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Mögliche Ergebnisgraphik zur Risikoabschätzung eines urbanen Gebiets.
© Fraunhofer EMI

Schutz vor Terroranschlägen mit selbst gebauten Bomben

Risikoanalyse, Prävention und Forensik

Terroristen verüben Anschläge oft mit selbst gebauten Sprengkörpern. Um bereits im Vorfeld angemessene Sicherheitsvorkehrungen treffen zu können, aber auch um das Schadensausmaß stattgefundener Angriffe zu bewerten, benötigen Polizeibehörden geeignete Tools.
Ein Forscherteam am Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-Institut, EMI, entwickelt ein Expertensystem für Risikoanalysen zur Prävention solcher Angriffe. Zugleich bietet es Hilfestellung bei der forensischen Untersuchung. Die Software soll die Polizei dabei unterstützen, Anschläge mit selbst hergestellten Explosivstoffen zu vereiteln und die Bevölkerung etwa bei Großveranstaltungen zu schützen.

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurden bei vielen Terroranschlägen in der EU selbst hergestellte Explosivstoffe eingesetzt. Die Bestandteile sind ohne große Pro-bleme zu bekommen, die Sprengsätze unterschiedlichster Art und Größe können leicht fast überall deponiert werden. Bomben Marke Eigenbau stellen eine fortwährende Bedrohung dar. Doch das Gefahrenpotenzial der Sprengkörper kann stark variieren. Polizeibehörden müssen dieses vor Großveranstaltungen wie Weihnachtsmärkten oder Marathonläufen analysieren, um die Bevölkerung adäquat schützen zu können. Konnte ein Anschlag nicht rechtzeitig vereitelt werden, ist es die Aufgabe der Forensiker, das Schadensausmaß am Tatort für die Bewertung vor Gericht zu ermitteln. Rekonstruktionssprengungen sind jedoch kosten- und zeitintensiv.

Analysetool zur Terrorabwehr

Daher entwickeln Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer EMI im Projekt SUSQRA (siehe Kasten) eine Analysesoftware, mit der das zu erwartende Schadensausmaß von selbst gebauten Bomben quantitativ und fast ohne Experimente ermittelt werden kann. Polizeibehörden erhalten damit ein System, das sie sowohl bei der Prävention der Gefahr als auch forensisch bei der Bewertung des möglichen Schadens unterstützt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF fördert das Vorhaben, Projektträger ist die VDI Technologiezentrum GmbH.
»Das BKA muss nach einem Tatereignis Rekonstruktionssprengungen durchführen, damit das Strafmaß vor Gericht festgelegt werden kann. Mit unserem Tool kann man berechnen, welchen Schaden die Sprengsätze verursachen. Diese detonieren ja nicht immer. Mit den Simulationen lassen sich unter anderem Aussagen zu Parametern wie Distanzen, die die Fragmente zurückgelegt haben, Sprengstoffmenge, Sprengstoffart, Ummantelungsmaterialien und deren Wandstärke treffen«, sagt Dr. Katharina Roß, Wissenschaftlerin und Mathematikerin am Fraunhofer EMI.

Dr. Katharina Roß (zweite von links) und ihr Forscherteam (von links nach rechts: Andreas Weber, Andreas Frorath und Dr. Christoph Brockt) vom Fraunhofer EMI erörtern die Möglichkeiten des SUSQRA-Tools.
© Fraunhofer EMI

»Auf die kosten- und zeitaufwendigen Rekonstruktionssprengungen kann zwar nicht ganz verzichtet werden, ihre Anzahl lässt sich jedoch dank unseres Analysetools reduzieren.«Fokus der Arbeiten der Forscherin und ihres Teams liegt auf der Vielzahl möglicher, selbst gebauter Sprengsätze. Hier ist die Bandbreite enorm groß und reicht von umkonstruierten Getränkedosen bis hin zu Rohrbomben. Um das Schadensausmaß zu bestimmen, müssen die Auswirkungen von Druckwelle und entstehenden Fragmenten berechnet werden. Dabei gilt: Je dickwandiger die Ummantelung, desto schwerer und gefährlicher fallen die Fragmente aus. Insbesondere die Masse und die Geschwindigkeit der Fragmente beeinflussen das Potenzial des Schadens. Eine Besonderheit des Analysetools: Es berücksichtigt nicht nur runde, sondern auch komplexe eckige wie quadratische und rechteckige Geometrien, über die bislang sehr wenige systematische Forschungserkenntnisse vorliegen.

Sprengversuche zur Überprüfung der Simulation

Um die Gefährdung beurteilen zu können, wird bei den Fragmenten zwischen drei Arten unterschieden: ungefährliche, Verletzungen hervorrufende und tödliche Splitter. Die Berechnung des Schadenspotenzials mittels spezieller numerischer Simulationen ermöglicht dann eine solche Risikobewertung. »Wir können berechnen, welche Splitter entstanden sind, und erhalten genaue Angaben zu Abgangsgeschwindigkeit und Abgangswinkel. Basierend auf diesen Informationen sind wir in der Lage, präzise Algorithmen zu entwickeln«, erläutert die Mathematikerin. Die numerischen Simulationen ergänzen die Forschenden durch reale Sprengversuche mit entsprechenden typischen Homemade-Sprengstoffen.

Effektivität von Polizeiarbeit quantifizieren

Von dem neuen Expertensystem profitieren nicht nur Polizeibehörden, auch Eventplaner oder Stadtverwaltungen werden in die Lage versetzt, verschiedene Sicherheitskonzepte zu prüfen, etwa bei innerstädtischen Massenveranstaltungen wie einem Kirchentag oder einem Marathonlauf. In Abhängigkeit von verschiedenen Variablen können sie beispielsweise ermitteln, ob und wo Läufer und Zuschauer sicher sind, und dabei sogar den Effekt von möglichen Schutzmaßnahmen einkalkulieren oder Evakuationsradien einbeziehen. Darüber hinaus lässt sich mit dem Tool auch der durch die Polizeiarbeit verhinderte Schaden bestimmen, da nun nach der Vereitelung eines Anschlags die Möglichkeit besteht, den Anschlag nachzustellen und den verhinderten Schaden zu quantifizieren.

Derzeit optimieren die Mathematikerin und ihr Team die Benutzeroberfläche der Demonstratorsoftware unter Einbeziehung des Feedbacks der Projektpartner (siehe Kasten). Die erste Versuchsreihe mit Sprengmitteln mit komplexen Geometrien hat gezeigt, dass die Simulationsergebnisse mit den Sprengversuchen sehr gut übereinstimmen. Weitere Planspiele, die forensische und präventive Szenarien nachstellen, werden im Herbst durchgeführt.

– PM Forschung Kompakt / 03. August 2020 –