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Die Ermäßigung von Verwarnungsgeldern

Prof. Dr. jur. Dieter Müller, Institut für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen 1

Polizeibeamte, aber auch Außendienstmitarbeiter2 der kommunalen Verkehrsüberwachung begegnen im Zusammenhang mit ihrer Aufgabe der Verkehrsüberwachung von Verkehrsteilnehmern und ihren Fahrzeugen oft Betroffenen, die zwar allem Anschein nach glaubwürdig und reumütig Einsicht in ihr zuvor an den Tag gelegtes verkehrsrechtliches Fehlverhalten zeigen, gleichzeitig aber auf jede nur erdenkliche Weise mit argumentativen Mitteln versuchen, das im Anhang der Bußgeldkatalog-Verordnung (BKatV)3, dem Bußgeldkatalog – respektive im länderspezifischen Bundeseinheitlichen Tatbestandskatalog (BTKat)4 – vorgesehene Verwarnungsgeld wenn irgend möglich um einige Euro herunter zu handeln.5 Dieselbe Überlegung gilt auch im schriftlichen Verwarnungsverfahren, wenn sich Betroffene im Rahmen ihrer Anhörung tatsächlich einmal zur Sache äußern, ihre Verstöße zugeben und gleichzeitig um eine „milde“ oder um eine „gerechte“ Bestrafung bitten

Nicht selten lassen sich Polizeibeamte wie auch die Mitarbeiter des kommunalen Vollzugsdienstes zunächst in einem ersten Schritt auf dieses Zwiegespräch ein und willigen dann wenig später auch in die erbetene Ermäßigung ein, um den Einzelfall zügig und vor allem ohne einen schriftlichen Vorgang zu einem allseits gütlichen Ende bringen zu können.

Dieses Verhalten begegnet grundsätzlichen Bedenken. Einerseits haben die Betroffenen ein Recht darauf, dass auch die Ermäßigung eines Verwarnungsgeldes als rechtmäßiges Verwaltungshandeln auf der berechenbaren Grundlage des für alle geltenden Ordnungswidrigkeitenrechts vorgenommen wird. Andererseits hat der Staat ein Recht darauf, dass seine Beamten ihre Verwarnungspraxis rechtsstaatlich berechenbar umsetzen.

Rechtsgrundlagen für die Herabsetzung von Verwarnungsgeldern

Als rechtlicher Grund für die Herabsetzung des Verwarnungsgeldes wird von den Beamten die bundeseinheitliche Regelung des BKatV i.V.m. der entsprechenden Regelung im Bundeseinheitlichen Tatbestandskatalog herangezogen, der jedoch im Gegensatz zur BKatV lediglich den Rechtsrang einer Verwaltungsvorschrift einnimmt.

Bei der Ermäßigung des Verwarnungsgeldes können sich Polizeibeamte, soweit mit der Norm bekannt, dabei auf die bundesweit einheitlich die Verwarnungspraxis regelnde Rechtsvorschrift des § 2 Abs. 5 BKatV stützen. Diese Vorschrift lautet:

 

§ BKatV
 
(5) Ist im Bußgeldkatalog ein Regelsatz für das Verwarnungsgeld von mehr als 20 Euro vorgesehen, so kann er bei offenkundig außergewöhnlich schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen bis auf 20 Euro ermäßigt werden.

Bestärkt werden die Beamten, die monetarische Milde walten lassen wollen, durch die der BKatV entsprechende Regelung im Vorwort zum Bundeseinheitlichen Tatbestandskatalog unter Nr. 7.4.9, die lautet:

 

Ist im Bußgeldkatalog ein Regelsatz von mehr als 20,00 Euro vorgesehen, so kann er bei offenkundig außergewöhnlich schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen bis auf 20,00 Euro ermäßigt werden (§ 2 Abs. 5 BKatV).

 

Eingangsüberlegung für die Beamten ist, ob sie ihr Ermessen zur Herabsetzung eines Verwarnungsgeldes überhaupt ausüben wollen. Sie können auch darauf verzichten, jedoch dürfen sie nicht willkürlich, mal so oder mal so, je nach Gefühl entscheiden, sondern ihr Ermessen stets nur auf sachlicher Grundlage ausüben.

Zudem benötigen die Beamten einen Anlass, um in ihr Ermessen eintreten zu können. Diesen Anlass können sie sich selbst geben, indem sie überschlägig die Anwendbarkeit der beiden vorgenannten Vorschriften als eine Form ihrer üblichen Verwaltungspraxis prüfen oder wenn sie durch den Betroffenen daraufhin angesprochen werden.

Es ist allerdings zweifelhaft, ob die bislang von zahlreichen Beamten der Polizei geübte Verwarnungspraxis, die sich in der Herabsetzung von Verwarnungsgeld äußert, rechtmäßig ist. Beiden eben genannten Rechtsquellen der BKatV und des BTKat ist gemein, dass sie sich als Voraussetzung für die Herabsetzung des Verwarnungsgeldes auf das Vorliegen „offenkundig außergewöhnlich schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse“ beim Betroffenen beziehen. Diese in ihrem Wortlaut und Umfang komplizierte Begriffsschöpfung ist rechtstechnisch gesehen ein unbestimmter Rechtsbegriff und bedürfte vor deren Anwendung in der polizeilichen Rechtspraxis zunächst einmal einer einheitlichen Auslegung.

Wenn wir nun die Ermäßigungsregel in ihrem Wortlaut etwas näher betrachten, ergibt sich für den unbestimmten Rechtsbegriff der „offenkundig außergewöhnlich schlechten wirtschaftlicher Verhältnisse“ beim Betroffenen lediglich für die Wortkombination wirtschaftliche Verhältnisse ein gesetzlicher Anknüpfungspunkt, der die Auslegung erleichtert.

Im Rahmen der allgemeinen gesetzlichen Rechtsgrundlage für die Höhe von Geldbußen im Recht der Ordnungswidrigkeiten hebt § 17 OWiG in seinem dritten Absatz insbesondere auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters ab:

 

§ 17 OWiG
 
(3) Grundlage für die Zumessung der Geldbuße sind die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der Vorwurf, der den Täter trifft. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters kommen in Betracht; bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten bleiben sie jedoch in der Regel unberücksichtigt.

 

Nach dieser gesetzlichen Grundlage bleibt also für eine Herabsetzung des vorgesehenen Verwarnungsgeldes nur für diejenigen Ausnahmefälle Raum, die von der Regel abweichen. Ein derartiger Ausnahmefall ist gemeint, wenn die beiden Handlungsvorschriften des § 2 Abs. 5 BKatV und Nr. 7.4.9 der Vorbemerkungen zum BTKat von „offenkundig außergewöhnlich schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen“ beim Betroffenen sprechen.

Die Entscheidung darüber, ob offenkundig außergewöhnlich schlechte wirtschaftliche Verhältnisse beim Betroffenen vorliegen, müssen Polizeibeamte und kommunale Vollzugsbedienstete regelmäßig auf der Straße vor Ort des Geschehens treffen, und zwar aufgrund der Anhaltspunkte, die sie mit eigenen Augen sehen können und beurteilen müssen.

„Offenkundig“ müssten die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse sein, also für jeden Betrachter sichtbar. Aber wodurch dokumentiert sich diese Sichtbarkeit?

Indizien für schlechte wirtschaftliche Verhältnisse könnten z. B. eine verschlissene Bekleidung des Betroffenen oder der bei einem Betrachten der Karosserie schlechte äußere Zustand des Kraftfahrzeuges sein. Beide Beispiele können aber ebenso gut auf eine allgemeine Nachlässigkeit des im Übrigen finanziell nicht in Armut lebenden Betroffenen hindeuten, so dass der Nachweis der Offenkundigkeit vor Ort des Geschehens niemals mit letzter Sicherheit geführt werden könnte. Fraglich ist aber schon, ob überhaupt ein Nachweis geführt werden muss oder ob nicht ein Glaubhaftmachen dieser besonderen Verhältnisse den Anforderungen der beiden Ermessensvorschriften genügt.

„Außergewöhnlich schlecht“ müssen die wirtschaftlichen Verhältnisse allerdings zusätzlich sein und damit de facto weit von dem im Normalfall vorhandenen Maß nach unten hin abweichen. Es muss, um dem allgemeinen Verwaltungsrecht eine Formulierung zu entlehnen, dem Betroffenen quasi auf seine Stirn geschrieben sein, dass er in wirtschaftlich schlechten Verhältnissen lebt.

Man müsste für das Vorliegen oder Glaubhaftmachen dieser Bedingungen sicherlich von einem Einkommen des Betroffenen ausgehen, das sich im Rahmen des maßgeblichen Satzes des Arbeitslosengeldes II oder Sozialgeldes bewegt, der bekanntlich den Hilfeempfängern erlaubt, äußerlich nicht als Transferleistungsempfänger erkennbar am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Ein Kraftfahrzeug kann sich ein solche Empfänger allerdings nur dann halten, wenn er neben den Transferleistungen noch über weitere Einkünfte verfügt, da die Regelsätze nach dem ihnen zugrunde liegenden Warenkorb keine Unterhaltungskosten für Kraftfahrzeuge vorsehen.

Eine andere Sachlage ergibt sich in den Fällen, in denen der Hilfeempfänger als solcher den kontrollierenden Personen bekannt ist oder wenn der Verkehrsteilnehmer mit einem Kfz unterwegs ist, das nicht auf ihn zugelassen ist. Dieser Sachverhalt ist häufig bei Studenten anzutreffen, die mit Kfz an ihren Studienorten unterwegs sind, die auf Familienmitglieder zugelassen sind und auch finanziell von der Verwandtschaft unterhalten werden. Da Studenten regelmäßig auch mit Studentenausweisen ihren Status nachweisen können und außer über BAföG-Leistungen und/oder familiären Unterhaltsleistungen höchstens noch über übliche studentische Zusatzverdienste verfügen, fallen sie ebenfalls in die Kategorie „außergewöhnlich schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse“ und Verwarnungsgelder können daher ermäßigt werden.

Polizeibeamte oder Vollzugsbedienstete können nach alledem das Vorliegen dieser Voraussetzung „offenkundig außergewöhnlich schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse“ beim Betroffenen vor Ort mit letzter Sicherheit weder feststellen noch überprüfen, so dass eine Entscheidung, das Verwarnungsgeld herab zu setzen, regelmäßig einer exakt nachweisbaren sachlichen Grundlage entbehrt. Zur Lösung des jeweiligen Falles hilft eine Anleihe im Zivilrecht, wo die Glaubhaftmachung öfter eine Rolle spielt.

Nach den vom BGH zu § 294 ZPO entwickelten Grundsätzen ist eine Tatsache dann im Sinne von § 236 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. § 294 ZPO glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft.6 Diese Voraussetzung ist regelmäßig dann erfüllt, wenn bei der erforderlichen umfassenden Würdigung der Umstände des jeweiligen Falls mehr für das Vorliegen der in Rede stehenden Behauptung spricht als dagegen. Daher können Polizeibeamte sich auf ihren gesunden Menschenverstand und ihre Erfahrungswerte verlassen und dem Betroffenen seine Argumentation entweder glauben und das Verwarnungsgeld ermäßigen oder sie glauben ihm eben nicht und belassen es bei dem für den Verstoß fälligen Regelsatz.

Alternativ zu den vorgenannten Überlegungen könnte die Möglichkeit des § 2 Abs. 2 BKatV, mündlich zu verwarnen, ohne ein Verwarnungsgeld zu erheben großzügig angewendet werden, jedoch nicht ohne die Wahrung der Pflicht aus § 2 Abs. 1 BKatV, die Verwarnung mit einem deutlichen Hinweis auf die Verkehrszuwiderhandlung zu verknüpfen. Diese Praxis schafft Akzeptanz beim Verkehrsteilnehmer als Betroffenen und ist dazu geeignet, den vielfach durch eine überbordende Ahndungspraxis hinsichtlich bestimmter Delikte verlorenen Kredit an Vertrauen in rechtmäßiges Verwaltungshandeln zurück zu gewinnen. Überdies gewinnen Polizeibeamte und Kommunalbedienstete zusätzlichen Freiraum für den notwendigen Blick auf die dringenderen Probleme in der Verkehrsüberwachung, die sich problemlos in der örtlichen Unfallbilanz ablesen lassen können.

Verbot der Ermäßigung eines Verwarnungsgeldes auf Beträge unter 20 Euro

Nach den bereits genannten Bestimmungen besteht für Ermäßigungen unter Beträge von 20 Euro keine Rechtsgrundlage. Da jedoch die Vorschriften den Wortlaut „bis auf 20 Euro“ wählen, ist damit lediglich eine absolute Untergrenze festgelegt und es kann ein höheres Verwarnungsgeld sehr wohl auf Beträge oberhalb von 20 Euro ermäßigt werden wie etwa ein Verwarnungsgeld von 55 Euro auf 30 Euro oder ein Verwarnungsgeld von 40 Euro auf 25 Euro usw., jedoch nur im Rahmen der 5-Euro-Schritte des § 2 Abs. 3 BKatV.

 

Quellen:

1  Der Autor, von seiner Ausbildung her Volljurist (Studium an den Universitäten Göttingen und Hannover, Referendariat am OLG Celle) und Polizeibeamter (Niedersachsen), ist hauptberuflich Dozent für Verkehrsrecht und Verkehrsstrafrecht an der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/Oberlausitz.

2  Wenn im Folgenden lediglich Beamte angesprochen werden, dient diese Formulierung lediglich der sprachlichen Vereinfachung und bezieht die Außendienstmitarbeiter der Kommunen ebenfalls ein.

3  Verordnung über die Erteilung einer Verwarnung, Regelsätze für Geldbußen und die Anordnung eines Fahrverbots wegen Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr vom 14. März 2013 (BGBl. I S. 498), zuletzt geändert durch Artikel 5 der Verordnung vom 23. März 2017 (BGBl. I S. 522). Als kostenloser Download erhältlich in jeweils aktueller Form über den Downloadbereich der Homepage des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucher unter der Adresse https://www.gesetze-im-internet.de/bkatv_2013/.

4  Bundeseinheitlicher Tatbestandskatalog, gleichzeitig mit der BKatV in Kraft getreten am 1.1.2002 und bekannt gegeben durch den Präsidenten des Kraftfahrt-Bundesamtes (vgl. BRat-Drucks. 571/01). Der BTKat ist jeweils in aktueller Fassung erhältlich im kostenfreien Download unter www.kba.de; derzeitiger Stand: 11. Aufl. vom 17.10.2016.

5  Oft erfolgt ein solcher Versuch, nachdem die Betroffenen einsehen mussten, dass ihr zuvor vorgetragenes Anliegen, ganz auf ein Buß- oder Verwarnungsgeld zu verzichten, nicht auf fruchtbaren Boden gefallen ist.

6  BGH, Beschl. v. 30.03.2017 – III ZB 50/16, Rn. 10, juris, auch zum Folgenden.