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Der böse Onkel – Kinder als Opfer

Von Dr. Reinhard Scholzen

In Deutschland wird seit Jahrzehnten mit großer Entschlossenheit gegen die Gewalt gegen Kinder vorgegangen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Prävention von Straftaten gelegt. Seit Jahren belegen die Kriminalstatistiken jedoch, dass die Zahl der Fälle, in denen Kindern Gewalt angetan wird, zunimmt.

 

Das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden sammelt unter anderem die auf der Ebene der Länder und des Sonderbriefmarke 1998: Keine Gewalt gegen KinderBundes erfassten Daten über die Kriminalität. Alljährlich veröffentlicht es auf dieser Basis die „Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland“ (PKS). In dem vielseitigen Werk gibt es fast auf jede Frage über Taten, Täter und Opfer eine Antwort. Kritiker wenden gegen das Zahlenwerk ein, es könne nicht die gesamte Wirklichkeit erfassen. Dieser Einwand ist zweifelsohne richtig, dennoch ist es aufschlussreich, die vielen Tabellen und Grafiken im Detail zu betrachten; denn sie widerlegen manches Vorurteil und schärfen durchaus den Blick für Problemfelder. Insbesondere gilt dies für das Thema „Gewalt gegen Kinder“.

 

Die Opfer

Im Mai 2015 präsentierten das BKA und die „Deutsche Kinderhilfe“ die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik 2014 zu kindlichen Gewaltopfern. Seit einigen Jahren stellen Kriminologen in diesem Bereich einen fast kontinuierlichen Anstieg der polizeilich erfassten Fälle fest. Als Erklärung führen sie bisweilen das Wie der 10-jährige Christopher sich Gewalt gegen Kinder vorstellt.veränderte Bewusstsein in der Öffentlichkeit an: Während man sich früher heraushielt und  besonders Kindesmisshandlung als „Problem der Familie“ deutete, bewirkten insbesondere neue gesetzliche Grundlagen eine höhere Sensibilisierung. Dies führe dazu, dass solche Straftaten häufiger als früher zur Anzeige gebracht würden. Für das vergangene Jahr verzeichnet die PKS 4233 Kindesmisshandlungen. 44 Prozent der Opfer hatten das 6. Lebensjahr noch nicht vollendet.

Bei zahlreichen Gewaltdelikten liegt das Risiko, Opfer zu werden, für Männer deutlich höher als  für Frauen. Beim Straftatbestand der Kindesmisshandlung ist der prozentuale Unterschied zwischen betroffenen Jungen und Mädchen hingegen deutlich geringer: Im Jahr 2014 waren 57 Prozent der misshandelten Kinder männlich und 43 Prozent weiblich. Im Gegensatz zu vielen anderen Straftaten zeigt sich beim Delikt der Kindesmisshandlung nicht der Zusammenhang, dass mit steigendem Alter die Zahl der männlichen Opfer deutlich zunimmt: Unter den bis zu sechs Jahre alten Opfern waren 56,7 Prozent Jungen. Unter den sechs bis 14-jährigen Opfern lag der  männliche Anteil bei 57,3 Prozent.

Eine andere Entwicklung stellen die Polizeien seit Jahren bei der Erfassung der Opfer eines Mordes, Totschlags und einer Körperverletzung mit Todesfolge fest. Im Jahr 2005 wurden in Deutschland 208 Jungen und Mädchen getötet, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Unter deutlichen Schwankungen ging die Zahl der getöteten Kinder über 151 im Jahr 2010 bis auf 108 im Jahr 2014 zurück. Von diesen Opfern waren 81 noch keine sechs Jahre alt; 63 waren Jungen und 45 Mädchen.

Betrachtet man die Opferzahlen in den einzelnen Bundesländern, fällt auf, dass sich in den großen Flächenstaaten eine nahezu gleiche Relation zur Einwohnerzahl ergibt. Im mit rund 17 Millionen einwohnerreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen wurden 20 Kinder ermordet. In Bayern, wo fast 13 Millionen Menschen leben, mussten im Jahr 2014 18 Opfer im Kindesalter beklagt werden. In Baden-Württemberg (rund 10,5 Millionen Einwohner) wurden 14 Kinder getötet. Gänzlich andere Ergebnisse weisen die Stadtstaaten auf. In Hamburg (rund 1,7 Millionen Einwohner) und Bremen (ca. 550000 Einwohner) geschah im Jahr 2014 kein Kindesmord. In Berlin, wo fast 3,4 Millionen Menschen leben, kamen neun Kinder infolge einer solchen Straftat ums Leben.

Bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung liegt das Risiko für Mädchen deutlich höher als für Jungen. Die PKS des Jahres 2014 weist für diese Delikte eine Gesamtzahl von 14395 Opfern aus. 95,4 Prozent der Opfer waren weiblich. Von den 227 Opfern einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung, die 2014 bundesweit erfasst wurden, waren 194 Mädchen.

 

Die Täter

Eindrucksvoll beschreibt der Spielfilm „Es geschah am helllichten Tag“ Vorurteile und kriminalistische Wirklichkeit. In dem im Jahr 1958 entstandenen Kinostreifen spielt Heinz Rühmann den Schweizer Kriminaloberleutnant Matthäi, der nach einem Kindermörder fahndet. Am Ende des Films stellt sich heraus, dass der Täter ein etwa 50 Jahre alter verheirateter Handelsvertreter war, der aus der Oberschicht stammt – meisterhaft gespielt von Gert Fröbe – und nicht der arme Hausierer, den zunächst fast alle verdächtigten.

Aus der Polizeilichen Kriminalstatistik können nicht nur Informationen über die Opfer gewonnen werden, sondern das Zahlenwerk liefert auch Hinweise auf die Täter und die Täter-Opfer-Beziehung, die bei „Gewalt gegen Kinder“ von besonderer Bedeutung ist. Wegen der größeren Übersichtlichkeit verwenden wir hier die Zahlen für das Jahr 2013.

Beim Delikt „Sexueller Missbrauch von Kindern“ waren drei von vier Opfern weiblich und fast 95 Prozent der Täter männlich. Aufschlussreich ist die Altersstruktur der Täter: 7,6% von ihnen waren zum Zeitpunkt der Tat jünger als 14 Jahre, 18,2 Prozent zwischen 14 und 18 Jahren alt. Auf die Gruppe der 18- bis 21-Jährigen entfielen 8,1% der Täter. Älter als 21 waren 66 Prozent. Nahezu ausschließlich Männer begingen diese Straftat. Lediglich unter den 21- bis 40-Jährigen war der Frauenanteil ein wenig erhöht. Der hohe Anteil junger Täter im Alter zwischen 14 und 18 Jahren springt ins Auge. Die Gesamtzahl der von diesen jungen Menschen begangenen Missbrauchsdelikte lag deutlich höher als die Gesamtzahl der von der ältesten Tätergruppe begangenen Straftaten; denn lediglich 7,1 Prozent der Täter waren älter als 60 Jahre. Das Klischee, wonach meist alte Männer Kinder missbrauchen, bedarf somit einer Revidierung.

Ein völlig anderes Bild ergibt sich bei der Analyse der Täter, die eine Kindesmisshandlung begingen.

 

Alter und Geschlecht der Täter beim Delikt „Misshandlung von Kindern“ im Jahr 2013

Alter der Täter

männlich

weiblich

Gesamtzahl

prozentualer Anteil

Gesamtzahl

Prozentualer Anteil

unter 14 Jahren

1

100

0

0

14 bis 18 Jahre

12

50

12

50

18 bis 21 Jahre

48

46,2

56

53,8

21 bis 25 Jahre

64

43,0

85

57,0

25 bis 30 Jahre

286

50,6

279

49,4

30 bis 40 Jahre

708

52,8

633

47,2

40 bis 50 Jahre

510

63,6

292

36,4

50 bis 60 Jahre

168

56,6

129

43,4

60 Jahre und älter

45

57,0

34

43,0

 

Jugendliche Täter treten bei diesem Delikt kaum in Erscheinung. Zudem ist „Misshandlung von Kindern“ kein typisches Männerdelikt. Unter den 18- bis 40-jährigen Tätern liegt der Anteil der Männer und Frauen nahezu gleichauf. Während bis vor einigen Jahren die Statistiken auswiesen, dass mit zunehmendem Alter der Täter der Anteil der Männer deutlich zunahm, ist dies in der Gegenwart nicht mehr feststellbar. Kindesmisshandlung ist ein Delikt, das in nahezu gleichem Maße von Frauen und Männern begangen wird.

Darüber hinaus belegt die Polizeiliche Kriminalstatistik, dass sich „Kindesmisshandlung“ in der weit überwiegenden Zahl der Fälle innerhalb der Familie ereignet. 87 Prozent der Täter stammen aus der Verwandtschaft. In 7,5% der Fälle kannten sich Täter und Opfer vor der Tat. Nur in 1,5% der Taten kannten sich Täter und Opfer zuvor nicht.

Beim Delikt „sexueller Missbrauch von Kindern“ liefert die Analyse der Täter-Opfer-Beziehung andere Ergebnisse. In nahezu einem Drittel der Fälle bestand zwischen Täter und Opfer keine Vorbeziehung. In fast jedem zweiten Fall kam der Täter aus der Verwandtschaft oder Bekanntschaft des Opfers.

 

Beziehung des Opfers zum Täter beim Delikt „sexueller Missbrauch von Kindern“ im Jahr 2013

Täter stammt aus der

Anzahl der Opfer

männlich

weiblich

Verwandtschaft

702

2772

Bekanntschaft

1141

3008

Landsmann

2

12

flüchtige Vorbeziehung

341

1095

keine Vorbeziehung

940

3393

ungeklärt

372

832

 

Die Tabelle, in der die Beziehung der Täter zu ihren Opfern dargestellt ist, belegt zwar, dass bei jedem zweiten Fall zwischen Täter und Opfer keine Vorbeziehung bestand. Dennoch fällt auf, dass die Täter aus dem näheren Umfeld der Opfer – in fast 70 Prozent der Fälle aus der gleichen Gemeinde – stammen.

 

Wohnsitz der deutschen Täter beim Delikt „sexueller Missbrauch von Kindern“ im Jahr 2013

Wohnsitz des Täters

Anzahl der Delikte

In der Tatortgemeinde

5702

Im Landkreis der Tatortgemeinde

725

Im gleichen Bundesland

1292

Im übrigen Bundesgebiet

530

Außerhalb des Bundesgebietes

11

Ohne festen Wohnsitz

101

 

Mit nur marginalen Abweichungen gelten die Ergebnisse ebenso, wenn der Täter kein Deutscher war. Lediglich bei den Tätern, die ihren Wohnsitz außerhalb des Bundesgebietes haben, ergibt sich eine deutliche Abweichung.

 

Wohnsitz der nichtdeutschen Täter beim Delikt „sexueller Missbrauch von Kindern“ im Jahr 2013

Wohnsitz des Täters

Anzahl der Delikte

In der Tatortgemeinde

717

Im Landkreis der Tatortgemeinde

65

Im gleichen Bundesland

167

Im übrigen Bundesgebiet

35

Außerhalb des Bundesgebietes

62

Ohne festen Wohnsitz

21

 

Über die Täter sagen die Statistiken des Bundeskriminalamtes noch weit mehr aus. Bei den Delikten „Kindesmisshandlung“ und „sexueller Missbrauch von Kindern“ ergeben sich bei einigen Tätermerkmalen deutliche Übereinstimmungen.

Tätermerkmale

Kindesmisshandlung

sexueller Missbrauch von Kindern

Anzahl

In Prozent

Anzahl

in Prozent

Täter handelte allein

2582

72,6

8268

89,6

Täter trat bereits vorher als Tatverdächtiger in Erscheinung

1449

40,7

4040

43,8

Täter konsumierte harte Drogen

57

1,6

129

1,4

Täter stand unter Alkoholeinfluss

186

5,2

589

6,4

Täter führte eine Schusswaffe mit

4

0,1

23

0,2

Beim Delikt des sexuellen Missbrauchs von Kindern treten die Täter fast immer alleine auf, anders ist dies bei der Kindesmisshandlung, bei der in rund einem Viertel der Fälle zwei oder mehr Personen das Verbrechen begingen. Nahezu gleich ist der prozentuale Anteil derjenigen Täter, die bereits vorher einmal wegen des gleichen Delikts in Erscheinung getreten sind. Auffallend ist, dass der Anteil der Täter, die unter Alkoholeinfluss ein Kind misshandelten oder missbrauchten, im Vergleich mit anderen, ähnlich gelagerten Verbrechen, gering ist: So waren jeweils rund 30 Prozent aller Täter, die im Jahr 2013 eine Körperverletzung oder Vergewaltigung begingen, betrunken.

Viele Mordfälle, denen Kinder zum Opfer fielen, ereigneten sich in den letzten Jahren in kleinen Gemeinden. In der Öffentlichkeit gelten aber nicht diese noch überschaubaren sozialen Gefüge als die Hochburgen des Verbrechens, sondern die unübersichtlichen Großstädte mit ihren stärker ausgeprägten ethnischen und sozialen Konflikten. Bei den Straftaten die unter dem Thema „Gewalt gegen Kinder“ eingeordnet werden können, ergab sich für das Jahr 2013 auch in dieser Frage ein differenziertes Bild.

Delikt

Einwohnerzahl des Tatortes

 

bis 20.000

20.000 bis 100.000

100.000 bis 500.000

500.000 und mehr

Unbekannt

Kindesmiss-handlung in Prozent an der Gesamtzahl

1121

 31,8%

941

 26,7%

541

 15,3%

913

 25,9%

9

 0,3%

Sexueller Missbrauch von Kindern in Prozent an der Gesamtzahl

4568

 36,7%

3627

 29,2%

2050

  16,5%

1972

 15,9%

220

 1,8%

 

Oberflächlich betrachtet, war das Risiko für Kinder, Opfer einer Misshandlung zu werden, in Gemeinden mit weniger als 20000 Einwohnern hoch, beim Delikt des sexuellen Missbrauchs sogar mit deutlichem Abstand am höchsten. Bei näherem Hinsehen liegen die Dinge jedoch anders: Die Statistiker unterteilten die Gemeinden aufgrund ihrer Einwohnerzahl in vier Gruppen. Dabei ließen sie jedoch die tatsächlichen Lebensverhältnisse der deutschen Bevölkerung außer Acht: 17 Prozent der Deutschen leben in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern; in Gemeinden, deren Einwohnerzahl zwischen 5000 und 100000 liegt, leben 40 Prozent der Deutschen und der Rest lebt in Großstädten. Darüber hinaus wirkt sich auf die Statistik auch die eingangs erwähnte Veränderung im Anzeigeverhalten der Bürger aus: In überschaubaren, kleineren Gemeinden funktioniert die soziale Kontrolle in der Regel besser. Daher werden solche Straftaten häufiger zur Anzeige gebracht.

Insbesondere bei den Straftaten, die an Kindern begangen werden, besteht häufig ein deutlicher Unterschied zwischen den Meinungen, die darüber in der Öffentlichkeit vorherrschen und den Fakten. Nicht von alten, dem Kind fremden Männern, geht die größte Gefahr aus, vielmehr belegen die Zahlen der PKS, dass sehr viel häufiger der liebe junge Onkel zum Täter wird.

 

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