Rivalität unter seinen Unteroffiziers- und Offiziers-Zugführern amüsant. Zumindest erwies sie sich im Einsatz als recht förderlich. »Grünes Licht, was die MGs betrifft«, sagte er. Und an Leutnant Andrieu gewandt: »Sagen Sie Ihren Legionären, sie sollen die einzelnen Feuerstöße so kurz wie möglich halten. Vier, fünf Schuss, keinen einzigen mehr. Bezüglich des Sicherheitsabstandes haben Ihre Männer sicher ein gutes Gespür.« Es war eine Warnung, die der Leutnant sehr wohl verstand.

Doucet meldete sich zu Wort. »Um den Grenzposten zu säubern, werden wir Splitterhandgranaten brauchen. Wer übernimmt?«
Raoul antwortete sofort. »Ich. Meine Männer sind sehr nahe dran. Zwanzig Meter oder so, wenn ich richtig kalkuliere.«
»Gut«, sagte Soubirou. »Dann wäre das geklärt. Bis zum Bus sind’s ziemlich genau zweihundertfünfzig Meter. Das ist viel, aber näher kommen wir nicht ran, ohne zu riskieren, gesehen zu werden.«
»Oui, mon Capitaine, das denke ich auch«, warf Doucet vorsichtig ein. »Aber was ist mit den Terroristen im Bus, mit den Kindern?«
»Na endlich einer, der die Frage stellt. Die Männer der GIGN sollen die Terroristen ausschalten. Unser Job ist es, die Kinder dann aus der Gefahrenzone zu holen. Ich Major Jorand viel Jahre später
Foto: © KépiBlanc / Légion étrangère
denke da an Lemoine und Larkin. Stellen Sie den beiden jeweils einen kleinen Sturmtrupp zur Verfügung. Und nun los.«

Doucet und Andrieu sahen sich an. Von einer GIGN hatten sie noch nie gehört.
»Na wenn das mal gut geht«, zischte Andrieu und robbte nach hinten, um seine Befehle zu geben. Bis zum frühen Morgen ergab sich für die Schützen der GIGN dreimal die Gelegenheit, das Feuer gleichzeitig zu eröffnen, doch Paris Rechts im Bild ´Colonel` Soubirou, Regimentskommandeur des 2. REI
Foto: © KépiBlanc / Légion étrangère
hatte dem Einsatz noch nicht zugestimmt. Eine weitere Erschwernis war, dass Paris angeordnet hatte, dass die GIGN erst dann das Feuer eröffnen durfte, wenn sich nur ein einziger Terrorist im Bus befand. Das war absurd. Gegen Mittag, und auf Drängen Prouteaus, änderte Paris seine Meinung und drängte auf ein Ende. Der opportune Moment kam schnell.

»Golf India an alle, wir legen los«, tönte es aus den Funkgeräten. Das Signal kam von Leutnant Prouteau. Die Paras Legion erstarrten in ihren Positionen. Die Waffen eng am Mann, machten sie sich fertig zum Sprung. Punkt 15 Uhr 45 kam grünes Licht von allen Scharfschützen. Über ein fein ausgeklügeltes Code-System gaben sie per Funk durch, dass sich ihr ´Ziel` im Fadenkreuz befand. Einer sah zwar nur den Kopf seines Opfers, doch das genügte ihm. »Fahrt alle zur Hölle«, flüsterte Prouteau, zählte den Countdown und gab das Signal. Die sechs Schüsse fielen auf die Zehntelsekunde genau, klangen wie ein einziger. Vier Terroristen fielen im Bus, einer außerhalb davon zu Boden.
»Vorwärts«, brüllte Capitaine Soubirou in sein Funkgerät. Wie ein Mann erhoben sich die Legionäre und stürmten geduckt nach vorne, während die MGs der AML die Stellungen der Somalier mit brutalem Dauerfeuer belegten.

Einer der GIGN Schützen schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte sein ´Ziel`, das sich außerhalb des Busses befand, nur ins Bein getroffen. Sofort ließ sich der Terrorist zu Boden fallen und robbte unter den Bus in Deckung, nur um drei Sekunden später auf der anderen Seite wieder zu erscheinen. Dort erhob er sich und rannte humpelnd und im Zickzack auf die Grenze zu. Während der ganzen Zeit behielt ihn der GIGN Schütze im Fadenkreuz. Er wartete auf eine zweite Chance. Und er betete, dass der Terrorist ´den` Fehler beging. Als hätte Gott sein Gebet erhört, hielt der Bandit eine halbe Sekunde in seinem wilden Lauf inne und drehte sich herum. Der GIGN Schütze zog langsam den Abzug durch. Der Terrorist war tot, bevor er hart zu Boden fiel. Die Männer der GIGN luden systematisch nach und nahmen jeden ins Visier, der von Somalia aus auf die Legionäre schoss, die auf die Grenze zu rannten. Unweit vom somalischen Grenzposten warfen sich die Legionäre in Stellung. Von dem Moment an gingen sie vor, wie ihre Zugführer es ihnen eingebläut hatten. Unentwegt schossen sie auf das dichte Laubwerk des Palmenhains, hinter dem der Feind kaum sichtbar agierte. Hundert Meter rechts von ihnen: gleiches Spiel. Dort waren Raouls Männer am Werke. Ihre Handgranaten krepierten im Sekundentakt im Der Autor bei der Ausbildung am FRF2 / Dschibuti, 1988.
Foto: © Thomas Gast
Grenzposten, und das so lange, bis das Feindfeuer schwieg und die plötzlich eintretende Stille Freund und Feind gleichermaßen verblüffte. Zwei der Terroristen waren noch am Leben als die Legionäre, Larkin allen voraus, den Bus stürmten. Einer davon, schwer verletzt, hatte noch Zeit, seine Waffe zu heben und sie auf die Geiseln zu richten, bevor Larkin ihm mit seiner MP Mat-49 den Gnadenstoß versetzte. Jorand, der den Bus mittlerweile von hinten betreten hatte, fand sich dem letzten überlebenden Terroristen gegenüber. Die Kugel eines Scharfschützen der GIGN hatte ihm das halbe Kinn weggerissen, doch er war bei vollem Bewusstsein und hellwach. Als ihre Blicke sich kreuzten, wurde beiden in derselben Sekunde klar, dass nur einer überleben durfte. Sie rissen ihre Waffe hoch, der Legionär aber zog als erster am Abzug. Seit dem Countdown der GIGN waren drei Minuten und fünfzehn Sekunden vergangen. Es war vorbei!

Ein Mädchen, Nadine Durand, starb noch vor Ort. Ein zweites Kind, Valérie Geissbuhler, wurde schwer verletzt. Sie erlag ihren Verletzungen kurz darauf im Pariser Militärhospital Val-de-Grâce. Fünf andere Kinder, der Fahrer und die Sozialarbeiterin wurden verletzt. Eines der Kinder verschleppte man nach Somalia. Es wurde später freigelassen. In den Reihen der Legionäre gab es einen Verwundeten. Noch im Feuer der somalischen Grenzsoldaten liegend, musste Leutnant Doucet vom Legionskrankenpfleger, dem Hauptgefreiten Grimberger, verarztet werden. Man sprach zu Recht nicht von einem Erfolg, dafür war der Tod der beiden Mädchen zu tragisch. Die zwei Jahre zuvor gegründete GIGN wurde jedoch mit einem Schlag berühmt.

Anmerkungen des Verfassers

Für den Bericht ´Das Geiseldrama von Loyada` habe ich lange und gründlich recherchiert. Fast alle Akteure - Capitaine (Hauptmann) Soubirou, Sergent-chef (Feldwebel) Jorand oder noch den Lieutenant (Leutnant) Doucet – sind persönlich bekannt. So war es mir ein leichtes, die in der Aktion geführten Dialoge etwa eins zu eins für den vorliegenden Text zu übernehmen. Mit der Waffe FRF1 habe ich unzählige Male geschossen, ja selbst Scharfschützenlehrgänge als Ausbilder damit durchgeführt. Sie schoss (es gibt inzwischen das Folgemodel, die FRF2) auf 600 Meter, bei besten Bedingungen – ein guter Schütze vorausgesetzt – punktgenau. Der hauptsächliche Unterschied zwischen dem FRF1 und dem FRF2 liegt im Kaliber: 7,5x54mm vs. 7,62x51mm NATO. Den Ort Loyada kenne ich durch meine Einsätze und Operationen in Dschibuti aus den Jahren 1988 bis 2002.

 

Quellen:

1  2. Régiment étranger de parachutistes – 2. Fallschirmjäger Fremdenregiment, stationiert in Calvi / Korsika – Camp Raffalli
2  Dorf an der Grenze (östlichster Teil Dschibutis) zu Somalia. Hier spielte sich das Drama ab
3  13. Demi-brigade de Légion étrangère - 13. Halbbrigade der Fremdenlegion, damals stationiert im Quartier-Général Monclar, (Dschibuti Stadt)
4  Groupe d'intervention de la Gendarmerie nationale - Eingreiftruppe der Nationalgendarmerie. Die GIGN (vergleichbar mit der deutschen GSG 9) ist eine Spezialeinheit der französischen Gendarmerie. Einsatzschwerpunkt: Die Terrorismusbekämpfung.

 

Über den Autor
Thomas Gast
Thomas Gast
Im Februar 1985 engagierte der Autor in der Fremdenlegion, wo er bis Anfang 2002 blieb. Nach der Legion war Thomas Gast lange Zeit in der Sicherheitsbranche tätig. Er arbeitete und lebte in Saudi Arabien (als Sicherheitsmitarbeiter – Klient: Delegation der Europäischen Kommission in Riad); Haiti (als Security- Country Manager – Klient: Delegation der Europäischen Kommission in Haiti); Israel (als stellvertretender Country Manager am ECTAO – European Commission Technical Assistance Office); Yemen (als Security- Teamleiter für Surtymar / YLNG – Yemen Liquefied Natural Gas); Rotes Meer – Golf von Aden – Arabische See (als Privately Contracted Armed Security Personnel (PCASP) bewacht der Autor seit Juni 2014 Schiffe vor Piratenangriffen. Sein Buch ´PRIVATE SECURITY` findet in der Sicherheitsbranche regen Zuspruch. Foto: Thomas Gast mit seiner Neuerscheinung PRIVATE SECURITY. © Thomas Gast
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