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Gefälschte Viagra-Tabletten: Unterschied in der Farbe, Konsistenz und im Wirkstoffgehalt.

Operation „Vigorali“

Internationale Zusammenarbeit der Polizei bei groß angelegter Arzneimittelfälschung in Europa

Von Werner Sabitzer

Der Online-Handel mit gefälschten Arzneimitteln ist ein lukratives Geschäft. Spezialisten des österreichischen Bundeskriminalamts ermittelten erfolgreich gegen eine europaweit agierende kriminelle Organisation.

 

Der Apotheker in Wien wunderte sich. Der Briefträger hatte ihm im September 2012 mehrere Luftpolsterkuverts überreicht, auf denen seine Apotheke als Absender angeführt war. Da der Brief unterfrankiert war, ging er an den Absender zurück. Der Apotheker konnte sich aber nicht erinnern, je einen solchen Brief aufgegeben zu haben. Er öffnete den Brief und fand darin Tablettenverpackungen (Blister) mit Potenzpillen. Der Apotheker wandte sich an die „Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit“ (AGES). Dort stellten Experten fest, dass sich in den Potenzpillen nicht der behauptete Wirkstoff befand. Auch in andere Apotheken kamen Paketbriefe wegen Unterfrankierung zum „Absender“ zurück.

Kriminalisten des Bundeskriminalamts begannen mit Ermittlungen wegen Betrugs, Arzneimittelfälschung und wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Die ersten Ermittlungen und Einvernahmen ergaben folgendes Bild: Eine europaweit aktive Organisation bot über viele Webshops Arzneimittel an, vor allem Potenzmittel wie Viagra, Cialis und Levitra – sowohl als Originalprodukte als auch als Generika. Vertrieben wurden auch illegale Schlankheitspräparate. Tausende Kunden in Österreich bestellten die hierzulande verschreibungspflichtigen Arzneimittel. Geliefert wurde per Post. Um den Sendungen einen seriösen Charakter zu geben, wurden als Absender Apotheken in Österreich angegeben. Als die Post die Tarife änderte und für dickere Briefe unabhängig vom Gewicht ein höheres Porto vorsah, übersahen das die Pillenhändler – und viele Briefe gingen, weil sie unterfrankiert waren, an den vermeintlichen Absender zurück. Nach und nach kamen die Ermittler den illegalen Arzneimittelhändlern auf die Spur, beschlagnahmten Briefe, befragten Kunden und forschten die ersten Verdächtigen aus.

 

Joint Investigation Team

Auch in anderen europäischen Ländern wurden Ermittlungen wegen Onlinehandels mit gefälschten Arzneimitteln eingeleitet. Die Polizei in Alicante, Spanien, bildete eine Sonderkommission mit der Bezeichnung „Vigorali“, einer Zusammensetzung aus den Wörtern „vigor“ (Kraft) und „Alicante“. In Spanien wurden 6.000 gefälschte Sichergestellte gefälschte Arzneimittel: In fast allen untersuchten Pillen war der Wirkstoff nicht oder kaum vorhanden.Arzneimittel sichergestellt und bei Verdächtigen Kundenlisten aus Österreich entdeckt. Daraufhin kooperierten die Ermittler des Bundeskriminalamts mit den Kollegen in Spanien und mit anderen Ländern, koordiniert von Europol und Eurojust in Den Haag.

Im Bundeskriminalamt wurde am 1. Februar 2014 die Sonderkommission „Vigorali“ eingerichtet und im März 2014 wurde eine gemeinsame Ermittlungsgruppe (Joint Investigation Team – JIT) gebildet – mit Ermittlern aus Großbritannien, Frankreich und Spanien unter Beteiligung von Europol und Eurojust. Die Ermittlungsarbeit wurde aufgeteilt. Die französischen Kollegen versuchten, die Betreiber der etwa 200 Online-Shops zu eruieren und Zusammenhänge herzustellen. Die Ermittler in Großbritannien versuchten, die Zahlungsflüsse der kriminellen Organisation offenzulegen. In Deutschland und Österreich ermittelten die Kriminalisten bezüglich der Hintermänner und Mitglieder der Organisation.

In einem Europol-„Action Day“ am 1. September 2014 erfolgte in Österreich, Ungarn und Großbritannien zeitgleich der Zugriff auf Mitglieder der kriminellen Organisation. Zoll- und Finanzermittler sowie Mitarbeiter der AGES unterstützten die Polizisten. In Österreich und Ungarn gab es 20 Hausdurchsuchungen. Dabei wurden ca. 130.000 Euro Bargeld und 1,5 Millionen gefälschte Tabletten entdeckt. Acht Verdächtige wurden festgenommen. 15 Bankkonten wurden eingefroren, davon drei in Österreich, drei in Zypern, sieben in der Slowakei und je eines in Operation Vigorali: Bis Mitte Oktober 2014 wurden in Österreich zwei Millionen gefälschte Arzneimittel sichergestellt.Ungarn und Belgien. Auf den Konten wurde eine Million Euro sichergestellt. Diese Ermittlungen werden von Spezialisten der Vermögenssicherung des .BK geführt. In Großbritannien wurden 49 Bankkonten gesperrt.

Europol stellte dem JIT mobile Testgeräte zur Verfügung, mit denen die Zusammensetzung sichergestellter Pillen rasch durch eine Dichteanalyse festgestellt werden konnte.

In Österreich wurden bis zum Zugriff am 1. September 20.000 Briefe von der Polizei abgefangen. In den Kuverts befanden sich rund 300.000 gefälschte Arzneimittel. Die Kunden bezahlten dafür drei Millionen Euro. Die Pillen wurden in Blister-Packungen ohne Beipackzettel verschickt.

Nachdem die ersten Briefe sichergestellt worden waren, beschwerten sich Kunden bei den Onlinehändlern. Diese änderten die Taktik. Die Briefe wurden nicht mehr in Österreich mit gefälschtem Absender aufgegeben, sondern von Deutschland und der Slowakei aus.

 

Hohe Gewinnspanne

Die kriminelle Organisation machte hohe Profite. Die Arzneimittel wurden für zwei bis drei Cent pro Pille bei Herstellern in Asien erworben, nach Europa verschifft und von Lagern aus an die Kunden versandt. Die Endverbraucher bezahlten bis zu 20 Euro pro Pille. Angeboten wurde die Ware über etwa 200 Webshops mit seriös klingenden Internetadressen wie www.apotheke-austria.com.

Hergestellt werden die Pillen in Untergrundfabriken in China und Indien – meist unter widrigsten Umständen in Blechdachhütten. Es gibt keine Qualitätskontrolle, das verwendete Wasser ist verschmutzt und in den gefälschten Tabletten befinden sich die angegebenen Wirkstoffe nicht oder nur in geringen Mengen. Mitunter ist eine mehrfache Menge des Wirkstoffs beigemischt – was etwa bei einem herzkranken Konsumenten zum Tod führen kann. Die Organisation ging arbeitsteilig vor, beschäftigte Spediteure und Lieferanten sowie Personen, die nur für das Abpacken, die Adressierung und den Versand an die Kunden zuständig waren. Die in Österreich agierenden Mittäter übernahmen die gefälschten Arzneimittel von einer Spedition und waren für die Verpackung und den Versand via Slowakei, Deutschland und Österreich verantwortlich. Von einem unbeteiligten Papierwarenhandel wurden im Monat durchschnittlich 5.000 Kuverts für die Versendung der gefälschten Arzneimittel bezogen. Mitglieder der Organisation gründeten Firmen, um die Einnahmen zu verschleiern.

 

Kundenprofil

Die Kunden waren überwiegend männlich, auch junge Männer bestellten Potenzmittel. Eine Kundin berichtete den Ermittlern, sie habe Viagra-Pillen für ihren Mann bestellt und wollte sie ihm heimlich in die Marmelade mischen. Beschwerte sich ein Kunde über die im Webshop angegebene Telefonnummer mit der Landesvorwahl, wurde er automatisch in ein Call-Center in Odessa weitergeleitet. Die Ermittler stellten fest, dass fast alle Telefonnummern der Webshops in diesem Call-Center landeten.

Bis Mitte Oktober 2014 wurden in Österreich zwei Millionen gefälschte Arzneimittel sichergestellt. Den Tätern wurden aus dem illegalen Handel in den vergangenen zwei Jahren Einnahmen in der Höhe von mindestens zwölf Millionen Euro nachgewiesen. „Wir nehmen an, dass es sich um mindestens doppelt so viele Einnahmen handelt“, sagt Chefinspektor Franz Schwarzenbacher. Die Erlöse wurden in Unternehmen und Organisationen in England verschleiert und nach Israel überwiesen. Rechtshilfeersuchen nach Israel blieben bisher unbeantwortet. Beim „Action Day“ am 1. September 2014 wurde in Wien auch der Kopf der österreichischen Tätergruppe, ein 44-jähriger Mann, festgenommen. Er hatte sich im Ausland aufgehalten und war für eine Familienfeier nach Wien gereist.

Der Schlag gegen die Arzneimittelfälschung war „eine kriminalistische Spitzenleistung der Beamten der Sonderkommission“, betont Mag. Andreas Holzer, Leiter des Büros 3.1 (Organisierte Kriminalität) im Bundeskriminalamt. Die Ermittlungen werden fortgesetzt, weitere Mittäter befinden sich im Visier der Sonderkommission.

 

Gesundheitsgefährdung

Ein Teil der sichergestellten Tabletten wurde von Spezialisten der AGES analysiert. In keiner der Proben entsprach der Wirkstoffgehalt der angegebenen Menge. In fast allen untersuchten Pillen war der Wirkstoff nicht oder nur in einer zu geringen Menge vorhanden. In einigen Fällen wurde den Pillen ein anderer Wirkstoff beigemischt.

Laut dem Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) sind 95 Prozent der im Internet vertriebenen Arzneimitteln Fälschungen oder minderwertige Produkte. Falsche Dosierungen können schwere Nebenwirkungen verursachen und sogar zum Tod führen.

Bilder: Bundeskriminalamt Österreich

 

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