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Angela Merkel.

Die Kanzlerin und ihre Zeit.

Ralph Bollmann,
München 2021, 800 Seiten.
ISBN 978-3-406-74111-1.
Ladenverkaufspreis 29,95 €.

Vor einigen Jahrzehnten entbrannte unter deutschen Historikern ein Streit um die Aussagekraft einer Biographie. Für die einen war die Lebensbeschreibung ein Relikt aus alter Zeit, das dringend durch einen ganzheitlichen Ansatz ersetzt werden musste.

Nicht das einzelne Leben gelte es zu erforschen, sondern stets sollte der Blick auf das Ganze, die Gesellschaft, gelenkt werden. Die andere Denkrichtung brach eine Lanze für die Biographie, indem sie diese – ganz im Sinne des Altmeisters Golo Mann – als Spiegel der Zeit verstand.

Ralph Bollmann ist ein Journalist, der unter anderem bei Heinrich August Winkler und Herfried Münkler Geschichte studierte. Bereits im Jahr 2013 schrieb er ein Buch über die Kanzlerin und gilt als einer ihrer besten Kenner – außerhalb ihres engsten Kreises von Vertrauten. Der Titel des Buches überrascht, aber nur auf den ersten Blick. Näher betrachtet, beschreibt „Die Kanzlerin und ihre Zeit“ genau das, was das Buch beinhaltet. Wohlfeile Erklärungen sind Bollmanns Sache nicht. Daher hätte weder ein „Sie kennen mich“, noch „Krisenkanzlerin“ oder gar „Physikerin der Macht“ als Untertitel zu diesem Buch gepasst. Der Autor geht – was bei einer Lebensbeschreibung naheliegt, chronologisch an sein Thema heran. Jedoch verlässt er mitunter den Zeitstrahl, um einige markante Wegmarken näher zu erläutern. Diese Herangehensweise führt hier und da zu Redundanzen.

Mit dem Aufbau des Buches in drei Hauptteile wird versucht, zusammengehörende Phasen im Leben Angela Merkels zu markieren. Das gelingt nicht immer. Der erste Teil „Pfarrhaus und Physik“ (1954-1989) ist kein monolithischer Lebensblock – was Bollmann eindrucksvoll nachweist. Vielmehr sind diese Jahre mehr durch Wandel als durch Beständigkeit geprägt. Gut passen hingegen die Überschriften „Politik als Beruf“ (1989-2008) und „Krisenjahre: die Weltpolitikerin“ (2008-2021), wobei jedoch mitzudenken ist, dass auch für die Weltpolitikerin Politik Beruf, vielleicht auch Berufung ist. In „Politik als Beruf“ greift Bollmann den Titel der immer noch in ihren Inhalten gültigen Schrift des Soziologen Max Weber auf, die dieser vor fast genau 100 Jahren verfasste. Was die Politikerin Merkel ausmacht und wie nah sie am Idealtyp des Volksvertreters im Sinne Max Webers ist, erhellt das Buch. Wer jedoch sensationelle Neuigkeiten aus dem Leben der Bundeskanzlerin sucht, wird enttäuscht.

Das Kernproblem fast jeder zeitgeschichtlichen Betrachtung liegt in der übergroßen Zahl der historischen Quellen. Bollmann umschifft diese Klippe, indem er trotz eines Umfangs von 800 Seiten an keinem Punkt seiner Darstellung Vollständigkeit anstrebt. Vielmehr wählt er gezielt aus, was in einem auf einen möglichst großen Leserkreis ausgerichteten Buch ganz sicher kein Mangel ist. Jedoch darf der Leser gerade bei den Merkel-Zitaten nicht den Fehler begehen, diese Aussagen zu verallgemeinern. So lässt Bollmann der Beschreibung des Zögerns der jungen Angela bei einem Sprung im Schwimmunterricht, folgendes Zitat folgen: „Ich bin, glaube ich, im entscheidenden Moment mutig. Aber ich brauche beachtliche Anlaufzeiten, und versuche, möglichst viel vorher zu bedenken. Spontan mutig bin ich nicht.“ Dieses Planende, Vorausschauende prägt die Kanzlerschaft Merkels durchaus, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht auch die spontane Reaktion beherrscht, also das, was eine Kanzlerin, die über die Richtlinienkompetenz der Politik verfügt, dringend benötigt.

Manche Idealisierung, die der Kanzlerin im Laufe der Zeit angedichtet wurde, stellt Bollmann in Frage. Er geht er an mehreren Stellen des Buches auf eine der großen Krisen der Kanzlerschaft ein und kommt zu dem Schluss, die „Pragmatikerin an der Macht habe sich in der Flüchtlingsfrage 2015 nicht von einer naiven Form der christlichen Nächstenliebe leiten lassen.“ Anderen Deutungen schließt er sich an, etwa wenn er ihr einen „Hyperpragmatismus“ unterstellt, den sie „manchmal übertrieb“.

Einen roten Faden in der Beschreibung des Lebens Angela Merkels bildet ihr Misstrauen gegenüber fast allen Mitmenschen. Bollmann belegt das mit Zitaten der Kanzlerin, etwa wenn sie feststellt: „So zutraulich wäre ich heute nicht mehr“ oder wenn er ihr die Gabe der Unauffälligkeit, aber auch einen gewissen Trotz unterstellt.

Daran, dass sich nicht alles politisch regeln lässt, zweifelt Bollmann nicht. So stellt er im Vorfeld des Endes der DDR heraus: „Menschen, die sich einmal in Bewegung gesetzt haben, lassen sich nicht mehr aufhalten, auch nicht unter Einsatz von Gewalt.“ Ein Satz, der auch in der Flüchtlingskrise galt.

Bollmann beschreibt nicht nur das Leben Angela Merkels, er deutet es auch, wobei er sich besonders auf die berufliche, die politische Seite konzentriert. Diese Deutungsversuche wirken mitunter etwas konstruiert. So setzt er den Stellenwert Peter Hintzes, des ehemaligen Generalsekretärs der CDU, sehr hoch an und kommt zu dem Schluss: „Dass der Kanzlerin während ihrer letzten Regierungsjahre die Partei zunehmend entglitt, hing auch mit Hintzes frühem Krebstod im Jahr 2016 zusammen.“ Mitunter argumentiert Bollmann vom Ende her, so beschreibt er bereits in den späten 1990er Jahren eine „Intimfeindschaft“ zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder.

Eindrucksvoll skizziert der Autor den gemeinsamen Weg Merkels mit Bundeskanzler Kohl, der mit dem „Scheidungsbrief“, dem legendären Merkel-Artikel in der FAZ, endete. Das Erkennen des geeigneten Augenblicks – des Kairos – zeichnet die spätere Kanzlerin aus und diese Fähigkeit braucht jeder Politiker, der es bis zur Spitze schaffen will. Dazu braucht es auch die Fähigkeit, Konkurrenten frühzeitig zu sichten und aus dem Rennen zu nehmen. Angela Merkel beherrschte dies spätestens seit dem Zeitpunkt als sie den Vorsitz der CDU Deutschlands übernahm.

Bollmann findet viele Gründe dafür, dass der Kanzlerin das Image einer Krisenbewältigerin anhaftet. In der Finanz- und Eurokrise, der Flüchtlings- und der Corona-Krise spielte sie ihre Fähigkeiten aus. Gerade dies trägt Angela Merkel aber die Etikettierung ein, sie stehe für das Bewahren, nicht für die Veränderung. Gerade in den Schlussbetrachtungen, die Bollmann mit „Bilanz“ überschreibt, zeigt sich das Erklärungspotential, das in einer Biographie steckt, die sich als Spiegel der Zeit versteht. So stellt der Autor heraus: „Die historische Größe einer Politikerin entspringt nicht ihrem freien Willen, an den Merkel ohnehin nur mit starken Einschränkungen glaubte. Sie ergibt sich daraus, wie sich in ihrer Person die großen Strömungen der Zeit bündeln.“ Bundeskanzlerin Merkel war – auch auf diese Zuschreibung hätte man verfallen können, wenn man einen populistischen Untertitel für dieses Buch gesucht hätte – der Fels in der Brandung. Mit seinem letzten Satz blickt Bollmann in die Zukunft und vieles spricht dafür, dass er damit richtig liegen wird: „Einiges deutet darauf hin, dass sich viele Menschen nach dieser Stabilität bald zurücksehnen werden.“

Dr. Reinhard Scholzen