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Eine Chance zur Verbesserung der Verkehrssicherheit in Deutschland

Entscheidung durch Beschluss im gerichtlichen Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren § 72 OWiG

Von PD Stefan Pfeiffer, DPolG-Kommission Verkehr1

„Die Verkehrsmoral lässt in vielen Fällen leider immer noch sehr zu wünschen übrig.“ So lautete das Fazit des Bayerischen Innenministers Joachim Herrmann zur Veröffentlichung der Jahresstatistik 2017 des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes (PVA)2. Das PVA ist als zentrale Behörde des Freistaates Bayern insbesondere immer dann zuständig, wenn es um die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten geht, die im Straßenverkehr begangen werden.3 Dabei ist erwähnenswert, dass in Bayern Gemeinden im Rahmen der kommunalen Verkehrsüberwachung Verkehrsordnungswidrigkeiten (VOWi), die im ruhenden Verkehr festgestellt werden und Verstöße gegen die Vorschriften über die zulässige Geschwindigkeit von Fahrzeugen, selbst verfolgen und ahnden können.4 Die Gemeinden haben jährliche Meldepflichten5 (Anzahl Verwarnungen, Bußgeldbescheide, Fahrverbote und Verfahrenseinstellungen) gegenüber dem Bayerischen Innenministerium. In die o. g. Statistik des PVA fließen nur die sogenannten übergeleiteten Verfahren ein6. Dabei handelt es sich um Bußgeldverfahren, die zur Verfolgung von der kommunalen Verkehrsüberwachung an das PVA weitergegeben werden. Dies waren 2017 ca. 35.0006, wobei eine stark abnehmende Tendenz zu verzeichnen ist, da die Gemeinden als eigentliche Verfolgungsbehörde letztendlich für die Verfolgung und Ahndung der festgestellten VOWi’en verantwortlich sind und die Verwarnungs- und Bußgelder zur kostendeckenden Finanzierung der Verkehrsüberwachungsmaßnahmen benötigt werden. Mit Blick auf stark variierende Regelungen in anderen Bundesländern ist für Bayern somit ein auch für andere Landesteile Deutschlands repräsentatives jährliches Lagebild vorhanden.

2017 wurden in Bayern mehr als 2,65 Millionen VOWi’en infolge polizeilicher Überwachungsmaßnahmen festgestellt. Dabei lässt der zunehmende Anteil von Bußgeldbescheiden mit Fahrverboten, deren Gesamtzahl auf 67.606 anstieg, aufhorchen. Im Bereich der technischen Verkehrsüberwachung resultierten 1.188.526 Verfahren auf Geschwindigkeitsübertretungen. Das entspricht knapp der Hälfte aller in diesem Jahr in Bayern begangenen VOWi‘en. 52,9 % der im Zusammenhang mit Bußgeldbescheiden verhängten Fahrverbote ging auf das Konto von Rasern.2 Unfälle durch nicht angepasste Geschwindigkeit haben nach wie vor die schlimmsten Unfallfolgen. 2017 kamen bundesweit 1.077 Menschen bei Geschwindigkeitsunfällen ums Leben, 60.079 wurden verletzt. Damit starb in Deutschland mehr als jeder dritte aller im Straßenverkehr Getöteten wegen nicht angepasster Geschwindigkeit.7

Die Entscheidungen des PVA werden überwiegend von den Betroffenen akzeptiert. Die Einzahlungsquote bei Verwarnungen stieg 2017 auf 87,92 %. Die Einspruchsquote gegen Bußgeldbescheide betrug nur mehr 6,31 %. Sicherlich hat dazu die durch die digitale Technik verbesserte Qualität der Beweisfotos beigetragen.2 Trotz dieser positiven Entwicklung werden bundesweit die personellen Ressourcen der Polizei durch Zeugenladungen im gerichtlichen Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren nach wie vor erheblich belastet. Dies nicht selten auf Kosten der Verkehrssicherheit, da die Kolleginnen und Kollegen, die als Zeugen vor Gericht auftreten müssen, für ihre eigentlichen Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stehen.

Dabei spielen Rechtsschutzversicherungen und teilweise schon auf Einsprüche gegen Verkehrsordnungswidrigkeiten spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien eine entscheidende Rolle. Das geht soweit, dass Kanzleien ihren potentiellen Kunden anbieten, deren Selbstbehalte an die Rechtsschutzversicherung zu übernehmen, so dass die Betroffenen von eventuell anfallenden Rechtsanwalts- bzw. Verfahrenskosten befreit, völlig risikolos einem eventuell auch erfolglosen Einspruchsverfahren entgegensehen können. Ein Blick ins Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) zeigt schnell, warum für eine Kanzlei die Initiierung eines, ohne Aussicht auf Erfolg erhobenen Widerspruchs (dieser bedarf zunächst keiner Begründung) interessant ist. Wenn man nur die Hälfte der dort möglichen Berechnungssätze zu Grunde legt, stehen dem Rechtsanwalt bei einer Einspruchsrücknahme während der ersten Verhandlung 690 € zu. Zieht er den Einspruch per Fax am Verhandlungstag zurück und es fallen Fahrtkosten (ausgehend von 50 Kilometer à 0,30 €) und das Tagegeld weg, verbleiben immer noch 640 €.8 Derartige Berechnungen sind im Internet für jeden schnell durchzuführen.9 Die Folgen für geschriebene Dienstpläne, geladene und nicht selten schon vor dem Gerichtssaal stehende Kolleginnen und Kollegen liegen auf der Hand. So wurden beispielsweise 2017 die zehn im technischen Geschwindigkeitsüberwachungsdienst tätigen Mitarbeiter einer großen bayerischen Verkehrspolizeiinspektion insgesamt 273 mal als Zeugen zum Gericht vorgeladen und davon 221 Verhandlungen (81 %) wegen Einspruchsrücknahme vor der ersten mündlichen Verhandlung abgesagt.10 Wenn man dann noch die Vielzahl der Einspruchsrücknahmen gleich zum Verhandlungsbeginn (also bereits vor der Vernehmung eines Zeugen) dazurechnet, bleiben letztendlich nur wenige wirklich verhandelte Einsprüche übrig. Grundsätzlich kann man sagen, dass etwa ein Drittel der wöchentlichen Arbeitszeit (in Bayern 40 Stunden) der im Bereich der technischen Verkehrsüberwachung eingesetzten Polizeikräfte im Zusammenhang mit gerichtlichen Ladungen aufgebraucht wird. Wenn man gleichzeitig weiß, dass mit Vorbereitung, An- und Rückfahrt, Aufbau und Abbau der notwendigen Technik je nach Entfernung und örtlicher Beschaffenheit der Messstelle bis zu zwei Stunden kalkuliert werden müssen, wird klar, wie wenig Zeit für den eigentlichen Messbetrieb letztendlich übrig bleibt.

Die Erkenntnis, dass Überwachung und Sanktion von Geschwindigkeitsverstößen auch eine erhebliche präventive Wirkung auf die Verkehrsteilnehmer haben, macht deutlich, dass die wegen anderer Aufgaben nicht genutzten Messzeiten der Verkehrssicherheit in Deutschland schaden. Bei, je nach Messstelle, teilweise mehreren hunderten Beanstandungen pro Messzeit kann das Messpersonal nur in Ausnahmefällen etwas zum Einzelverstoß sagen. Also beschränkt sich der Aussagewert vor Gericht letztendlich auf die Protokollierung des Aufbaus der Messstelle, ggf. auf die Protokollierung der ordnungsgemäß aufgestellten Verkehrszeichen vor der Kontrollörtlichkeit vor und nach Messbeginn sowie den Eichschein für die Messanlage und den Qualifikationsnachweis für die jeweilige Messkraft.

Von den Amtsgerichten wird nur selten oder gar nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, nach einem Einspruch im straßenverkehrsrechtlichen OWi-Verfahren durch schriftlichen Beschluss statt durch mündliche Verhandlung zu entscheiden. Das sogenannte Beschlussverfahren nach § 72 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG), in dem nach Einspruch des Betroffenen ohne Hauptverhandlung entschieden wird, soll eine Entlastung der Gerichte für einfach gelagerte Bußgeldsachverhalte ermöglichen, ohne den verfassungsrechtlichen Anspruch des Betroffenen auf Gewährung des rechtlichen Gehörs über Gebühr zu kürzen. Knapper werdende personelle und sachliche Ressourcen bei Justiz und Polizei sprechen dafür, bei einfach gelagerten Verstößen diesem schriftlichen Beschlussverfahren den Vorzug vor einer mündlichen Verhandlung zu geben.

Das Beschlussverfahren nach § 72 OWiG setzt voraus, dass der Betroffene auf Hinweis des Amtsgerichts (AG) damit ausdrücklich einverstanden ist.11 Befragt man dazu Richter, ist deren übereinstimmende Erfahrung, dass diesem Verfahren regelmäßig durch den Betroffenen oder seinem Verteidiger widersprochen wird, so dass viele Gerichte von vornherein aus Gründen der Arbeitsökonomie auf diese Möglichkeit verzichten. Unverständlich ist dies umso mehr, wenn man weiß, dass ein wesentlicher Vorteil des Beschlussverfahrens das sogenannte Verschlechterungsverbot ist, wonach das Gericht mit seinem Beschluss nicht von der im Bußgeldbescheid getroffenen Entscheidung zum Nachteil des Betroffenen abweichen darf.12

Die Entscheidung des AG ist also für den Verteidiger und seinen Mandanten kalkulierbar. Diese kann für den Betroffenen positiver ausfallen, verschlechtern im Vergleich zum Bußgeldbescheid kann sie sich nicht. Ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot eröffnet die Rechtsbeschwerde. Der Betroffene kann dann argumentieren, dass dieses Verfahren nicht von seinem Einverständnis gedeckt war.13 Es darf beispielsweise im Beschluss kein Fahrverbot verhängt werden, wenn dieses nicht schon Gegenstand des Bußgeldbescheids war.14 Anders sieht es aus, wenn der Betroffene oder sein Beauftragter einem Beschlussverfahren beispielsweise unter der Voraussetzung zustimmt, dass das Bußgeld verdoppelt, dafür im Gegenzug aber auf ein Fahrverbot verzichtet wird. Entscheidet das Gericht sich dann dafür, das Beschlussverfahren durchzuführen, muss es sich an die Voraussetzungen für das bedingte Einverständnis des Betroffenen halten.15 Natürlich kann der Amtsrichter durch Beschluss das Verfahren auch einstellen oder das Bußgeld verringern. Gegen den Beschluss steht dem Betroffenen die Möglichkeit der Rechtsbeschwerde offen. Deren Zulässigkeit richtet sich nach § 79 OWiG. Sie kommt vor allem in Betracht, wenn die gegen den Betroffenen festgesetzte Geldbuße mehr als 250 Euro beträgt bzw. ein Fahrverbot verhängt worden ist.16

Die Suche nach Gründen für die geringe Bereitschaft der Entscheidung durch Beschluss zuzustimmen, führt zwangsläufig zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz und dem bereits thematisierten finanziellen Anreiz, das Widerspruchsverfahren bis zur mündlichen Verhandlung zu betreiben. Dies obwohl das RVG für den Verteidiger eine sognannte Befriedungsgebühr in Höhe der jeweiligen Verfahrensgebühr vorsieht, wenn das Gericht nach § 72 OWiG durch Beschluss entscheidet.17 Dies gilt auch, wenn nach einer bereits durchgeführten Hauptverhandlung noch ins Beschlussverfahren übergegangen wird.18

Abschließend bleibt festzuhalten, dass Justiz und Polizei zeitlich und personell im erheblichen Umfang durch die Abarbeitung von Einspruchsverfahren in Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren belastet werden, die vom Grundsachverhalt einfach gelagert und unstrittig sind. Durch die oben dargestellte, im Grunde vermeidbare Ressourcenbindung wird der Verkehrssicherheit in Deutschland massiv geschadet. Zielführend wäre die konsequente Anwendung des § 72 OWiG bei einfach gelagerten Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren, der den Amtsgerichten die Möglichkeit einer Entscheidung im Beschlussverfahren eröffnet. Hierzu bedarf es des Einverständnisses des Betroffenen oder seines Beauftragten, das derzeit nur selten erteilt wird.

 

Quellen:

1 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der Folge grundsätzlich die gewohnte männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral verstanden werden.
2  Bayerns Polizei Ausgabe 3/2018 S. 33 ff.
3  § 91 Zuständigkeitsverordnung vom 16. Juni 2015 (GVBl. S. 184) BayRS 2015-1-1-V
4  § 88 Abs. 3 Zuständigkeitsverordnung vom 16. Juni 2015 (GVBl. S. 184) BayRS 2015-1-1-V
5 Nr. 1.16 Verfolgung und Ahndung von Verstößen im ruhenden Verkehr sowie von Geschwindigkeitsverstößen durch Gemeinden; Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministerium des Inneren vom 12.05.2006 Az.: IC4-3618.3011-13
6  Quelle: PVA
7  Statistischen Bundesamt, Unfallentwicklung auf deutschen Straßen 2017, Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 12.07.2018 in Berlin, Ziffer 3
8  Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vom 5. Mai 2004 (BGBl. I S. 718, 788), zuletzt geändert durch Artikel 8 des Gesetzes vom 17. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2573).
9  z.B. https://www.rechtsanwaltsgebuehren.de/Berechnen/Bussgeld.html
10
 Quelle: Statistische Erhebung des Verfassers
11  § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG, vgl. dazu näher Müller, Dieter, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten – Kommentar, Luchterhand Verlag, § 72 Rn. 1 S. 5.
12  § 72 Abs. 3 Satz 2 OWiG, vgl. zu dem Verbot der „reformatio in peius“ näher Müller (Fn. 11), a.a.O., Rn. 3 S. 9.
13  § 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 OWiG, Göhler, a.a.O., § 72 Rn. 76
14  https://www.iww.de/va/archiv/hauptverhandlung-was-sie-vom-beschlussverfahren-nach-72-owig-wissen-muessen-f46589
15
 Vgl. Oberlandesgericht Zweibrücken Az. 1 Ss 3/08 vom 14.01.2008 und OLG Düsseldorf NJW 1990, 1059 und Göhler/Seitz, OWiG 14, Aufl. § 72 Rn. 22, jeweils m.w.N.
16  § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 OWiG; https://www.iww.de/va/archiv/hauptverhandlung-was-sie-vom-beschlussverfahren-nach-72-owig-wissen-muessen-f46589
17
https://www.iww.de/va/archiv/hauptverhandlung-was-sie-vom-beschlussverfahren-nach-72-owig-wissen-muessen-f46589; wegen der Einzelh. s. Burhoff/Burhoff, RVG Straf- u. Bußgeldsachen, 2 Aufl., 2007, Nr. 5115VV Rn. 38 ff.
18  LG Cottbus zfs 07, 529; AG Dessau AGS 3006,240, AG Köln AGS 2007, 621=NVZ 2007, AG Saarbrücken AGS 2010,20

 

Über den Autor
Stefan Pfeiffer
Stefan Pfeiffer
Polizeidirektor Stefan Pfeiffer, Einstellungsjahr 1985 im mittleren Dienst, ist seit 2008 Leiter der Verkehrspolizeiinspektion Feucht und Mitglied der Fachkommission Verkehr der Deutschen Polizeigewerkschaft.
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