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 Die Teilnehmer des G20-Gipfels haben sich zum Gruppenbild versammelt, während sich draußen die Gipfel-Gegner formieren.
Foto: © wikipedia/Kremlin.ru

Der Gipfel

Das Treffen der G20 am 7. und 8. Juli 2017 in Hamburg führte zum größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik.

Eine Bestandsaufnahme von unserem Redaktionsmitglied Klaus Henning Glitza

Es waren Szenen, die mancher eher in Nordirland verortet hätte: Brennende Autos und Barrikaden, Rauchschwaden über der Stadt, geplünderte Läden, eingeschlagene Scheiben und nicht zuletzt mindestens 476 verletzte Polizeibeamte – das sind die Bilder vom G20-Gipfel, die um die Welt gingen. Es war Hamburg, nicht Londonderry oder Belfast.

Eine komplette Stadt im Ausnahmezustand, das wirft eine Reihe von Fragen auf. Hat die Polizei versagt? War das Sicherheitskonzept unzureichend? Waren etwa zu wenige Beamte im Einsatz? Reichten fast 21.000 Polizisten nicht aus?

Vorweg ist zu sagen, dass die Sicherheitsmaßnahmen beim G20-Gipfel zwar unter der Leitung von Hamburgs Leitendem Polizeidirektors Hartmut Dudde standen. Doch Polizeipräsident Ralf Martin Meyer und Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde (rechts). Der Grundsatz des Leitenden Polizeidirektors: „Ich muss verhältnismäßig, aber auch konsequent und immer im Sinne des Gesetzes handeln, das ist meine Linie". Dieses Zero-Toleranz-Prinzip wird auch „Hamburger Linie“ genannt.
Foto: © Polizei Hamburg
angesichts des Bärenanteils von Beamten aus anderen Bundesländern waren sie im Ergebnis keine regionale Angelegenheit, sondern eine gesamtdeutsche. Im Übrigen handelt es sich um den größten Polizeieinsatz, den die Bundesrepublik jemals gesehen hatte. Zudem waren sämtliche geplanten Maßnahmen auf Bundesebene abgesprochen. Falls es Fehler oder Fehleinschätzungen gegeben haben sollte, waren sie folglich bundesweit verantwortet.

Zu wenige Polizeibeamte waren keinesfalls im Einsatz. In Hamburg war alles vertreten, was Polizeiuniform trug und in den Heimat-Bundesländern abkömmlich war, ohne deren Basissicherheit zu gefährden. „Mehr hatte Deutschland nicht zu bieten“, sagt ein Insider. Das Polizeiaufgebot ging sogar über Deutschlands Kapazitäten hinaus. So waren beispielsweise 215 österreichische Beamte nach Hamburg ausgeliehen worden. Unter ihnen 20 Angehörige des Einsatzkommandos COBRA aus Wiener Neustadt und 74 Angehörige der Einsatzeinheit WEGA. Beide sind bekanntermaßen Sondereinheiten, die auf Lagen mit hohem Gefährdungsgrad spezialisiert sind. Die WEGA war an vorderster Front eingesetzt, jeder zweite Angehörige trug Verletzungen davon. Auch die COBRA-Beamten waren in der ersten Linie aktiv, zum Beispiel bei der Räumung des Hauses Schulterblatt 1. Und auf den Wasserwegen, im Hafen und rund um die Elbphilharmonie patrouillierten niederländische Polizeikräfte. Die auswärtigen Beamten aus Deutschland und EU-Ländern brachten überwiegend die erforderliche Technik mit. Weiteres Gerät und Sonderfahrzeuge wurden aus ganz Europa herangeschafft.

Ein Beamter der österreichischen Sondereinheit WEGA mit einem Öffnungswerkzeug (Ramme). Dieses Bild entstand allerdings nicht in Hamburg, sondern bei einem anderen Einsatz.
Foto: © WEGA
Es wäre natürlich noch sicherer gegangen- aber um welchen Preis? Im chinesischen Hangzhou, dem Veranstaltungsort des G20-Gipfels im letzten Jahr, gingen die Behörden sehr robust mit der Sicherheitsfrage um. „Ein Drittel der Neun-Millionen-Stadt musste die Stadt verlassen, die Straßen blieben menschenleer. Menschenrechtler wurden sistiert; die Presse berichtete regimetreu“, berichtete Herausgeber Josef Joffe in der ZEIT. Und er fragt mit Fug und Recht: „Wollen wir nur noch in Diktaturen tagen?“

Auch aus politischer Sicht war der Gipfel keine exklusive Hamburger Veranstaltung. Die Freie und Hansestadt Hamburg war zwar Veranstaltungsort, aber Gastgeberland war Deutschland. Der Stadtstaat an der Elbe war ein politisch gewollter Veranstaltungsort, ist hinzufügen, denn der Erste Bürgermeister Scholz stimmte freudig zu, als Bundeskanzlerin Angela Merkel Hamburg, ihre Geburtsstadt, vorschlug. Er wollte das Renommee für Hamburg, das „Tor zur Welt“.– und sicherlich auch ein gerütteltes Maß an Renommee für sich selbst. Das Gleiche gilt selbstredend auch für die Kanzlerin.

Hamburg als Gipfel-Standort abzulehnen, kam für den Ersten Bürgermeister nicht in Frage. In einem Interview betonte er: „In der Polizeibeamte aus sämtlichen Bundesländern waren beim G20-Gipfel in Hamburg im Einsatz.
Foto: © Polizei Hamburg
Hamburger Verfassung steht, dass wir als Hafenstadt Mittlerin für den Frieden zwischen den Völkern sein wollen. Es wäre eine merkwürdige Haltung, die Ausrichtung eines solchen Gipfels abzulehnen.“

Man kann aber durchaus der Politik vorhalten, dass die zahlreichen Bedenken gegen einen Gipfel in einer Großstadt wie Hamburg geradezu in den Wind geschlagen wurden. So sehen es jedenfalls die Kritiker. In Teilen des Polizeiapparates hatte die Standortwahl anhaltendes Kopfschütteln hervorgerufen.

Das war bei Jan Reinecke, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter und Sozialdemokrat wie Scholz, in sehr deutlicher Weise der Fall. Die zahlreichen Bedrohungs- und Gefährdungsszenarien hätten nach Reineckes Meinung eine vollständige Sicherung des Gipfels, seiner Teilnehmer, der Stadt Hamburg sowie der Bevölkerung von vornherein unmöglich gemacht. Die bestehende Lage habe die vollständige Sicherung des Gipfels, seiner Teilnehmer, der Stadt Hamburg sowie der Bevölkerung unmöglich gemacht, sagt der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Jan Reinecke.
Foto: © BDK
Reinecke fragt sich auch heute noch, warum bei der Wahl einer Großstadt wie Hamburg von den seit dem G8-Gipfel in Genua 2001 eigentlich stringent befolgten Regeln des Summit Policierung, möglichst abgelegene, gut zu sichernde Orte auszusuchen, abgewichen wurde. „Mir und anderen Warnenden ist regelmäßig entgegengehalten worden, dass eine Demokratie auch einen G 20 Gipfel in einer Großstadt aushalten müsse“, so Reinecke zu Veko-online. Reineckes Prognose, dass der Gipfel Hamburg teuer zu stehen bekommt, ist eingetreten. „Weit mehr als 500 verletzte Polizeibeamte, Sachschäden in Millionenhöhe und eine verängstige und verunsicherte Bevölkerung ist ein viel zu hoher Preis, den Hamburg für die Ausrichtung des G 20 Gipfel zu zahlen hat“, so Reineckes Fazit.

Weit mehr als 500 verletzte Polizeibeamte, das ist keine Übertreibung. Wie eine Sprecherin der Hamburger Polizei dazu mitteilte, muss die Anzahl der Verletzten nach oben korrigiert werden. Etliche gesundheitliche Beeinträchtigungen seien erst hinterher erkennbar geworden. Endgültige Zahlen würden gegenwärtig für den Innenausschuss aufbereitet.

Stark umstritten ist aber auch die Reaktion des Ersten Bürgermeisters angesichts der Spiegel-Veröffentlichungen zum Rahmenbefehl der Polizei und dessen Schwerpunktsetzung „Der Schutz und die Sicherheit der Gäste haben höchste Priorität“. „Prios“ sind vom Grundsatz her nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil: Niemand hätte es verstanden, wenn Trump, Putin, Erdogan und andere Staats- und Regierungsoberhäupter auf „Prio 2“ gesetzt worden wären. Es muss bezweifelt werden, ob die Mega-VIPs unter solchen Voraussetzungen überhaupt nach Hamburg gekommen wären. Es wäre – vorsichtig formuliert – illusorisch anzunehmen, jeder einzelne Bürger könnte genauso intensiv und aufwändig gesichert werden wie die von Haus aus stets und ständig massiv gefährdeten Mächtigen dieser Welt. Dass Abstufungen gemacht werden, ist Steht nach dem Einsatz in der Kritik: Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz.
Foto: © SPD
normal. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die jeweilige Prioritätsstufe einer Vernachlässigung der Sicherheitsbelange gleichkommt. „Genau so hätte man der Bevölkerung das erklären müssen“, so ein Insider.

„Priorität hatten während des Gipfels immer drei Dinge: der Schutz der Bevölkerung, die Sicherheit der Gipfelteilnehmer und der Schutz der friedlichen Demonstrationen“, teilt dazu Senatssprecher Jürgen Schmoll Veko-online mit. Es handele sich beim Rahmenbefehl der Polizei „um eine allgemeine Richtlinie, die keine operativen Anweisungen enthält“. Die zitierte Aussage bedeute lediglich, dass den Personen der höchsten Schutzklasse besondere Beachtung gelte. „Es ging niemals darum, dem Schutz der Gipfelteilnehmer eine größere Bedeutung beizumessen als dem Schutz der Bevölkerung. Rund 30 Hundertschaften waren zum Raumschutz in der Stadt“, so der Senatssprecher.

Mehr als unglücklich war auch das Sicherheitsversprechen des Olaf Scholz und sein stark hinkender Vergleich des bevorstehenden Demonstrationsgeschehens mit einem Hafengeburtstag, wenn sich auch Letzteres lediglich auf die Verkehrssituation bezog.
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Reiner Wahlkampf scheint dagegen hinter anderen Anschuldigungen zu stecken. Beispiel ist der Vorwurf, Olaf Scholz habe zusammen mit den hochrangigen Staatsgästen in der Elbphilharmonie gesessen, während in der Schanze die Lage außer Kontrolle geriet. Drinnen „Freude schöner Götterfunken, draußen „Dantes Inferno“. Dazu erklärt Senatssprecher Schmoll, dass sich der Bürgermeister während des Konzerts für die Staats- und Regierungschefs keinesfalls zurückgelehnt habe, sondern „sich ständig über die aktuelle Lage informiert habe“. „Er hat sich anschließend zum Führungsstab der Polizei begeben und von dort aus das nächtliche Einsatzgeschehen verfolgt. Ein Besuch des betroffenen Stadtviertels hätte zu diesem Zeitpunkt zusätzlich sehr viele Polizeikräfte gebunden, die dringend im Einsatz benötigt wurden“, erläuterte Schmoll.

Eines ist klar: Hamburg war aus polizeitaktischer Sicht alles andere als ein geeigneter Ort für das G20-Gipfeltreffen. Die Freie und Hansestadt ist ein Hotspot einer starken linksextremistischen Szene, die komplette Stadtviertel dominiert. Schon seit vielen Jahren ist die Freie und Hansestadt im Clinch mit Autonomen. Das sind Ultras, unter denen eine hohe Anzahl von gewaltbereiten Personen ist. Straßenschlachten, Brandstiftungen, Übergriffe auf Polizeibeamte, Dienstgebäude und Fahrzeuge sind nicht nur zum 1. Mai fast schon gewohnte Ereignisse. Eine Art RAF light sei hier am Werke, wie ein Insider sagt. „Das sind keine Demonstranten, das sind Terroristen, Kriminelle“, bilanziert er. Der Unterschied zur RAF: Molotow-Cocktails statt USBV, Zwillen mit Stahlkugeln statt scharfer Schusswaffen, Autos „abfackeln“ statt Brandsätzen in Kaufhäusern. Das ginge so nicht weiter.

Die Einsatzkräfte haben in Hamburg ihr Bestes gegeben. Bis zu 20 Stunden am Tag im Dauereinsatz, das war ihr G20-Alltag. Eine Bremer Polizistin berichtete, sie sei vor Erschöpfung im Stehen eingeschlafen. Tatsächlich gab es für die Einsatzkräfte nur ein paar Stunden Schlaf, dann ging es wieder in den fordernden Einsatz. Andere Beamte „holten sich paar Mützen Schlaf“ in Hauseingängen, wenn die Situation es zuließ. Doch beschwert hat sich darüber kaum jemand. Dass es keine Acht-Stunden-Schicht würde, war allen vorher bewusst, so die Bremer Polizistin. Und: „Wir lebten in der Lage“.

Ein Akt der Solidarität: HSV-Trainer Markus Gisdol (Bildmitte, im Hemd) zu Besuch bei Einsatzkräften der Polizei. Nach deren Angaben war es ihm „ein privates Anliegen, seinen Respekt und seine Wertschätzung für unsere Kollegen auszudrücken“.
Foto: © Polizei Hamburg
Der Dank, der den Polizeibeamten zuteilwurde, war mehr als verdient. Und nicht nur Politiker waren es, die den Ordnungskräften Anerkennung für das Geleistete zollten. Hamburger Bürger versorgten Polizisten mit Getränken und Essen und begrüßten sie oftmals mit hochgerecktem Daumen. Selbst im Schanzenviertel, wo außer Extremisten auch einfache Bürger leben.

Eine Bürgerin postete auf Facebook: „Der Polizei Hamburg und allen bundesweiten Kräften vor Ort intensiven Dank für das aktuelle Vorgehen zum G20-Gipfel. Die Livebilder aus Hamburg machen fassungslos, und ein Eingreifen ist mehr als notwendig. Diesen linksextremen Radikalen darf keinerlei Freiraum zur Vorbereitung gefährdender Straftaten eingeräumt werden.“

Aber waren die Gewaltexzesse nicht vorhersehbar? Bundeskriminalamt, Verfassungs- und Staatsschutz hatten vorab durchaus zutreffende Lagebilder geliefert. Das BKA hatte beispielsweise ausdrücklich vor „kreativen Aktionsformen“ gewarnt, die ja dann auch tatsächlich zu beobachten waren.

Dennoch war die Intensitätsstufe der Gewalt selbst für erfahrene Polizeibeamte überraschend. „Da war nach oben absolut keine Luft mehr“, sagt ein niedersächsischer Beamter. Gewalttätige Demos sind zwar aus Frankfurt und zuletzt auch aus Berlin sattsam bekannt. Dennoch gab es in Hamburg ein erschreckendes Novum, eine Falle, bei der der Tod von Polizeibeamten bewusst in Kauf genommen wurde. Und ein Ausmaß des Hasses, wie es sich bisher in dieser Form nicht offenbart hatte.

Im Internet hatte es vor Aufrufen, gewimmelt, die den „worst case“, das Schlimmste, erwarten ließen. „Gemeinsam G20 grillen!“ (Antikapitalistische Linke München), war noch eine der eher gemäßigten Parolen. „Wir werden die Kolonnen der Politiker stoppen, wir werden sie angreifen, wir werden die Ströme des Kapitalismus im Hafen angreifen". Und: „Daher Guerillataktiken anwenden – das Terrain nutzen, Verwirrung stiften, Fehlalarme auslösen. Den Gegner durchschauen – vom Gegner lernen. Reaktionen kalkulieren“ sind nur zwei Beispiele.

Nach freier Meinungsäußerung, nach demokratisch motivierter Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit klingt das nur bedingt. Und auch nicht nach purem zivilem Ungehorsam. Eher nach Bürgerkrieg, nach Kampfansage an Staat, Gesellschaft und Grundordnung. Kurz: nach anarchistischer „Propaganda der Tat“.

Schon im Vorfeld wurden bedenkliche Handlungen mit verharmlosenden, verschleiernden Begriffen versehen. Es war vom Durchfließen von Polizeiketten die Rede. Jeder Blick in die Gefangenensammelstelle (Gesa) in Hamburg-Harburg, die auch kurz "Neuland" genannt wurde.
Foto: © Polizei Hamburg
weiß: Polizeiketten kann man nur durchbrechen, dabei schwerste Verletzungen in Kauf nehmend. Und statt von Plünderungen wurde von Aneignungsaktionen gesprochen. Soft-Begriffe für Hardcore-Aktionen.

Direkt in Hamburg gab es gleich drei Gruppierungen, die nach Kräften gegen den G20-Gipfel trommelten. Die Autonomen, die Interventionistische Linke, die autonome Ziele salonfähig machen will, und der Rote Aufbau Hamburg. Von Gewalt haben sich sämtliche dieser Gruppierungen nicht oder nicht eindeutig distanziert.

Schon lange vor dem Gipfel hatte die Wortführerin der Interventionistischen Linken, die Halb-Amerikanerin Emily Laquer (Bekenntnis: „Ich bin eine Kommunistin des 21. Jahrhunderts“) ihr besonderes Verhältnis zur Gewalt erkennen lassen. „Ein abgebranntes Auto ist immer noch Sachbeschädigung.“ Und: Auch die Suffragetten hätten ihre Forderungen mit Gewaltakten durchgesetzt. „Die Kriminellen von heute sind oft die Helden von morgen“, erklärte sie gegenüber der „Zeit“.

Andreas Blechschmidt, einer der Wortführer der Linksautonomen und der „Roten Flora“, ließ es gleichfalls nicht an Deutlichkeit missen. Bereits 2009 erklärte er gegenüber dem „Hamburger Abendblatt“: „Gewalt als politisches Mittel schließe ich nicht aus“. 2011 betonte er gegenüber dieser Tageszeitung, es sei „politisch wichtig, den Rahmen des Legalen zu überschreiten“. Wenige Tage vor dem Gipfel machte er im ARD-Magazin Report Mainz deutlich: „Linker Protest ist in der ganzen Geschichte der Bundesrepublik und der neuen Linken immer auch mit Formen von militantem Widerstand verbunden gewesen.“ Militanz sei „eine bewusste Regelübertretung“. Es sei ja klar, „dass wir nicht die katholische Pfadfinderjugend versammeln“.

Der Rote Aufbau Hamburg ließ schließlich verlauten: „Mit uns gibt es Molotow-Cocktails statt Sekt-Empfang. […] Wenn G20 nach Hamburg kommt, dann brennt die ganze Stadt.“

In der Echtlage bestätigte sich, dass dies keinesfalls leere Drohungen waren. Es waren vor allem vier Aktionsformen und Phänomene, die der Polizei Probleme bereiteten. Die Fünf-Finger-Taktik, die Vermummung, die Guerilla-Taktik und eine neue Stufe der Gewalt, die selbst bisher bekannte Exzesse toppte.

Die Fünf-Finger-Taktik

Das ist eine relativ alte Taktik, wobei es durchaus auch mehr als fünf Finger sein können. Schon in Gorleben oder aktuell in Frankfurt (Einweihung des EZB-Neubaus) oder Heiligendamm/Schloss Elmau (Veranstaltungsorte kleinerer Gipfel) wurde sie angewandt. Das Prinzip: Gemeinsam starten, getrennt „schlagen“, wenn es Hindernisse gibt. Treffen beispielsweise Demonstrationszüge auf Polizeiketten, teilen sie sich in mindestens fünf Finger auf. Die einzelnen Gruppen versuchen dann, auf unterschiedlichen Wegen die Absperrungen zu durchbrechen. Oft sind bei dieser Taktik die jeweiligen Gruppenmitglieder andersfarbig gekleidet, oder aber der relevante „Finger“ wird durch unterschiedliche Fähnchen gekennzeichnet damit jeder Demonstrant weiß, wo er hingehört. Die Taktik wird auch bei der Auflösung von Demonstrationen angewandt. Nach einem vorher festgelegten Fünf-Finger-Muster laufen die Teilnehmer davon, um sich möglicherweise an einem anderen Ort wieder zu vereinen.

Die Vermummung ist ein weiteres Problem. In Hamburg ist sie gemäß Versammlungsgesetz eine Straftat. Mit allgemeinen Persönlichkeitsrechten, die viele Maskierte für Der Transferkorridor für die G20-Staatsgäste rund um die Hauptveranstaltungsstätte, die Messehallen in Hamburg.
Foto: © Polizei Hamburg
sich in Anspruch nehmen, hat diese Camouflage wenig zu tun. „Wer sich vermummt, will meist, ohne erkannt zu werden, Straftaten begehen“, so sieht es Gerhard Kirsch, Polizeihauptkommissar und Vorsitzender der Hamburger Gewerkschaft der Polizei. Deshalb kommt es allein um die Frage, Vermummung ja oder nein, zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. So wie jüngst in Hamburg.

Die Guerilla-Taktik ist für die Polizei nicht unbekannt

Die Guerilla-Taktik ist eine jüngere, aber keineswegs unbekannte Taktik. Entweder teilen sich Ein Bild, das für sich spricht. Ein zerstörter Polizeihelm.
Foto: © Polizei Hamburg
Demonstrationszüge bei Hindernissen in Kleingruppen von zwei bis drei „Aktivisten“ auf oder es wird von Anfang an mit Kleingruppen operiert. So war es in Hamburg. Kleine, aber schlagkräftige Gruppen zogen randalierend und brandschatzend durch eine Vielzahl von Straßen. Für die ohnehin stark geforderte Polizei war es unmöglich, an so vielen Orten gleichzeitig zu sein. Eine weitere, in Hamburg beobachtete Variante. Nach der Randale ziehen sich die Täter blitzschnell unauffällige Kleidung an, die es ihnen ermöglicht, in normale Passanten- oder Demonstrantenströme einzutauchen. Ganz nach „Altvater“ Maos Devise, ein Partisan müsse sich wie ein Fisch im Wasser bewegen.

Es ist wie bei bewaffneten Konflikten. Die Guerilleros wissen genau, dass sie den Gegner in offener Feldschlacht nicht bezwingen können. Sie sind zu wenige und haben die schlechtere militärtechnologische Ausrüstung. Also wird aus der Unterlegenheit eine Tugend gemacht. Kleingruppen, vor allem, wenn es viele sind, können mit ihrer Wasserwerfer wurden auch eingesetzt, um von Straftätern gelegte Brände zu löschen.
Foto: © Polizei Hamburg
Nadelstichtaktik durch reguläre Truppen allein nicht wirksam genug bekämpft werden. Schiere Masse bringt wenig, wenn der Gegner bewusst kleinteilig agiert. Genauso ist es im übertragenen Sinne bei geschlossenen Polizeiformationen. Sie sind das effektive Gegenüber für Demonstrantenmassen. Und nicht für Kleingruppen, die selbstständig an unterschiedlichen Orten agieren oder, besser gesagt, randalieren.

8.877 Straßen, Brücken und Plätze gibt es in Hamburg. Diese Vielzahl mit durchschnittlich zwei Einsatzkräften plus Koordinierungsstäben abzusichern, hätte bedeutet, nahezu 80 Prozent der eingesetzten Beamten allein mit dieser Aufgabe zu binden. Der bescheidene Rest wäre dann für den Schutz der Gipfelteilnehmer (darunter 40 VIPs der höchsten Gefährdungsstufe), den Objektschutz, die Aufgabenwahrnehmung bei fast 30 genehmigten Aufzügen und Veranstaltungen und die personalintensive und ressourcenraubende Routensicherung der Protollstrecken zuständig gewesen. Ein Unding, wie es sich auch polizeifernen Beobachtern erschließt.

Die Hinterlassenschaften der Ausschreitungen
Foto: © Polizei Hamburg
Ein gesamtes Stadtgebiet abzusichern, wäre mit akzeptablen Methoden noch nicht einmal in totalitären Systemen mit hundertprozentiger Sicherheit möglich. „Die Polizei richtet ihre Präsenz nach Wahrscheinlichkeiten, nach naheliegenden Bedrohungsszenarien aus“, erläuterte Polizeipräsident Meyer in einem Interview mit Spiegel online. „Das Angreifen in kleinen, schlagkräftigen Gruppen, das ständige Wechseln der Camouflage, zwischen Vermummung und harmloser Kleidung, ist für die Polizei ein kaum zu lösendes Problem“.

Tückische Falle

Und last, but not least die schlimmste Erscheinungsform: Ein Teil der Hamburger Straße Schulterblatt war als tückische Falle angelegt. Es ist jene Straße des Schanzenviertels, in der die „Rote Flora“, das maßgebliche Zentrum der Linksextremisten und Autonomen, residiert. Auf den Dächern mehrerer Gebäude dieses Straßenzuges hatten sich vermummte Gestalten postiert. Bei dem in den Medien immer wieder erwähnten Haus Schulterblatt 1 war der Aufstieg zum Dach besonders leicht möglich. Dieses Gebäude war geradezu einladend mit einem Baugerüst versehen. 13 Vermummte, darunter vier Russen, warteten dort auf die Ankunft der Polizeikräfte. Die Extremisten hatten sich mit Gehwegplatten, Flaschen, Steinen und anscheinend auch Molotow-Cocktails „bewaffnet“, um damit Polizeibeamte anzugreifen. Das berichteten Hubschrauberbesatzungen, die über dem Hotspot der Linksautonomen kreisten, sowie Verdeckte Ermittler und „Szenebeobachter“, die in das Schanzenviertel eingeschleust worden waren.

Großreinemachen nach dem G20-Einsatz. Bewohner des Schanzenviertels beseitigen die Spuren der brennenden Barrikaden auf der Pflasterung.
Foto: © Polizei Hamburg
Doch damit nicht genug. Hinter einer brennenden Barrikade am Anfang des Schulterblatts lauerten rund 300 Militante, die meisten von ihnen vermummt. Eine gängige Praxis der Militanten. Die hohe Anzahl von „Demonstranten“ bietet die Möglichkeit, dass Straftäter aus der Mitte dieser Masse agieren, und so als Steinewerfer oder Stahlkugelschützen unerkannt bleiben. Im unmittelbaren Umkreis der Extremisten waren Hunderte von Steinen aufgestapelt. Besonders tückisch: Der Deckel eines Gullys war mit dem erkennbaren Ziel entfernt worden, dass ein Polizeibeamter in der Dunkelheit in das Loch tritt und sich verletzt.

Wie gefährlich die Stahlgeschosse sind, wurde deutlich, als eines dieser Projektile die schwere Panzerung eines Wasserwerfers durchschlug. Einsatzleiter Hartmut Dudde präsentierte Fotos bei der Pressekonferenz im Anschluss an den Einsatz. Hätte diese Kugel einen Menschen getroffen, er wäre mit höchster Sicherheit gestorben.

Die „Feuerwehrtruppen der Polizei“

„Das war definitiv eine Terrorlage, die mit unkalkulierbaren Gefahren für Leib und Leben der eingesetzten Kräfte verbunden war“, sagt ein führender Polizeibeamter zur Lage am Schulterblatt. Klar ist: Bereitschafts- und Schutzpolizisten sind für solche Lagen nicht explizit ausgebildet. Das ist die Sache von SEKs, MEKs, BFE + der Bundespolizei und anderer Spezialeinheiten, die auch über die adäquate Ausrüstung und Bewaffnung verfügen. So wie er sahen es auch viele andere Führer und Angehörige der Hundertschaften, die auf Befehl der Einsatzleitung planmäßig gegen das Schulterblatt vorrücken sollten. Sie widersetzten sich dem Marschbefehl. Vorrücken ja, aber zuvor müssten die Vermummten von den Dächern vertrieben werden. Auch Einsatzleiter Dudde nahm schließlich Abstand von seiner anfänglichen Weisung, und es wurden Spezialeinsatzkommandos herbeigerufen.

Die „Feuerwehrtruppen der Polizei“ befanden sich jedoch im Gipfeleinsatz, zum Beispiel bei der Absicherung des VIP-Konzertes in der Elbphilharmonie. Eigentlich waren die SEKs und die weiteren Einsatzeinheiten als Eingreifreserve für Anschläge vorgesehen, aber die Realität und Intensität der Widerstandshandlungen machte diese Planung obsolet.

Allerdings bleibt die Frage offen, weshalb das eingerüstete Haus am Schulterblatt 1 nicht speziell gesichert wurde. Angeblich sei es nicht bis zur Einsatzleitung vorgedrungen, dass dort eine kapitale Aufstiegshilfe besteht, ist zu hören. Wenn das so stimmt, wäre es schwer zu verstehen.

Chef der Hamburger Gewerkschaft der Polizei (GdP): Polizeihauptkommissar Gerhard Kirsch.
Foto: © GdP Hamburg
Doch der Großeinsatz zum G20-Gipfel hat nach Aussagen von Gerhard Kirsch, dem Hamburger Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), nicht nur Schattenseiten. Es gebe auch positiven Aspekte. So habe das Einsatzgeschehen zu einem Zusammenrücken des Hamburger Polizeiapparates geführt. Der Zusammenhalt zwischen Kriminal- und Schutzpolizei sowie den Verwaltungsmitarbeitern habe einen echten Schub erfahren, freut sich der GdP-Landeschef.

Ein zweiter Aspekt sei, dass die zahlreichen massiven Grenzüberschreitungen der Linksautonomen nunmehr ernste Konsequenzen zur Folge hätten. Der öffentliche Druck, nicht nur der Medien, habe nach den bekannten bürgerkriegsähnlichen Vorkommnissen enorm zugenommen, so der Polizeigewerkschafter.

Nicht nur in den Medien mehrten sich die Rufe nach einer Schließung der Roten Flora. Die Bevölkerung solidarisiere sich zunehmend mit der Polizei. Dadurch sei ein Handlungsdruck entstanden, wie es ihn bislang in dieser Form nicht gegeben habe. Jetzt würden die Strukturen der Linksautonomen durchforstet. Die Mitglieder der Sonderkommission, die die zahlreichen Gewaltakte aufklären soll, seien aus verständlicher persönlicher Betroffenheit hoch motiviert. Die linksautonome Szene hat sich ein riesiges Eigentor geschossen, so formuliert es Gerhard Kirsch.

In der Tat: die Exzesse könnten zum Bumerang für die „Szene“ werden. Der Bogen ist definitiv überspannt. Die weitere Entwicklung bleibt jetzt abzuwarten.

Über den Autor
Klaus Henning Glitza
Klaus Henning Glitza
Klaus Henning Glitza, Jahrgang 1951, ist Chefreporter dieser Online-Publikation. Der Fachjournalist Sicherheit erhielt 2007 den Förderpreis Kriminalprävention; seit vielen Jahren ist er Mitarbeiter im Verband für Sicherheit in der Wirtschaft Norddeutschland und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik. Vormals war er Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und dort u. a. zuständig für Polizeiangelegenheiten.
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