Rechtsextremismus und rechtsextremistischer Terrorismus in Deutschland
Eine Bedrohung für die Innere Sicherheit
Von Dr. Stefan Goertz, Bundespolizei, Hochschule des Bundes
Nicht erst die zahlreichen Morde der rechtsextremistisch-terroristischen Organisation Nationalsozialistischer Untergrund (NUS) sowie der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und der rechtsextremistisch-terroristische Anschlag in Halle verdeutlichen die Bedrohung, die von Rechtsextremismus und rechtsextremistischem Terrorismus aktuell und zukünftig für die Innere Sicherheit Deutschlands ausgehen. Einführend wird zunächst die rechtsextremistische Ideologie untersucht sowie die Definition von rechtsextremistischem Terrorismus durch die Verfassungsschutzbehörden dargelegt.
Als Fallbeispiele für den Übergang von Rechtsextremismus zu rechtsextremistischem Terrorismus werden Gruppierungen wie „Revolution Chemnitz“, „Gruppe Freital“, „Nordadler“, „Oldschool Society“ (OSS), „Freie Kameradschaft Dresden“ (FKD), „Kameradschaft Aryans“ und „Weisse Wölfe Terrorcrew“ (WWT) untersucht. Abschließend werden die rechtsextremistisch-terroristische Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), der mutmaßlich rechtsextremistisch-terroristische Mord am CDU-Politiker und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie der rechtsextremistisch-terroristische Anschlag in Halle analysiert.
Die rechtsextremistische Ideologie
Nach Auffassung des Bundesamtes für Verfassungsschutz stellt der Rechtsextremismus in Deutschland kein einheitliches Phänomen dar, sondern tritt in verschiedenen Ausprägungen chauvinistischer, rassistischer und antisemitischer Ideologieelemente hervor, woraus sich unterschiedliche Zielsetzungen ableiten.1 Im Rechtsextremismus herrscht die Auffassung vor, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation über den Wert eines Menschen entscheide. Gemäß der rechtsextremistischen Ideologie einer „Volksgemeinschaft“ sollen die staatlichen Führer nach dem vermeintlich einheitlichen Willen des Volkes handeln, so dass entscheidende Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie zum Beispiel das Recht der Bevölkerung, die Staatsgewalt durch Wahlen zu legitimieren oder das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition fehlen.2 Weitere Ideologieelemente von Rechtsextremismus sind Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus, verbunden mit einer Verherrlichung des Nationalsozialismus.
Zusammengefasst: Rechtsextremismus besteht aus verschiedenen Ideologieelementen wie Rassismus, Antisemitismus, Autoritarismus und Antipluralismus und stellt damit den Gegenentwurf zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung Deutschlands dar.3
Definition von rechtsextremistischem Terrorismus durch die Verfassungsschutzbehörden
„Der Terrorismus-Begriff der deutschen Verfassungsschutzbehörden unterscheidet sich von der strafrechtlichen Definition: Während der Terrorismus-Begriff im strafrechtlichen Sinne – zumindest in Bezug auf ‚terroristische Vereinigungen‘ gemäß § 129a Strafgesetzbuch (StGB) – eine relativ enge Konkretisierung erfährt, ist dieser im Verfassungsschutzverbund weiter gefasst.
Die Verfassungsschutzbehörden verstehen unter rechtsextremistischem Terrorismus den nachhaltig geführten Kampf von Rechtsextremisten für politische Ziele. Diese sollen mithilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer durchgesetzt werden, insbesondere durch schwere Straftaten, wie sie in § 129a Abs. 1 StGB genannt sind, oder durch andere Straftaten, die zur Vorbereitung solcher Straftaten dienen. […] Die Übergänge von gewaltorientiertem Rechtsextremismus in den rechtsextremistischen Terrorismus können fließend sein. Die Beobachtung des gewaltorientierten Rechtsextremismus ist daher für die Verfassungsschutzbehörden von besonderer Bedeutung. Zeigen sich Ansätze für eine rechtsextremistisch-terroristische Ausprägung, etwa konkrete Anzeichen für die Planung einer schweren Gewalttat oder eines terroristischen Anschlags, erfolgt eine engmaschige intensive Bearbeitung als Gefährdungssachverhalt. In der Vergangenheit konnten hierdurch Anschlagsplanungen vereitelt und operative Erfolge im Zusammenspiel der Sicherheitsbehörden erzielt werden.“4
Beispiele für den Übergang von Rechtsextremismus zu rechtsextremistischem Terrorismus
Trotz des Rückganges der Bedeutung von rechtsextremistischer Anti-Asyl-Agitation seit 2017 zeigten die Ereignisse in Chemnitz (Sachsen) und Köthen (Sachsen-Anhalt) nach Auffassung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, dass rechtsextremistische Anti-Asyl-Agitation weiterhin ein hohes Mobilisierungspotenzial besitzt, das hohes Potenzial für Emotionalisierung, Mobilisierung und Gewalt aufweist. Nach einem von Asylbewerbern verübten Tötungsdelikt in Chemnitz am 26. August 2018 kam es dort zu Anti-Asyl-Protesten. Ein von Asylbewerbern begangenes Körperverletzungsdelikt am 8. August2018, infolgedessen ein Deutscher verstarb, war in Köthen Anlass für asylfeindliche Demonstrationen.5 Das Bundesamt für Verfassungsschutz bewertet die Geschehnisse in Chemnitz und Köthen als Gefahrenpotenzial dafür, dass sich gewaltorientierte Rechtsextremisten radikalisieren und Gewalttaten begehen. So riefen viele rechtsextremistische Beiträge in sozialen Netzwerken unterschwellige oder offen zu Gewalt auf („Gegenwehr“). Dass solche Radikalisierungsverläufe bis zur Bildung rechtsextremistisch-terroristischer Gruppierungen führen zeigt der polizeiliche Zugriff auf mutmaßliche Mitglieder einer rechtsextremistisch-terroristischen „Bürgerwehr“ in Chemnitz, die verdächtig waren, eine terroristische Gruppierung unter der Bezeichnung „Revolution Chemnitz“ gegründet zu haben.6 Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ermittelt augenblicklich wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a Strafgesetzbuch (StGB) gegen die rechtsextremistisch-terroristische Gruppierung „Revolution Chemnitz“, die der Hooligan- und Neonaziszene in Chemnitz angehören soll. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht innerhalb dieser als „Bürgerwehr“ auftretenden Gruppierungen Ansätze für rechtsextremistisch-terroristische Potenziale. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die rechtsextremistisch-terroristische „Gruppe Freital“. So verkündete der vierte Strafsenat des Oberlandesgerichtes Dresden am 7. März 2018 nach einjährigem Prozess das Urteil im Strafverfahren gegen Mitglieder der rechtsextremistisch-terroristischen „Gruppe Freital“. Acht Angeklagte im Alter von 20 bis 40 Jahren wurden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit versuchtem Mord, Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, versuchter gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu Haftstrafen zwischen vier und zehn Jahren verurteilt.7 Alle angeklagten Mitglieder der rechtsextremistisch-terroristischen „Gruppe Freital“ hatten sich bei den Protesten gegen eine Asylbewerberunterkunft im Sommer 2015 in Freital (Sachsen) kennengelernt und innerhalb kürzester Zeit zur „Gruppe Freital“ zusammengeschlossen, um schwere Straf- und Gewalttaten zu verüben.
Das Landgericht Dresden verurteilte am 31. August 2018 einen 31-jährigen rechtsextremistischen Terroristen wegen versuchten Mordes, versuchter besonders schwerer Brandstiftung und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion zu einer Haftstrafe von neun Jahren und acht Monaten. Er hatte am 26. September 2016 in Dresden Rohrbomben an der Fatih-Camii-Moschee und im Außenbereich des Internationalen Congress Centers in Dresden gezündet, Personen waren nicht verletzt worden, jedoch befand sich der Imam der Moschee mit seiner Familie zum Tatzeitpunkt im Gebäude. Das Landgericht Dresden sah in seinem Urteil das Tatmotiv im Hass gegen Ausländer sowie in einer rassistischen menschenverachtenden Einstellung begründet.8 Dieser Fall von rechtsextremistischem Terrorismus durch Einzeltäter ist nach Auffassung der Verfassungsschutzbehörden ein nicht untypisches Beispiel für Radikalisierungsprozesse von Einzelpersonen aus einem diffusen fremden- und asylfeindlichen Spektrum, die bis zur Begehung von schweren Straf- und Gewalttaten reichen können. Auch verdeutlicht dieser Fall, dass derartige Radikalisierungsprozesse nicht zwangsläufig durch die Einbindung in die rechtsextremistische Szene ausgelöst werden und eine organisatorische Zugehörigkeit zu einer rechtsextremistischen Gruppierung hierfür nicht zwingend notwendig sein muss.9
Auch das Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts gemäß §129a StGB gegen eine mutmaßlich rechtsextremistisch-terroristische Gruppe mit der Bezeichnung „Nordadler“ belegt die Annahme der deutschen Verfassungsschutzbehörden, dass sich rechtsextremistisch-terroristische Ansätze außerhalb etablierter rechtsextremistischer Organisationen und Strukturen bilden können. Am 17. April 2018 durchsuchte die Polizei in Bremen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen die Wohnungen von vier Beschuldigten der Gruppe „Nordadler“. Im Internet sollen sich diese über die Beschaffung von militärischen Ausrüstungsgegenständen 10
und Waffen sowie über die Herstellung von Sprengkörpern ausgetauscht haben. Daneben werden die Beschuldigten verdächtigt, Personenlisten über politisch Verantwortliche sowie politische Gegner angelegt zu haben.Das Oberlandesgericht München verurteilte im März 2017 vier Mitglieder der rechtsextremistisch-terroristischen „Oldschool Society“ (OSS) wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB zu Haftstrafen zwischen drei und fünf Jahren. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, dass die „Oldschool Society“ darauf ausgerichtet war, Menschen ausländischer Herkunft mittels Gewalt aus Deutschland zu vertreiben. Dazu seien Sprengstoffanschläge auf Asylbewerberunterkünfte geplant gewesen und die rechtsextremistisch-terroristische Vereinigung hätte den Tod möglicher Opfer bei der Durchführung ihrer Pläne billigend in Kauf genommen, das Urteil ist rechtskräftig.11
Am 27. April 2017 erhob der Generalbundesanwalt Anklage vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden gegen zwei weitere mutmaßliche Mitglieder der rechtsextremistisch-terroristischen „Oldschool Society“. Diesen wurden ebenfalls die Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB sowie die Vorbereitung eines Explosionsverbrechens gemäß § 310 StGB vorgeworfen. Gemeinsam mit Mitgliedern der rechtsextremistisch-terroristischen „Oldschool Society“ sollen sie im Mai 2015 einen Sprengstoffanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Borna (Sachsen) geplant haben. Daraufhin fand am 6. Mai 2015 ein polizeilicher Zugriff gegen die Gruppe statt, der eine Ausführung des rechtsextremistisch-terroristischen Plans vereitelte.12
Das Landgericht Dresden verurteilte am 24. August 2017 zwei Mitglieder der rechtsextremistischen „Freien Kameradschaft Dresden“ (FKD) wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion zu Haftstrafen von jeweils drei Jahren und acht Monaten. Beide Rechtsextremisten wurden für schuldig befunden, aktive Mitglieder der „Freien Kameradschaft Dresden“ gewesen zu sein und sich in diesem Zusammenhang an gezielten und vorab geplanten Gewalttaten gegen Asylbewerber und politische Gegner beteiligt zu haben. Die rechtsextremistische „Freie Kameradschaft Dresden“ ist mittlerweile aufgelöst.13
Eine weitere rechtsextremistische Gruppierung, bei der zumindest Ansätze für Gewalt zu erkennen sind, ist die „Kameradschaft Aryans“. Um bei Treffen oder in der Öffentlichkeit einheitlich aufzutreten, tragen Mitglieder der „Aryans“ Kleidungsstücke mit dem Logo der Gruppierung, einem Reichsadler mit schwarz-weiß-roten Schwingen und dem Schriftzug „Aryans“ in einem Lorbeerkranz. Bei der „Kameradschaft Aryans“ handelt es sich um eine überregional agierende, dem gewaltorientierten Neonazi-Spektrum zuzurechnende Gruppierung.14
Bereits im Verfassungsschutzbericht des Jahres 2016 hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz vor einer „weiterhin virulenten Gefahr rechtsterroristischer Potenziale, die sich vor allem im Kontext der AntiAsylAgitation zeigen“ gewarnt.15 So verbot der Bundesminister des Innern am 16. März 2016 die rechtsextremistisch-terroristische „Weisse Wölfe Terrorcrew“ (WWT). Die „Weisse Wölfe Terrorcrew“ lief nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider und richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung Deutschlands. Die Mitglieder der im Jahr 2008 erstmals in Erscheinung getretenen und später bundesweit aktiven Gruppierung waren durch NeonaziPropaganda und Gewaltstraftaten aufgefallen. So hatte die „Weisse Wölfe Terrorcrew“ auf dem Höhepunkt ihrer Ausbreitung 70 bis 100 größtenteils gewaltbereite Mitglieder in zehn Bundesländern. Aus alltäglichen Situationen heraus kam es bei der „Weisse Wölfe Terrorcrew“ immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen beispielsweise auf Menschen mit Migrationshintergrund, (vermeintliche) Angehörige der linksextremistischen Szene und Polizeibeamte.16
Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) – eine rechtsextremistisch-terroristische Gruppierung
17 Das Oberlandesgericht München stellte im Fall der Hauptangeklagten Zschäpe zudem die besondere Schwere der Schuld fest, womit eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren rechtlich zwar möglich, in der Praxis aber so gut wie ausgeschlossen ist. Eine Sicherungsverwahrung im Anschluss an ihre Haftstrafe, wie von der Bundesanwaltschaft gefordert, ordnete das Gericht nicht an.18
Der Nationalsozialistische Untergrund war eine rechtsextremistisch-terroristische Gruppe, die gemäß dem Gerichtsverfahren („NSU-Prozess“) für neun Morde an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund, dem Mord an einer Polizistin, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle sowie insgesamt 43 Mordversuche verantwortlich war. Das Oberlandesgericht München verurteilte Beate Zschäpe am 11. Juli 2018 wegen Mittäterschaft an diesen Taten und Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung NSU sowie schwerer Brandstiftung zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und André Eminger wurden wegen verschiedener Beihilfehandlungen zu Freiheitsstrafen zwischen zehn und zweieinhalb Jahren verurteilt. Alle Angeklagten legten Revision ein, die Bundesanwaltschaft nur hinsichtlich des Angeklagten Eminger.Vom 9. September 2000 bis zum 6. April 2006 ermordete der NSU in deutschen Großstädten neun männliche Kleinunternehmer mit Migrationshintergrund (Česká-Mordserie), die ersten vier innerhalb von elf Monaten, fünf weitere 2004 bis 2006. Acht der Opfer stammten aus der Türkei, ein Opfer aus Griechenland. Auf sie alle wurde – wie bei einer Hinrichtung – mehrmals aus kurzer Distanz geschossen, dazu wurde ab dem fünften Mord ein Schalldämpfer benutzt. Die Tatwaffe bei diesen neun Morden war immer eine Pistole des Typs Česká ČZ 83, Kaliber 7,65 mm, diese wurde am 11. November 2011 im Schutt der Zwickauer NSU-Wohnung gefunden.19
Bei dem Polizistenmord des NSU wurde eine Polizeibeamtin am 25. April 2007 in Heilbronn mit einem gezielten Kopfschuss getötet und ein Polizeibeamter mit einem Kopfschuss lebensgefährlich verletzt. Seit November 2011 wird das Verbrechen dem NSU zugerechnet.
Am 4. November 2011 kam es in der letzten Zwickauer NSU-Wohnung zu einer Explosion, die das Wohnhaus in Brand setzte, daher fahndete die Polizei auch nach Zschäpe, die sich nach einer ziellosen mehrtägigen Bahnreise durch verschiedene ost- und norddeutsche Städte am 8. November 2011 der Polizei in Jena stellte. Am 13. November 2011 erließ der Bundesgerichtshof Haftbefehl gegen Zschäpe wegen des dringenden Verdachts der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen 20
Vereinigung sowie der besonders schweren Brandstiftung. Laut Anklage des Generalbundesanwalts hatte Zschäpe vom Suizid von Mundlos und Böhnhardt erfahren und kurz darauf die gemeinsame Wohnung mit Benzin in Brand gesetzt, um Spuren zu vernichten. Zschäpe bestätigte im Verlauf des Prozesses, dass Mundlos und Böhnhardt seit langem geplant hatten, sich selbst zu töten, sollten sie von der Polizei entdeckt werden.Im August 2013 legte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages seinen Schlussbericht vor. Auf 1.400 Seiten wurden Versäumnisse und Fehler der Sicherheitsbehörden, vor allem der Verfassungsschutzbehörden, dokumentiert und Reformvorschläge unterbreitet. Der Bericht zeigte schwere Versäumnisse der deutschen Inlandsnachrichtendienste – des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Landesämter für Verfassungsschutz – bei der Analyse und der Bekämpfung von Rechtsextremismus und rechtsextremistischem Terrorismus auf.21
Der rechtsextremistisch-terroristische Mord an Walter Lübcke
Der hessische CDU-Politiker und Regierungspräsident von Kassel Walter Lübcke wurde am 2. Juni 2019 vor seinem Wohnhaus durch einen Kopfschuss ermordet. Nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen ist der mutmaßliche rechtsextremistische Terrorist Stephan Ernst der Täter.22 Am 15. Juni 2019 nahm ein hessisches Spezialeinsatzkommando Ernst in seinem Wohnhaus in Kassel fest, weil seine in einer DNA-Analysedatei gespeicherte Probe mit einer DNA-Spur an Lübckes Kleidung übereinstimmte.23 Kurz nach dem Mord an Walter Lübcke haben Kriminaltechniker die Tatwaffe zweifelsfrei identifiziert und ihr Gutachten belastet den Tatverdächtigen Stephan Ernst schwer. Demnach wurde der tödliche Schuss auf Lübcke mit einer Waffe des Kalibers .38 Spezial abgegeben, die Ernst mit anderen Waffen auf dem Gelände seines Arbeitgebers vergraben hatte. Ernst hatte den Ermittlern nach seiner Festnahme selbst von dem Versteck der Waffe berichtet und die Namen zweier Männer genannt, über die er an die Tatwaffe gekommen sei. Aufgrund dieser Aussage sitzen Elmar J. und Markus H. ebenfalls in Untersuchungshaft, ihnen wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen.24
Am 25. Juni 2019 legte Ernst ein Geständnis ab, als Motiv für den Mord an Lübcke nannte Ernst Äußerungen Lübckes während der Flüchtlingskrise 2015, als sich dieser für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland eingesetzt hatte und zahlreichen Anfeindungen und Morddrohungen ausgesetzt war. Am 2. Juli.2019 widerrief Ernst sein Geständnis, die Ermittler gehen jedoch von einem Widerruf taktischer Natur aus. Das ursprüngliche Geständnis von Ernst sei so detailreich gewesen, „dass durch den Widerruf keine Auswirkungen auf die weiteren Ermittlungen zu erwarten seien“, erklärten die Ermittler.25
Der Blick auf den Radikalisierungsverlauf von Ernst zeigt, dass seine ideologische Prägung durch Rechtsextremismus schon früh begann. Außerdem ist er mehrfach vorbestraft und einige seiner Straftaten waren ausländerfeindlich und rassistisch motiviert. Im 1989 beispielsweise legte er ein Feuer im Keller eines überwiegend von türkischen Staatsbürgern bewohnten Hauses in Michelbach.26 Im November 1992 griff er im Wiesbadener Hauptbahnhof einen Mann erst von hinten und dann von vorn mit einem Messer an und verletzte ihn lebensgefährlich. Vor Gericht gab er an, er habe sich sexuell belästigt gefühlt und es „als besonders belastend empfunden, dass es sich bei dem Zeugen […] erkennbar um einen Ausländer handelte“.27 Er wurde wegen versuchten Totschlags auf Bewährung verurteilt.
Im Jahr 1993 griff Ernst im Alter von 20 Jahren mit einer Rohrbombe eine Asylbewerberunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenroth an. Der Sprengsatz war in einem Auto untergebracht, das in Brand gesetzt wurde, aber gerade noch rechtzeitig von Bewohnern der Unterkunft gelöscht werden konnte, bevor der Sprengsatz detonierte.28
Die Frage, ob Ernst Teil eines rechtsextremistisch-terroristischen Netzwerkes war oder ein rechtsextremistisch-terroristischer Einzeltäter („lone wolves“) ist, ist mit dem aktuellen Stand der Ermittlungen durch die Bundesanwaltschaft so zu beantworten, dass die Indizien bisher darauf hinauslaufen, dass Ernst ein rechtsextremistisch-terroristischer Einzeltäter war.29 Jedoch werden erst die Ermittlungen der nächsten Wochen/Monate und der Gerichtsprozess für weitere Aufklärung sorgen.
Der rechtsextremistisch-terroristische Anschlag in Halle
Der rechtsextremistisch-terroristische, antisemitische Anschlag in Halle (Sachsen-Anhalt) am 9.10.2019 war der Versuch eines Massenmordes an einer jüdischen Gemeinde – in der Synagoge befanden sich 70-80 Menschen – am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Der rechtsextremistische Terrorist Stephan Balliet hatte beabsichtigt, mit Waffengewalt in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um dort versammelte Personen zu ermorden. Nachdem dies aufgrund der von innen verbarrikadierten Tür gescheitert war, erschoss Balliet zunächst vor der Synagoge eine Passantin und kurze Zeit später einen männlichen Gast eines Dönerimbisses. Auf seiner Flucht schoss Balliet auf weitere Personen und verletzte zwei davon schwer, bis die Polizei ihn festnahm. Das Video der Tat, das der 27 Jahre alte Attentäter live auf der Video-Plattform Twitch streamte, stellt eine Parallele zum rechtsextremistisch-terroristischen Anschlag in Christchurch/Neuseeland, bei dem 51 Menschen ermordet wurden, dar. Balliet war den Sicherheitsbehörden vor dem Anschlag nicht als Rechtsextremist bekannt. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen den geständigen Attentäter wegen zweifachen Mordes sowie versuchten Mordes in neun Fällen.
Der Anschlag in Halle war die Tat eines mutmaßlichen rechtsextremistisch-terroristischen Einzeltäters und verdeutlicht die Probleme der Sicherheitsbehörden in Bezug auf terroristische Einzeltäter (lone wolves, lone wolf-Terrorismus). Wenn terroristische Einzeltäter vor einem Anschlag nicht kommunizieren – sowohl virtuell als auch realweltlich – ist es für die Sicherheitsbehörden sehr schwer bis nahezu unmöglich, Anschläge von Einzeltätern zu verhindern. Deswegen müssen die Verfassungsschutzbehörden sowohl virtuelle Netzwerke von Rechtsextremisten und rechtsextremistischen Terroristen als auch realweltliche Zusammenschlüsse beobachten. Der rechtsextremistische lone wolf-Terrorismus geht auf die neonazistische Idee eines „führerlosen Widerstandes“ (leaderless resistance) des amerikanischen Ku Klux Klans, namentlich Louis Beam, der 1990er Jahre zurück. Der texanische Ku Klux Klan-Führer Louis Beam warb für eine Taktik von Kleinstzellen und Einzeltätern ohne organisatorisch-hierarchische Struktur.In einem elf Seiten langen „Manifest“, das Balliet vor der Tat veröffentlichte, legt er seine Gedanken dar, auf Englisch, um möglichst viel Verbreitung zu erlangen. Das Manifest liest sich stellenweise wie die Anleitung zu einem Computerspiel, lakonisch-lapidar geht es um „Ziele“, „Ergebnisse“, „Bonus“, gemeint hat er damit Massenmord. In seinem Manifest wimmelt es vor antisemitischen Begriffen, so spricht Balliet beispielsweise von einer „zionistisch besetzten Regierung“, ein klassischer antisemitischer Begriff aus der rechtsextremistischen Szene.30 Nach aktuellem Stand der Informationen war Balliet tief in der virtuellen Subkultur internationaler rechtsextremistischer Netzwerke und der mit ihr teils verknüpften Gamer-Szene verankert, wofür spricht, dass er viele in der Gamer-Szene typische Begriffe wie „total fail“ und „total loser“ verwendet hat.31 Nähere Angaben über den Radikalisierungshintergrund von Balliet und Antworten auf die Frage, welche rechtsextremistischen Kontakte er hatte werden erst die Ermittlungen der nächsten Wochen und der Gerichtsprozess bringen.
Fazit
Rechtsextremismus und rechtsextremistischer Terrorismus bedrohen die Innere Sicherheit Deutschlands. Rechtsextremismus und rechtsextremistischer Terrorismus vertreten die ideologische Auffassung, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse über den Wert eines Menschen entscheiden und propagieren damit antidemokratische, antipluralistische, rassistische und antisemitische Standpunkte. Daher ist die rechtsextremistische Ideologie der Gegenentwurf zur bestehenden pluralistischen Gesellschaftsordnung, zur Freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FdGO) Deutschlands. Die in diesem Beitrag untersuchten Aktionsformen, Netzwerke, Gruppen und Einzeltäter („lone wolves“) zeigen, dass die Grenzen von Rechtsextremismus zu rechtsextremistischem Terrorismus fließend sein können und auch zukünftig zahlreiche rechtsextremistische und rechtsextremistisch-terroristische Straftaten in Deutschland zu erwarten sind.
Quellen:
1 https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-rechtsextremismus/was-ist-rechtsextremismus (1.9.2019).
2 Ebd.
3 Goertz, S./Goertz-Neumann, M. (2018): Politisch motivierte Kriminalität und Radikalisierung. Heidelberg/Kriminalistik, S. 93.
4 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2018): Verfassungsschutzbericht 2017. Juli 2018, S. 53-54.
5 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2019): Verfassungsschutzbericht 2018. Juni 2019, S. 46.
6 Ebd., S. 47.
7 Ebd., S. 58.
8 Ebd., S. 59.
9 Ebd.
10 Ebd., S. 60.
11 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2018): Verfassungsschutzbericht 2017. Juli 2018, S. 55.
12 Ebd.
13 Ebd., S. 55-56.
14 Ebd., S. 58.
15 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2017): Verfassungsschutzbericht 2016. Juni 2017, S. 43.
16 Ebd., S. 44.
17 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/nsu-urteile-lebenslange-haft-fuer-beate-zschaepe-15685433.html (1.9.2019).
18 Ebd.
19 https://www.tagesschau.de/inland/nsuanklage100.html (1.9.2019).
20 https://www.welt.de/politik/deutschland/article149803799/Dokumentation-Die-Aussage-der-Beate-Zschaepe.html (1.9.2019).
21 Bundeszentrale für politische Bildung (2013): Der NSU-Untersuchungsausschuss. https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/172857/der-nsu-untersuchungsausschuss (1.9.2019).
22 https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/mord-an-luebcke-gutachten-zur-waffe-belastet-stephan-e-16289170.html (1.9.2019).
23 https://www.dw.com/de/war-der-mord-an-lübcke-lange-geplant/a-49507572 (1.9.2019).
24 https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/mord-an-luebcke-gutachten-zur-waffe-belastet-stephan-e-16289170.html (1.9.2019).
25 https://www.dw.com/de/verdächtiger-stephan-e-widerruft-geständnis-im-mordfall-lübcke/a-49443528 (1.9.2019).
26 https://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Die-buergerliche-Fassade-des-Stephan-E (1.9.2019).
27 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-06/walter-luebcke-kassel-mordfall-ermittlungen (1.9.2019).
28 Ebd.
29 https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/stephan-e-gilt-noch-als-einzeltaeter-im-mordfall-luebcke-16282459.html (1.9.2019).
30 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/fall-stephan-b-wer-ist-der-attentaeter-von-halle-16426874.html (13.10.2019).
31 Ebd.