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Das Risiko des Fahrradfahrens ist umso größer, je jünger das Kind ist. Verkehrsexperten raten daher, Kindern nicht vor dem zehnten Lebensjahr ein Fahrrad zu schenken. (Foto: Scholzen)

Kinderunfälle im Straßenverkehr

Von Dr. Reinhard Scholzen

Das Statistische Bundesamt veröffentlicht jährlich die neuesten Zahlen über „Kinderunfälle im Straßenverkehr“. Tendenziell sinkt zwar seit vielen Jahren die Zahl der im Straßenverkehr verletzten und getöteten Kinder, aber in anderen europäischen Staaten leben die Jüngsten deutlich sicherer.

 

Seit den späten 1950er Jahren spiegelte sich der wirtschaftliche Aufstieg in Deutschland in einer rasant steigenden Mobilität wider. Damit gingen auch Risiken einher, die sich besonders deutlich in der Zahl der im Straßenverkehr Verletzten und Getöteten zeigten. Opfer wurden immer öfter Kinder. Im Jahr 1972 erreichte die automobilen Gesellschaft ihren Tiefstpunkt: Auf den Straßen der Bundesrepublik starben damals 2114 Kinder. Seither sank die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Jungen und Mädchen unter 15 Jahren nahezu stetig. Nur zu Anfang der 1990er Jahre – nach der Wiedervereinigung – musste eine Steigerung verzeichnet werden. Die Gründe dafür lagen zum einen darin, dass die Einwohnerzahl der Bundesrepublik Deutschland von rund 64 Millionen auf mehr als 80 Millionen Menschen stieg. Zum anderen erhöhte sich bald nach der Wende die Verkehrsdichte in den neuen Bundesländern, womit eine deutliche Zunahme der Unfallrisiken einherging.

Ende August 2014 legte das Statistische Bundesamt seine neueste Auswertung über „Kinderunfälle im Straßenverkehr“ vor. Das umfangreiche Zahlenwerk belegt, dass im Jahr 2013 auf Deutschlands Straßen 28.143 Kinder verunglückten. Die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Kinder sank im Jahr 2013 im Vergleich zu den Vorjahren deutlich ab. Während im Jahr 2008 auf Deutschlands Straßen 102 Kinder zu Tode kamen, waren es 2013 noch 58 Kinder, die bei einem Verkehrsunfall ihr Leben lassen mussten. Damit liegt das Unfallrisiko für Kinder deutlich unter ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Während der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung bei 13,2 Prozent liegt, waren nur 7,5 Prozent der bei einem Verkehrsunfall Verunglückten im Kindesalter.

Die Unfallrisiken unterscheiden sich nach der Art der Teilnahme am Straßenverkehr. Wie schon in den Jahren zuvor zeigte sich auch im Jahr 2013, dass rund 33 Prozent der Kinder als Autoinsassen und als Radfahrer zu Schaden kamen. Jedes vierte Kind verunglückte als Fußgänger

Bis vor einigen Jahren lagen die Risiken für junge Radfahrer noch deutlich höher. Die Zahlen der Gegenwart belegen, dass zum Beispiel die Initiative des ADAC Früchte trägt, der rät, Kindern erst nach dem zehnten Lebensjahr ein Fahrrad zu schenken. Nicht zuletzt deshalb sank seither der Anteil der Fahrradunfälle bei den sehr jungen Kindern deutlich.

Die Statistiken belegen, dass auch im Jahr 2013 Jungen ein deutlich höheres Unfallrisiko aufwiesen als Mädchen. Von jeweils 100.000 Einwohnern ihrer Altersgruppe verunglückten 289 Jungen, aber nur 238 Mädchen. Als Gründe für diesen Unterschied werden einerseits die stärkere Verkehrsbeteiligung der Jungen und andererseits deren größere Risikobereitschaft genannt. 66 Prozent der verletzten und getöteten Radfahrer waren Jungen. Mit 58 Prozent lag ihr Anteil auch bei den Fußgängern höher. Ein anderes Bild ergibt sich bei den Pkw-Insassen. Dort kamen etwas mehr Mädchen, nämlich 52 Prozent, bei einem Unfall zu Schaden.

Das Unfallrisiko schwankt nach der Jahres- und Tageszeit. Hierbei lassen sich von Jahr zu Jahr Unterschiede feststellen, die in erster Linie auf die wechselnden Witterungsbedingungen zurückzuführen sind. Im Jahr 2013 verunglückten die meisten 6- bis 14-jährigen Fahrradfahrer im Monat Juni. Im Januar kamen die wenigsten Radler bei Unfällen zu Schaden. Während sich beim Verkehrsmittel Fahrrad der saisonale Einfluss besonders stark auswirkt – damit bewegen sich die Kinder fast nur in der wärmeren Jahreszeit fort –, ergaben sich für die Fußgänger und die Kinder, die im Pkw zu Schaden kamen, kaum saisonale Schwerpunkte. Auffällig ist lediglich, dass auch im Jahr 2013 im Ferienmonat August die wenigsten Kinder als Fußgänger im Straßenverkehr verunglückten. Dies legt die Vermutung nahe, dass der Schulweg besondere Risiken in sich birgt. Die Zahlen stützen diese Annahme. Der Tagesrhythmus der Kinder spiegelt sich deutlich in deren Unfallhäufigkeit wider. Die meisten 6- bis 14-jährigen Fußgänger und Radfahrer verunglückten auf dem Weg zur Schule, auf dem Heimweg und beim Spielen. Im Vergleich zum gesamten Tag verunglückten im Jahr 2013 15,5 % der Kinder zwischen 7 und 8 Uhr und 11 % zwischen 13 und 14 Uhr; 34 % der Kinder kamen in den Stunden von 15 bis 18 Uhr zu Schaden. Dass Präventionsmaßnahmen wirken, zeigt sich auch, wenn man die risikoreichsten Monate betrachtet. Waren früher die „dunklen“ Monate November bis Februar besonders unfallträchtig, so führten Maßnahmen wie reflektierende Schultaschen und Jacken dazu, dass sich gegenwärtig die Unfallzahlen nahezu gleichmäßig auf alle Monate verteilen. Es kann nicht verwundern, dass der Freitag der unfallträchtigste Tag der Woche ist und noch weniger überrascht, dass sonntags die wenigsten Kinder im Straßenverkehr zu Schaden kommen.

Deutliche Unterschiede ergeben sich bei einem Vergleich des Unfallrisikos in den einzelnen Bundesländern. Seit Jahren ist dabei ein signifikantes Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle feststellbar. Anhand der Häufigkeitszahl – also den Unfällen je 100.000 Einwohner – ergab sich das höchste Unfallrisiko für Kinder unter 15 Jahren in Bremen (360), gefolgt von Schleswig-Holstein (343), und Sachsen-Anhalt (331). Weitaus geringer ist das Unfallrisiko der Kinder in Thüringen (233) und Baden-Württemberg (231). Die wenigsten Unfälle mit Kindern ereigneten sich in Hessen (229).

In den Auswertungen des Statistischen Bundesamtes wird auch das „Fehlverhalten“ der Kinder erfasst, das zum Unfall führte. Jedes zweite Kind, das als Fußgänger bei einem Verkehrsunfall zu Schaden kam, hatte die Straße überquert, ohne dabei auf den Fahrzeugverkehr zu achten. In einem Viertel der Unfälle traten die Kinder plötzlich hinter einem Sichthindernis hervor. Ein deutlich differenzierteres Bild ergibt sich bei den Unfallursachen für Kinder, die mit dem Fahrrad unterwegs waren. 22 Prozent der Kinder kamen zu Schaden, weil sie die falsche Fahrbahn benutzten, 21 Prozent verunglückten während des Abbiegens, Wendens, des Ein- und Anfahrens. 13 Prozent der Kinder missachteten die Vorfahrt.

Es ist sehr erfreulich, dass der Anteil der Kinder, die im Fahrzeug auf geeignete Weise gesichert werden, in den letzten Jahren spürbar angestiegen ist. Die Polizei stellte fest, dass bei Fahrten auf der Autobahn alle Kinder auf geeignete Weise gesichert werden. Bedenklich sollte jedoch stimmen, dass dies bei Fahrten in der Stadt nicht der Fall ist: Dort sind nur 97 Prozent der Kinder durch angemessene Rückhaltesysteme geschützt.

Bei einem Vergleich der einheimischen Unfallzahlen mit denen anderer europäischer Länder ergibt sich bei den im Straßenverkehr getöteten und verletzten Kindern ein unterschiedliches Bild. Ein recht gutes Ergebnis erreicht Deutschland, wenn man die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Kinder betrachtet. Das geringste Risiko weisen Zypern sowie Irland auf und das Vereinigte Königreich erreicht ebenfalls einen sehr guten Wert. Nur unwesentlich höher liegt das Risiko für Kinder in Schweden und Italien. Sehr hohe Risiken bestehen hingegen in Belgien, Estland, Lettland und Rumänien.

Seit vielen Jahren erreichte die Bundesrepublik im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ein weitaus schlechteres Ergebnis in der Auswertung der im Straßenverkehr verletzten Kinder. Seit einigen Jahren werden diese Vergleichszahlen vom Statistischen Bundesamt in der offiziellen Statistik der verunglückten Kinder nicht mehr ausgewiesen. Daher müssen hier die Vergleichszahlen des Jahres 2009 herangezogen werden. Bezogen auf 100.000 Einwohner, die jünger als 15 Jahre sind, wurden damals 277 Kinder verletzt. In keinem anderen Land der Europäischen Union lag das Verletzungsrisiko der Kinder im Straßenverkehr höher. Den Spitzenwert erreichte Dänemark, wo bezogen auf 100.000 Kinder lediglich 31 im Straßenverkehr verletzt wurden. Sehr gute Werte wiesen auch die Niederlande (52) und Finnland (57) auf.

Die Europäische Union steckte sich in ihrem „Weißbuch zur Verkehrspolitik“ im Jahr 2011 ein sehr hohes Ziel. Bis zum Jahr 2050 will die Europäische Kommission die Zahl der Unfalltoten im Straßenverkehr nahezu auf Null senken. Besonders große Hoffnungen werden dabei auf neueste technische Entwicklungen gesetzt, die das Fahren für alle Verkehrsteilnehmer immer sicherer machen.

Ohne Zweifel gehen viele Unfälle auf ein Fehlverhalten des Fahrers zurück. Das Land Nordrhein-Westfalen legt einen Schwerpunkt auf die unangepasste, überhöhte Geschwindigkeit. Daher wurden im Februar 2012 zwischen Rhein und Weser zahlreiche Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt, die in der Presse als „Blitz-Marathon“ bezeichnet wurden. Das Innenministerium in Düsseldorf wählte für die neue Initiative den Slogan „Brems Dich – rette Leben.“ Innenminister Ralf Jäger stellte heraus: „Die Autofahrer sind langsamer und disziplinierter gefahren. Damit haben wir unser Ziel erreicht. Denn wir wollen mehr Verkehrssicherheit und nicht mehr Knöllchen. ... Gerade für Fußgänger und Radfahrer sind zu schnell fahrende Autos besonders gefährlich. Sie sind die schwächsten Verkehrsteilnehmer und müssen geschützt werden.“

Das Beispiel aus NRW machte Schule. In den Folgejahren nahmen fast alle Bundesländer an den flächendeckenden Geschwindigkeitskontrollen teil. Im April 2015 wurde der Blitz-Marathon erstmals europaweit durchgeführt. Die deutsche Polizei stellte dabei 91.000 Geschwindigkeitsüberschreitungen fest. Damit fuhren 2,8 Prozent der 3,2 Millionen kontrollierten Fahrzeuge zu schnell. Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz zog eine positive Bilanz: „Der Blitz-Marathon ist Präventionsarbeit im besten Sinne.“

 

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