Skip to main content

Das sehr modern anmutende cartesianische Verständnis der Funktion des Nervensystems: sensible Reize (hier das Gesehene) werden von Nerven ins Gehirn geleitet, von dort gelangt die umgewandelte Information wieder über Nerven an die Erfolgsorgane (Muskeln). Descartes vermutete als Schnittstelle zwischen Geist und Materie fälschlicherweise die Zirbeldrüse im Gehirn.
© Foto: René Descartes(?), Wikimedia Commons | Lizenz: Public domain / CC0

Ab-Lenkung gefällig?!

Von Prof. Dr. Michael Schreckenberg

Im Grunde gibt es doch nichts Schöneres als über die Zukunft zu spekulieren. Nicht dass einen später die irgendwann einmal angestellten Spekulationen noch interessieren würden. Schnee vom gestern, obwohl angesichts unserer aktuellen Klimaentwicklung wohl eher von vorgestern.

Obwohl das menschliche Gehirn durchaus „flexibel“ ist, sind Erinnerungen nicht objektiv, sondern zutiefst subjektiv. So titelte DER SPIEGEL in seiner ersten Ausgabe 2016 „Das trügerische Gedächtnis“. Da verschwinden natürlich im Laufe der Zeit Dinge, das hat mit Demenz erstmal gar nichts zu tun. Übrigens: Gegen das Vergessen soll man viel Fisch essen, doch soll man diesen wiederum nicht essen, weil es nicht mehr genug davon gibt. Aber das hat man beim Essen dann auch schon wieder vergessen …

Nein, man kann dem Gedächtnis Ereignisse „einpflanzen“, die nie passiert sind. Menschen erinnern sich auf einmal (sehr genau!) an Straftaten, die sie nie begangen haben. Eigentlich ein toller Gedanke: Alles Schlechte, was man getan hat, ist eigentlich nur Einbildung. Ein mentaler Virus sozusagen, den es zu bekämpfen gilt. Und die beste Medizin dabei ist sowieso: Ablenkung!

Warum ist der Mensch so anfällig dafür? Bei der Sache zu bleiben, scheint in der Evolution nicht sonderlich erfolgreich gewesen zu sein. Die Veränderung ist das Erfolgsrezept. Klar, Darwin wusste das auch schon. Aber bestimmte Tätigkeiten erfordern nun mal eine gewisse Konstanz. Das hat nichts direkt mit „Tanzen“ zu tun. Aber ein Seiltänzer kann auch nicht mal kurz ausruhen. Was man beim „Antanzen“ noch so erlebt, sahen wir ja dieser Tage in Köln.

Neuester Trick der Ablenkung: „Können Sie Deutsch?“ Klar, Ablenkungs-Zeitung vors Gesicht gehalten, von hinten nähern sich die UFO’s: Unidentifizierte Flucht-Objekte, die sich beim gezielten Hinschauen in Nichts auflösen. Irgendwie fühlt man sich an die philosophische Richtung des „Konstruktivismus“ erinnert, der besagt, dass Dinge sowieso erst durch Hinschauen entstehen. Ansonsten sind sie einfach nicht da. Schön wär‘s …

Lenken ist ja auch an sich eine aktive Tätigkeit, sollte man jedenfalls meinen. Heute entspricht das mehr der Zuschauerposition: erst dann eingreifen, wenn ein Fehler droht. Aber dann ist es häufig schon zu spät. Ein wunderschönes Beispiel dafür ist die Politik. Ablenkung ist zum Paradigma schlechthin geworden. Selbst Kriege sind aus diesem Grunde angezettelt worden. Aber auch das funktioniert nicht immer, heute sind die Möglichkeiten aufgrund der Transparenz durch Vernetzung ziemlich begrenzt. Von der Flüchtlingsfrage kann man jetzt nicht mehr ablenken.

Die Wissenschaft kennt diese Phänomene schon lange. Die „nichtlineare Dynamik“ weiß um die selbstverstärkende Wirkung von Prozessen, die irgendwann ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, egal an welchen Rädern dann noch versucht wird zu drehen. Insoweit bleibt die Politik in ihrem eigenen System gefangen, unfähig drohnengleich das Ganze aus einer höheren Perspektive zu betrachten.

Nun leben wir auf dieser Erde und müssen uns mit den Gegebenheiten im weitesten Sinne abfinden. Eigentlich lieben wir ja die Ablenkung. Und die ganzen Apps wollen uns ja helfen, aus der eingegrenzten Umgebung herauszutreten. Werden wir aber konfrontiert mit der physikalischen Realität, so werden die Grenzen schnell klar.

Und da helfen eben auch alle Apps nichts (welchen Geschlechts auch immer: zugelassen ist laut Duden übrigens „die“ und „das“, eher selten auch „der“ App; der Begriff ist nebenbei bemerkt wohl nicht, wie häufig vermutet, von Apple abgeleitet!). Eine Autobahnbrücke kann man sich damit nämlich nicht „downloaden“. Die muss einfach da sein, auch wenn das Navi zuweilen anderer Meinung ist. Die ganze Umfahrerei hat sowieso ihre Grenzen, an die wir langsam (im wahrsten Sinne des Wortes!) stoßen. Den Geheimtipp von früher gibt es sowieso nicht mehr.

Was einen in der Folge dann immer so fasziniert, sind die Verschwörungstheorien, darein scheinen die Menschen ihre größten Phantasiereserven zu investieren. Und, seien wir mal ehrlich, sie amüsieren doch oft deutlich mehr als die realen Geschichten an sich. Es gibt ab April sogar ein großes europäisches Forschungsprojekt, das sich der „V-Theoriebildung“ widmen. Bevor das Projekt startet, hat man jedenfalls festgestellt, dass das kein Phänomen der multimedialen Neuzeit ist, sondern schon vor vielen Jahrhunderten gang und gäbe war.

Allerdings ist es heute einfacher, die Theorien zu verbreiten. Bielefeld lässt grüßen. Aus einer Partylaune heraus entstand Anfang der neunziger Jahre die sogenannte Bielefeldverschwörung. Aber Bielefeld hat sich gerächt. Und zwar mit der deutschlandweit erfolgreichsten Radarfalle auf der A2 am Bielefelder Berg. Sage und schreibe rund 50 Millionen Euro sind da seit 2008 „erblitzt“ worden. Einsamer Rekord. Grund genug für neue V-Theorien …

Datenskandale gehören heute zur Kultur wie Pizza und Currywurst. Wer nicht abgehört wird oder ein paar Zahlen fälscht, ist nicht mehr in, oder besser „on“. Eine Durchsuchung durch die Staatsanwaltschaft gehört zum guten Ton. Böse Zungen behaupten, man könne diese förmlich buchen. Aber sowieso sind Zahlen Teufelswerk, eine Überfütterung damit führt zu rechentechnischen Verdauungsproblemen mit ungeahnten Folgen.

Dem Menschen auf der Straße ficht das alles nicht an. Zu denken gibt allerdings, dass nach einer OECD-Studie Deutschland in Europa das einzige Land ist, in dem der gemeine Nutzer Sozialer Netzwerke dümmer (sorry: weniger gebildet ist) als der der Durchschnitt der Bevölkerung. Die Kommentare zu Meldungen ließen dies immer schon erahnen, jetzt ist es aber amtlich.

Was aber bedeutet das jetzt real auf der Straße. App hin, App her, ich möchte jetzt irgendwo hinfahren. Da sind nun immer mehr Hürden zu überwinden.

Der Fahrer von heute ist ja nicht nur wegen der Staus und der maroden Infrastruktur gestresst. Immer mehr kleine Helferlein im Fahrzeug erfordern seine Aufmerksamkeit. Sie wollen ihm auf Gedeih und Verderb das Leben, sorry: das Fahren, angenehmer gestalten. Immer mehr Funktionen eignen sie sich an. Der Sensorik scheinen dabei keine Grenzen gesetzt, doch der menschlichen Sensorik dagegen durchaus. Die ständige optische wie akustische Berieselung führt eher zur Senkung der Aufmerksamkeit als umgekehrt, zumal der Fahrer ja erst die Zeichen zu deuten verstehen muss.

Glaubt man aber aktuellen Untersuchungsergebnissen (von wem wohl? Na klar: ADAC, allerdings auch der Allianz), ist die größte Gefahr für den Fahrer und seine Aufmerksamkeit eine ganz andere: nämlich der/die Beifahrer/in. Streit und intensive Gespräche lenken am stärksten ab. Dabei wird dann nicht selten der Kopf emotionalisiert zur Seite gedreht, und ein kurzer Blindflug setzt ein. Bei 100 km/h sind dies pro Sekunde rund 28 Meter! Da übersieht man auch schon mal die eine oder andere Geschwindigkeitsbeschränkung. Da mittlerweile auch an verkehrlich unauffälligen Stellen ohne besondere Unfallgefahr geblitzt werden darf (dem „Blitzermarathon sei Dank!), ist dies ein besonders misslicher Umstand.

Die Liste der „natürlichen“ Ablenkungen lässt sich im Prinzip beliebig erweitern. Ob es sich dabei um Essen und Trinken, die Einstellung von Sitz oder Rückspiegel, das Bücken nach Gegenständen (ganz schlimm: brennende Zigarette, fällt wohin auch immer …) oder die Körperpflege inklusive Kleidung richten handelt, die Ab-Lenkung ist immer da. Nicht zu vergessen die so populären Hörbücher (stimmt das überhaupt noch?). Es soll ja Zeitgenossen geben, die extra Umwege fahren, um zu Ende hören zu können. Ein ganz neues Geschäftsfeld tut sich da auf: Navigation gekoppelt ans Hörbuch. Warum ist da noch keiner drauf gekommen?

Das sind aber nur die „Klassiker“. Zu denen gesellen sich in unserer Zeit eine ganze Reihe zeitraubender Nebenbeschäftigungen. Deren Aufwand bewegt sich durchwegs im Bereich von mehreren Sekunden. Die Tätigkeiten kennt jeder: die Bedienung des Fahrlichtes, der Klimaanlage, der Heckscheibenheizung, der Nebelschlussleuchte, usw. Einsamer Spitzenreiter ist hier das Suchen einer Radiofrequenz mit über 15 Sekunden, das wären bei Tempo 100 über 400 Meter mit, sagen wir mal, geteilter Aufmerksamkeit. Aber selbst beim Radio hören sind Teile meines Gehirns im Wellensalat der Sender unterwegs und lassen sich nur ungern zurücklenken.

Man kann nun natürlich über die genaue Größenordnung der ermittelten Werte diskutieren. An der Grundproblematik ändert das jedoch nichts, zumal die Gesamtsituation eher noch komplizierter wird, da neue Medien hinzukommen. Damit sind noch nicht einmal Navigationsgeräte gemeint, sie gehören ja mittlerweile zum festen Bestandteil des Fahrzeugs. Sie sind nach den erwähnten „Gesprächen“ übrigens die zweitschlimmsten Ablenker. Während der Fahrt wird mal kurz umgeplant, die Ansicht geändert oder einfach nur draufgeschaut. Wie von magischen Kräften wird die Fingerkuppe vom Display immer wieder angezogen.

Mit den ganzen Smartphones nimmt die Verlockung zum „Multitasking“ nochmals kräftig zu. Eigentlich verboten, werden reihenweise SMSse gelesen und verschickt, wobei Lesen deutlich aufwändiger zu sein scheint als Schreiben, das können die meisten mittlerweile fast blind. Auf der anderen Seite will das moderne Auto mir ja helfen und Dinge selber machen. Jede Menge Assistenten zum Spur Halten und Wechseln, Bremsen, Abstand halten, Einparken etc. treten mittlerweile an. Aber das Problem dabei ist, dass die Verantwortlichkeit immer (noch) beim Fahrer liegt. Und genau da entsteht die innere Zerrissenheit vieler Fahrzeuglenker.

Das Ergebnis spricht für sich. Jeder achte Unfall in Deutschland wird der Unaufmerksamkeit des Fahrers zugeschrieben, in der Schweiz jeder dritte. Der deutsche Wert ist wohl als untere Grenze anzusehen, real wird der Wert deutlich höher liegen. Es geht ein wenig das Gefühl für das Angemessene verloren, was erlaubt ist, wird auch ausgeschöpft.

Fünfzehn mal mehr Unfälle passieren unterhalb des erlaubten Limits durch nicht angepasste Geschwindigkeit. Der Blitzermarathon bringt die Menschen nicht dazu, angepasster zu fahren, sondern nicht schneller als erlaubt. Das ist auch nicht ungefährlich, da dann ständig auf den Tacho geschaut wird. Viele Fahren deutlich langsamer, um sich das zu ersparen. Als Folge wurden sogar „Gehorsamkeitsstaus“ gemeldet. Aber die Polizei hat mittlerweile sowieso etwas anderes zu tun als zu blitzen; von überall her kommen Absagen für das nächste Blitzlichtgewitter.

Doch die Zukunft wird noch ganz anders aussehen. Das Schlüsselwort heiß „Vernetzung“. Ständig stehen die Fahrzeuge in Kontakt zu irgendwas anderem. Das können andere Fahrzeuge sein oder einfach die „Stadt“. Da ist dann von „digitalen Erlebnisräumen“ die Rede. Ein weiter Weg ist das bis dorthin. Aber im Jahre 2050 sollen 70 Prozent der Menschen in Städten leben. Da müssen wir uns etwas mehr einfallen lassen als die Kommunikation mit der nächsten Ampel.

Vielleicht ist da auch, wie so oft, ein Blick in die Natur ganz nützlich. Wo wir uns mit Sensorik und Apps künstlich weiterhelfen, haben Tiere Fähigkeiten erlangt, die deutlich über unsere hinausgehen. Denn die sind nicht vernetzt wie wir.

Dazu nur ein Beispiel aus meiner Uni. Dort haben kürzlich Kollegen eine bahnbrechende Entdeckung gemacht: Hunde orientieren sich beim Erledigen ihrer „Geschäfte“ entlang der Erdmagnetfeldlinien. Abfällig titelte dann die Süddeutsche: „Hunde pinkeln Richtung Nordpol“. Ich habe mir sofort eine Kompass-App heruntergeladen und unseren Hund „Benny“ einer strengen Prüfung unterzogen. Die Anzahl der „guten“ Ergebnisse habe ich dann einfach mal mit zehn multipliziert und siehe da, plötzlich stimmte alles wunderbar. Einen gelben Engel hat er dafür dann allerdings nicht bekommen. Und fliegen kann er auch nicht …

So sollten wir Augen und Ohren offen halten und uns durchaus ablenken lassen. Unser Gehirn macht da problemlos mit. Aber vielleicht entwickeln die Autos ja irgendwann auch ganz von selbst individuelle Eigenschaften und Lenken sich selbst ab. Chillen sozusagen. Wir wundern uns dann nur noch darüber, was da alles geschieht (ohne es zu verstehen). Aber das ist für uns dann wiederum Ablenkung pur!

Über den Autor
Prof. Dr. Michael Schreckenberg
Prof. Dr. Michael Schreckenberg
Prof. Dr. Michael Schreckenberg, Universität Duisburg-Essen, war der erste deutsche Professor für Physik von Transport und Verkehr. Er ist im Redaktionsbeirat von Veko-online.
Weitere Artikel des Autoren