Route 66 – die Mutter aller Straßen
Von Niels Stokholm
Einst die Lebensader der Vereinigten Staaten von Amerika, erlebt der legendäre US-Highway 66 ein Revival. Bekannt als Route 66, diente sie zuerst als Wegbereiterin einer neuen Epoche, dann als Romanvorlage und Filmkulisse, bevor sie beinahe vollständig von der Landkarte verschwand. Heute werden viele Teilstücke wiederbelebt und sind insbesondere unter Bikern ein beliebtes Ferienziel.
Streng genommen gibt es sie überhaupt nicht mehr. Die sagenumwobene Route 66, die Chicago mit Los Angeles verbindet, besitzt seit 1985 keinen Highway-Status mehr. Dennoch ist die einst durchgehende Ost-West-Straßenverbindung nicht nur für die Amerikaner unauslöschlich und wird auch noch lange nicht aus den Köpfen verschwinden. Selbstverständlich hat dies auch ein bisschen mit der uramerikanischen Eigenheit zu tun, aus allem einen Mythos zu kreieren, welchen man schlussendlich gut vermarkten kann. Aber die Route 66 ist auch heute nicht einfach nur ein Marketing-Gag, sie ist für viele das Amerika schlechthin, für andere die Verkörperung von Freiheit, Ungebundenheit und somit einfach ein Stück „gute alte Zeit“.
Schotterwege ins Nichts
Vor 100 Jahren gab es in den Weiten des nordamerikanischen Kontinents nicht viele befestigte Straßen. Dies lag einerseits daran, dass es zu dieser Zeit nicht so viele motorisierte Fahrzeuge gab, andererseits weil riesige Gebiete des Westens noch weitgehend unbesiedelt waren. 1913 entstanden die ersten transkontinentalen Autostraßen, sogenannte National Auto Trails. Diese Hauptverkehrsstraßen waren jedoch nicht immer asphaltiert und hatten auch nicht wirklich etwas mit Geschwindigkeit zu tun. Die damaligen Autos fuhren nicht schnell und die Straßen wurden zunächst hauptsächlich von Pferdekutschen und Ochsenkarren befahren, um von Dorf zu Dorf zu gelangen – mehr nicht. Zwischen den beiden Weltkriegen nahm die Zahl der motorisierten Fahrzeuge stark zu, Mitte der 1920er-Jahre wurde ein landesweites Netz mit durchgehenden Autostraßen, den US-Highways, geplant und umgesetzt. Jeder einzelne Highway erhielt eine Zahl, wobei die Nummern 1 bis 101 transkontinentale Highways waren. Die einspurigen mit Gegenverkehr angelegten Highways, welche von Norden nach Süden verliefen, erhielten zudem ungerade Nummern, diejenigen, die von Osten nach Westen führten, die geraden.
Aufbruchstimmung
Ab dem Jahre 1926 wurde der US-Highway 66 Stück für Stück ausgebaut. Dafür wurde jedoch oft nicht eine neue Straße aus dem Boden gestampft, sondern bestehende Straßen wurden mit einfachen Mitteln miteinander verbunden. Daraus entstand zwar eine
Während die Route 66 fertiggestellt wurde, erlebten die Vereinigten Staaten von 1929 bis 1941 eine schwere Wirtschaftskrise, die als Great Depression in die Landesgeschichte eingehen sollte. Die Arbeitslosigkeit explodierte und viele Amerikaner machten sich auf den Weg in andere Gebiete, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Gleichzeitig erlebten als Folge leichtsinniger Landwirtschafts-Praktiken weite Gebiete der großen Ebenen im Mittleren Westen eine immense Dürre, welche über Jahre zu vielen verheerenden Staubstürmen (Dust Bowls) führte. Der US-Highway 66 diente als idealer Fluchtweg – die Arbeiter aus den östlichen Großstädten suchten an der Westküste ein besseres Leben und die Farmer und Landarbeiter aus Oklahoma und Texas zog es in weniger von Staubstürmen betroffene Gegenden.
Geburt einer Legende
Wenige Jahre später, 1946 – die USA hatte die Krise und den Zweiten Weltkrieg hinter sich – fuhr der junge Jazzpianist und Songwriter Bobby Troup nach Los Angeles, auf der Suche nach der großen Musikerkarriere. Den Weg in den verheißungsvollen Westen fuhr er weite Teilstrecken auf dem US-Highway 66. Unterwegs schrieb er seine Eindrücke nieder und fasste diese danach zu einem Lied mit dem Titel „Get Your Kicks on Route 66“ zusammen. Das Lied – streng genommen eine knappe Wegbeschreibung der wichtigsten Stationen der Ost-West-Straße – wurde kurz darauf vom berühmten Nat King Cole Trio interpretiert und sofort ein internationaler Hit. Bing Crosby, Chuck Berry und sogar die frühen Rolling Stones konnten ebenfalls nicht ihre Musikerhände von diesem Lied lassen und untermalten die große Beliebtheit und Berühmtheit der jetzt nur noch Route 66 genannten Straße.
Die Strecke
Anhand von Bobby Troups Song lässt sich die Streckenführung der Route 66 einfach darstellen. Er schreibt, im Falle einer Fahrt von Chicago nach Los Angeles solle man den Highway nehmen und auf den mehr als 2000 Meilen (exakt 2451, welches 3944 km entspricht) die vielen neuen Anregungen (Kicks) mitnehmen. Dabei geht es durch Saint Louis nach Joplin in Missouri, weiter nach Oklahoma City, Amarillo und Gallup, Flagstaff in Arizona, über Winona, Kingman, Barstow und nach San Bernardino in Kalifornien.
Acht Bundesstaaten wurden von der Route 66 durchkreuzt. Ausgehend von Chicago nahm die Straße ihren Weg also diagonal in grob südwestlicher Richtung. Zwar folgten die meisten Straßen im flachen Mittelwesten der USA schachbrettartig den Haupthimmelsrichtungen. Die Route 66 aber gehörte mit ihrer Diagonalität zu den Ausnahmen, in denen Straßen parallel zu den bestehenden Eisenbahnverbindungen gebaut wurden. Der berühmte Highway diente dank seiner Streckenführung nicht nur dem Transkontinentalverkehr, sondern auch der Anbindung der Landwirtschaft des Mittelwestens an Chicago.
Die Blütezeit
In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren erlebte die Route 66 ihre bedeutendste Zeit. Im Westen blühte die Wirtschaft, die Rüstungs- und Flugzeugindustrie boomte und schuf innert kurzer Zeit mehr als 200 000 begehrte Arbeitsplätze. Nach der Wirtschaftskrise in den 30er-Jahren hieß es erneut auf in den Westen. „Go west!“ war der viel gehörte Aufruf, wovon der US-Highway 66 profitierte. Die Straße diente jedoch nicht nur als Umzugsstrecke in entferntere Gebiete, auch die örtliche Infrastruktur und Wirtschaft konnten ein Stück vom Kuchen um den Route 66-Hype abschneiden.
Da man bisher nicht über viel Erfahrung mit den Infrastrukturen entlang solcher Hauptstraßen verfügte, nutzten findige Anwohner die Chance und bauten entlang der Highways neuartige Einrichtungen, welche sich explizit an die Durchreisenden richteten. Bereits 1905, an einem frühen Teilstück der Route 66, eröffnete die erste Tankstelle, welche als solche bezeichnet werden konnte. Bis in die 1920er-Jahre wurde Benzin nämlich überwiegend in den sogenannten Grocery Stores verkauft. Dem immer öfter geäußerten Wunsch nach einem „schnellen“ Essen wurde schnell Rechnung getragen und bereits 1921 entstand an der Route 66 das erste Drive-in-Restaurant, wodurch die Autofahrer für die Verpflegung nicht einmal das Fahrzeug verlassen mussten. Auch das Prinzip des Fastfoods entstand an der Route 66, als 1934 in der Ortschaft Normal zwischen Chicago und St. Louis das erste Steak’n Shake-Restaurant eröffnet wurde. Das Konzept dabei war revolutionär: Dank standardisierten Menüs und knappen Portionierungen konnten Bestellungen schnell entgegengenommen und das Essen gleich darauf serviert werden. Nicht verwunderlich also, dass auch das erste McDonald’s-Restaurant an der Route 66 seine Tore eröffnete – am 15. Mai 1940 in San Bernardino.
Tiefer Fall, langsame Auferstehung
Als es den Anschein hatte, die Route 66 sei beliebter denn je, endet die Ära der Mutter aller Straßen schon wieder. Zwar tuckerten noch ein Weilchen Camper, Familienkutschen und Hippies in ihren VW-Bussen in Richtung Kalifornien. Das Verkehrsaufkommen war jedoch inzwischen so stark angestiegen, dass die Route 66 die vielen Fahrzeuge kaum bewältigen konnte. Die schmalen Highways entsprachen schlichtweg nicht mehr dem Zeitgeist. Es wurden neue, mehrspurige Interstate-
Kaum sind die ersten Route 66-Schilder weggeräumt, da entsteht ein Kult um die Straße der Sehnsucht. Stark geprägt vom Film „Easy Rider“ entsteht ein neues Bild vom amerikanischen Traum – auch wenn der Film nicht direkt etwas mit der Route 66 zu tun hat. Die Straße wird zum Symbol der Freiheit. Viele suchen wie die Hauptdarsteller aus Easy Rider, Peter Fonda und Dennis Hopper, die Flucht vor den Konventionen eines konservativen Amerikas. Die beiden Hollywood-Stars finden das freie Amerika im Film zwar nicht, aber die Sehnsucht danach wird fortan mit der Route 66 in Verbindung gebracht. Nicht zuletzt dank der Motorräder, mit denen die beiden unterwegs sind, zwei alte Harley Davidson.
Die Legende lebt
In den 1990er-Jahren entstehen in zahlreichen Städten und Gemeinden entlang der Route 66 Heimatvereine, welche die Erinnerung an ihre Straße hochhalten wollen. Fanclubs werden gegründet und auch die ersten, besonderen Straßenkarten kommen auf den Markt. Souvenirläden, kleine Museen, Diner-Cafés und andere noch originale Gebäude aus der Blütezeit der Straße werden allmählich wiederbelebt. Seit 2005 sind Teilstücke der Route 66 unter der Bezeichnung „Historic Route 66“ als nationales Kulturerbe ausgewiesen. Insgesamt 85 Prozent der Route 66 sind noch befahrbar, in Texas sogar 91 Prozent. Der größte Teil ist aber heute einsam und verlassen. Nur Teilstücke bei touristischen Attraktionen sind stärker befahren. Weiter zur Legende beigetragen hat auch der Animationsfilm „Cars“ aus dem Jahre 2006, der als moderne Liebeserklärung an die Route 66 gilt.
Unvergessliche Momente
Heute sind es vor allem Harley-Davidson-Clubs, die sich regelmäßig zu Touren auf der alten Route 66 treffen. Eigens darauf spezialisierte Reiseveranstalter bieten Harley-Ferien auf der legendären Straße an. Ein Auszug aus einem Reisebericht rundet diesen Artikel bestens ab:
„In den ersten Tagen bekamen wir immer wieder viel Regen ab, und mussten am Abend unsere Kleider wieder trocken bringen. Wir waren sicherlich die ersten Touristen, die im Hotel die Klimaanlage auf heizen stellten, damit wir unsere Kleider wieder trocknen konnten.
Aber lange mussten wir nicht auf warmes, ja heißes Wetter warten, spätestens in New Mexico konnten wir nicht über Sonnenmangel klagen. In Arizona und Nevada mussten wir uns bei jedem Halt mit kaltem Wasser bespritzen und viel trinken, da die trockene, heiße Luft uns doch etwas zu schaffen machte.
Wir waren wirklich beeindruckt von der Weite und der Vielfalt der verschiedenen Staaten – einmal Gebirge und dann wieder endlose Weite – unbewohntes Gebiet und Straßen, die geradeaus bis zum Horizont zu gehen schienen. In New Mexico und Arizona haben uns auch die endlosen Güterzüge, die mit zum Teil über hundert Waggons langsam wie ein langer „Tatzelwurm“ durch die heiße Landschaft schlichen, imponiert.
Die letzte Etappe führte uns übers Gebirge, runter nach Kalifornien, wo die Reise auf dem Pier in Santa Monica endete. Es war ein tolles Gefühl, mit unseren Motorrädern durch all die Leute auf den Pier zu fahren, unserem Ziel der Reise Route 66.“