Massendemonstration gegen den Putsch in Istanbul und für den Präsidenten am 7. August 2016.
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Putschversuch in der Türkei

Machtkampf zwischen der AKP und der Hizmet Bewegung

Von Roswitha Kern

Ein vereitelter militärischer Putschversuch in der Türkei in der Nacht von 15. auf 16. Juli endete nach offiziellen Angaben mit dem Tod von mindestens 290 Menschen und verletzte mehr als 1.000 Menschen.

Von seinem Urlaubsziel in Marmaris forderte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan über Face Time und CNN Türk während des Putschversuchs die türkische Bevölkerung dazu auf, sich gegen den Putschversuch zu stellen. Ein Ruf, dem hunderttausende Türken, inklusive jener die Erdogans Regime kritisch gegenüber stehen, Präsident Recep Tayyip Erdoğan Erdogan
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bereitwillig folgten. Die Bevölkerung erteilte somit erneuten militärischen Putschversuchen, welche die Geschichte des Landes seit 1923 negative prägten, eine klare Absage. Mehrere interviewte türkische Demonstranten bezeichneten den vereitelten Putschversuch gar als ‚Sieg der Demokratie‘ oder als die ‚türkische Revolution‘ ähnlich jener des ‚Arabischen Frühlings‘. Anhänger religiöser Minderheiten, Kurden oder auch türkische Menschenrechtsaktivisten hingegen betrachten den Putschversuch mit kritischeren Augen. Während sie einerseits den Putschversuch gleichermaßen verurteilen, sorgen sie sich gleichzeitig um die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung, welche vor allem die politische Mitte auszuradieren scheint. Entsprechend einiger Nachrichtenberichte sollen in manchen türkischen Städten beispielsweise Kirchen von Erdogan Anhängern attackiert worden sein.

Einiges deutet derzeit daraufhin, dass es sich bei dem Umsturzversuch um keine Überraschung für die AKP-Regierung handelte. Ein Vertreter regionaler Sicherheitsbehörden, der es vorzieht anonym zu bleiben, erklärte in Bezug auf den Putschversuch: „Es war ausgewählten Regierungsvertretern in der Türkei bereits seit Juni bekannt, dass es zu einem Putschversuch kommen wird. Aus diesem Grund war man gut vorbereit und konnte den Versuch daher innerhalb kürzester Zeit im Keim ersticken. Es ist auffällig, dass sich der Putschversuch Anfang Juli in den frühen Abendstunden ereignete, während bisherige militärische Umstürze immer Nachts stattfanden, wenn die Mehrheit schläft. Dies könnte durchaus darauf hindeuten, dass beim jetzigen Putschversuch etwas schief lief und man sich gezwungen sah, früher zu starten. Politische Opportunität, man bedenke Erdogans Bestreben nach einem Präsidial-System oder auch die Vernichtung der Hizmet-Bewegung, hielt die jetzige Regierung jedoch davon ab, den Putschversuch bereits im Vorfeld zu vereiteln.“ Iranische und arabische Nachrichtenagenturen berichteten zudem unter Hinweis auf diplomatische Quellen, dass Vertreter russischer Sicherheitskräfte die türkische Regierung ein paar Tage Der einflussreiche, seit 1999 in den USA lebende Fethullah Gülen verurteilte den Putschversuch und dementierte jede Beteiligung daran. Die türkische Regierung erklärte, sie könne das Gegenteil belegen.
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vor dem Putschversuch gewarnt hätten. In Anbetracht der kürzlich erfolgten Wiederannäherung mit Russland, dessen Beziehungen noch unter dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei gelitten hat, sowie der geteilten Aversion beider Regierungen gegenüber der Hizmet Bewegung, ist dies wenig verwunderlich.

Seit dem vereitelten Putschversuch ist die Türkei nun von einem harten und allumfassenden Durchgreifen der türkischen Regierung vor allem, aber nicht ausschließlich, gegenüber dem im selbst auferlegtem Exil lebenden türkischen Kleriker Fetullah Gülen und seiner Hizmet Bewegung gekennzeichnet. Unmittelbar und unmissverständlich zog Erdogan nach dem Putschversuch Gülen und seine Hizmet Bewegung öffentlich zur Verantwortung und kündigte bereits am Morgen nach dem Putschversuch eine Säuberung des gesamten türkischen Staatsapparates von Gülen-Anhängern an.

Folglich wurden seit dem Umsturzversuch rund 60.000 Soldaten, Polizisten, Beamte, Richter, Wissenschaftler und Lehrer ihrer Ämter enthoben oder gar festgenommen. Unter den mehr als 2.800 verhafteten Angehörigen des türkischen Militärs befinden sich zahlreiche Generäle, vor US-General Joseph F. Dunford beim Besuch eines Teils des beschädigten Parlaments am 1. August 2016
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allem aus der Luftwaffe, der Panzertruppe und der Gendarmerie. Gegen 300 Mitglieder der Präsidentengarde ergingen nicht nur Haftbefehle, sondern die Institution als solche wurde mittlerweile abgeschafft. Aber auch vor der Justiz, dem Journalismus, Bildungsinstituten oder unter Akademikern macht die AKP derzeit nicht halt. So wurden unter anderem auch vom Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (Hâkimler ve Savcılar Yüksek Kurulu, HSYK) in einer Sondersitzung, 2.745 Richter ihres Amtes enthoben. 1.000 Privatschulen, 1.229 Nicht-Regierungsorganisationen, Stiftungen, 19 Gewerkschaften, 15 Universitäten und 35 medizinischen Einrichtungen vorerst geschlossen. Um die potenzielle Flucht vor der türkischen Razzia zu verhindern, wurden 11.000 Reisepässe von staatlichen Beamten für ungültig erklärt; auch Akademikern wurden Auslandsreisen untersagt. Für Investigationen dürfen Verdächtige derzeit 30 Tage anstatt der ursprünglichen vier Tage ohne Anklage inhaftiert werden. Auch die von Erdogan mehrmals mit Nachdruck geforderte Auslieferung Gülens durch die US-Regierung, sowie die Verhaftung von Gülens vermeintlichen „rechten Händen“, Hails Hanci und sein Neffe Muhammad Sait Gülen, stehen hiermit in Verbindung. Der verhängte Ausnahmezustand ermöglicht derzeit die Einschränkung als auch Aufhebung von Grundrechten. Auch die Wiedereinführung der Todesstrafe wird im Zusammenhang mit der Strafverfolgung und Bestrafung etwaiger Putschisten heftig diskutiert. Kurzum, die Türkei befindet sich im absoluten Ausnahmezustand. All diese umfassenden Maßnahmen deuten konkret daraufhin, dass es sich bei Erdogans AKP und Gülens Hizmet Bewegung, zwei ehemals Verbündete, um einen Konflikt handelt, der sich in den letzten Jahren langsam einschlich und zunehmend eskalierte. Vielerorts stellt man sich daher nicht nur die Frage, welche Konsequenzen der Putschversuch international nach sich zieht, sondern wie es zur Konflikteskalation der ehemaligen Verbündeten kommen konnte.

Spätestens seit den Gezi Park Protesten im Mai 2013 und dem darauffolgenden Korruptionsskandal im Dezember 2013, in dem auch hochrangige AKP-Mitglieder involviert waren, nahm die AKP-Regierung die Hizmet Bewegung rigoroser ins Visier. In westlichen Medien wurde dies dabei zumeist als Versuch der Ausschaltung Proteste im Gezi-Park
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politischer Opposition porträtiert. Mitglieder der Hizmet Bewegung besetzen aber unter anderem die höchsten Ränge türkischer Staatsorgane und werden von weiten Teilen als die Drahtzieher hinter der Veröffentlichung des Korruptionsskandals als auch Anheizer der Gezi Park Proteste gesehen. Aus diesem sowie weiteren Gründen befinden sich die Hizmet Bewegung und die AKP seither in einem Machtkampf. Obwohl die AKP sich bei den Präsidentschaftswahlen im August 2014 sowie der Kommunalwahl in Istanbul im März desselben Jahres nicht mehr auf die Unterstützung und Einflussnahme der Hizmet Bewegung und deren Wählerschaft zählen konnte, gelang es ihr entgegen vieler Erwartungen, beide Wahlen für sich entscheiden.

AKP und Hizmet – vereint im Kampf gegen gemeinsame Kontrahenten

Eine eingehendere Untersuchung der islamischen Ideologien und Wertvorstellungen der AKP auf der einen Seite und der Hizmet Bewegung auf der anderen, verdeutlicht sehr schnell, dass es sich bei dem ehemaligen Bündnis von Anfang an um wenig mehr als eine „Zweckgemeinschaft“ handeln konnte. Denn während es sich bei der AKP klar um eine islamistische Partei handelt, lehnt Gülen jede Form des politischen Islams ab. In ähnlichem Maße war die der AKP Gülens temporäre Verbundenheit mit dem Militär sowie seine offene Kritik an der islamistischen Refah Partei in den 90er Jahren ein Dorn im Auge. Ende der 90er Jahre kam es aber trotz aller Divergenzen im Zuge des geteilten Schicksals, nämlich die Verfolgung und Unterdrückung von konservativen Muslimen durch die säkularen Generäle der türkischen Armee, dennoch zu einem Schulterschluss zwischen der AKP und der Hizmet Bewegung. Durch ihren Schulterschluss verfolgten sie vor allem zwei Ziele: Die Reinigung des Staatsapparates von Sekulargesinnten und die Reduzierung des Einflusses des Militärs auf die türkische Politik. Fälschlicherweise war Gülen damals vermutlich davon überzeugt, dass es der AKP mit ihrer Abkehr vom politischen Islam Ernst war und die Partei daher zu einer Zeit, in der sich Gülen selbst mit dem Militär auf Kriegsfuß befand, zu einem brauchbareren Partner machte. Denn in den späten 90er Jahren macht der Versuch des türkischen Militärs, den Staat von islamistischen Parteien und Einheiten zu säubern, selbst vor Gülens Hizmet Bewegung keinen Halt. Im Gegenteil, bereits 1992 drohte man ihm mit Strafverfolgung und stellte sein Netzwerk an Privatschulen 1997 zwangsweise unter die Beobachtung des Ministeriums für Bildung. Ein vom Statusverlust geprägter Gülen, der es bis dato gewohnt war, von hochrangigen Ministern sowie Staatsoberhäuptern hofiert zu werden, koinzidierte mit einer Zeit, in der die damalige US-Administration ihre Vorstellung eines „Größeren Nahost Projektes“, das auch eine Propagation des ‚moderaten Islams‘ beinhaltete, forcierte. Eine politisch motivierte Kooperation zwischen Gülens Hizmet Bewegung und der AKP erschien zu diesem Zeitpunkt folglich opportun.

Die AKP, die sich während ihrer ersten Amtsperiode fortwährend von säkularen und militärischen Eliten bedroht fühlte, benötigte für ihr politisches Überleben den Einfluss der Hizmet Bewegung, um sich unliebsamer Gegner im Staatsapparat zu entledigen. Als die AKP nach ihrer ersten Amtsperiode mit einer überwältigenden Mehrheit wieder gewählt wurde, konzentrierten sich die AKP und die Hizmet Bewegung in ihren politischen Ambitionen zusehends auf die Eliminierung der Einmischung des Militärs in die türkische Innen- und Außenpolitik – einer bis dato zweitgrößten Herausforderung für ihr politisches Überleben.

Außenpolitische Divergenzen

Mit der Ausschaltung gemeinsamer externer Bedrohungen, entledigten sich die beiden Verbündeten – AKP und Hizmet – jedoch auch jener Gewalt, die bis dahin die Basis ihres Schulterschlusses bildete. Somit traten in Anbetracht der Abwesenheit einer glaubwürdigen Opposition die ideologischen und praktischen Differenzen der Die Mavi Marmara am 22. Mai 2010
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beiden Verbündeten zunehmend in den Vordergrund. Über einer Reihe von Vorfällen brodelten dabei Spannungen zwischen den beiden unterhalb der Oberfläche, bis diese schlussendlich im heutigen Machtkampf kulminierten. Offensichtlicher wurde der sich anbahnende Konflikt dabei erstmals im Zusammenhang mit dem Gaza Flotilla Vorfall im Mai 2010. Als damals israelische Spezialkräfte das „Mavi Marmara Kreuzfahrtschiff“ unter türkischer Flagge, mit der Intention die israelische Seeblockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen, stürmten, kam es im Zuge der Sicherung des Schiffs zum Tod von neun türkischen Staatsbürgern durch israelische Sicherheitskräfte. In Folge der sich daraus ergebenen diplomatischen Krise zwischen der Türkei und Israel stellte Gülen sich damals auf die Seite Israels und kritisierte die türkische Regierung öffentlich für ihr Versagen, keine Einigung mit Israel erreicht zu haben.

Glücklichere Zeiten: Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Frau Emine Erdoğan und dem Präsidentenpaar der USA, Barack und Michelle Obama (2009)
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Ganz im Sinne der von der AKP allseits bekannten und propagierten „Keine Probleme mit Nachbarn”. Außenpolitisch kristallisierte sich wenig später die Annäherung und Intensivierung der Beziehungen zwischen der Türkei und dem Iran als erneuter Konfliktpunkt heraus. Die geografische Nähe der beiden Länder, ein reger Handel, sowie Öl- und Gasexporte seitens des Irans an die Türkei stellten dabei Anreize für einvernehmliche bilateral Beziehungen dar. Somit ist es kaum verwunderlich, dass sich Erdogans Regierung lange darauf besann, zwischen dem Iran und dem Western zu vermitteln, und auch einer rigorosen Sanktionspolitik gegenüber dem Iran ablehnend gegenüber stand. Gülen, im Gegenzug hierzu, sprach sich derweil für eine härtere Gangart gegenüber dem Iran aus. Dabei stellte im Jahr 2012 die Entscheidung der Erdogan Administration, einen israelischen Spionagering von zehn Iranern auffliegen zu lassen, den Höhepunkt der Meinungsverschiedenheit dar.

Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Gülen, der sich zu Zeiten des Beginns der Hizmet Bewegung zwar kritisch gegenüber Juden und dem Westen in seinen anfänglichen Predigten in der Türkei äußerte, nach seiner Auswanderung in die USA in den späten 90er Jahren jedoch enge Beziehungen zur jüdischen Lobby und Teilen der US-Administration kultivierte. Briefe von Graham Fuller, dem ehemaligen Chef der Türkeiabteilung innerhalb des CIA sowie von Morton Abramowitzs, einem ehemaligen CIA Agenten in der Türkei, an das FBI als auch US Homeland Security zur Verhinderung der Auslieferung Gülens an die Türkei, stehen stellvertretend für Gülens enge Verbindungen zu Teilen amerikanischer Regierungsinstitutionen. Gar verweisen manche Berichte darauf, Hizmet Schulen würden unter anderem auch als Cover von CIA und Mossad Agenten benutzt. Dies brachte der Hizmet Bewegung über Jahre hinweg den Ruf ein, mehrausländischen Agenten als dem türkische Staat zu dienen – eine Behauptung, welche auch die AKP in den vergangenen Jahren geschickt einzusetzen wusste.

Mit wachsender politischer Einflussnahme und Stärke über die Regierungsjahre hinweg wagte Erdogans Administration zugleich eine vom Westen unabhängigere Außenpolitik. So sprach Erdogan sich zwar weiterhin für einen türkischen EU-Beitritt aus, betont jedoch gleichzeitig, dass dieser nicht zu jedem Preis stattfinden sollte. Zu guter letzt verlagerte sich der Fokus türkischer Außenpolitik in den letzten Jahren zusehends vom Westen zugunsten des Nahen Ostens und den türkischen Nachbarregionen. Während die pan-islamischen Bestrebungen der Außenpolitik der AKP aller Wahrscheinlichkeit einer der Gründe für das wachsende Misstrauen des Westens gegenüber der AKP-Regierung darstellt, betont Gülen fortwährend die Bedeutung und Wichtigkeit guter Beziehungen zum Westen.

Die Kurdenfrage

Auch die Kurdenfrage spielt eine tragende Rolle in dem Konflikt der ehemaligen Verbündeten; sie trat 2011/12 in Bezug auf die türkische Geheimdienstkrise (MiT) zunehmend ins Rampenlicht. Die von der AKP damals initiierten Friedensverhandlungen mit der PPK wurden von Gülen von Anfang an aufs stärkste abgelehnt. Eine durchwegs kritische Berichterstattung über den Friedensprozess, der Fokus auf getötete türkische Soldaten und die pauschale Titulierung von PKK-Anhängern als Terroristen, stehen stellvertretend hierfür. Die Wurzel der divergierenden Ansichten in diesem Zusammenhang befindet sich in der ablehnenden Haltung der PKK bezüglich des Predigens von türkischem Nationalismus an Hizmet Schulen in kurdischen Regionen. Spannungen in der Kurdenfrage erreichten 2011 ihren Höhepunkt, als Gülen Anhänger vermeintlich Aufzeichnungen von geheimen Gesprächen, die zwischen der PKK und dem türkischen Geheimdienstchef Hakan Fidan 2010 stattfanden, in der Öffentlichkeit durchsickern ließen. Aufgrund eines Hinweises eines Repräsentanten des Militärs veranlasste Gülen aller Wahrscheinlichkeit nach einen Staatsanwalt in Istanbul dazu, im Zusammenhang mit einer Ermittlung gegen die „Kurdistan Communities Union“ (KCK), ein urbaner Ableger der PKK, dass Hakan Fidan als vorgeladener Zeuge zur Rechenschaftsablage gezwungen wurde.

Vom Bündnis zu schleichender Feindschaft

Als Reaktion hierauf leitete die AKP die Entlassung führender Ermittler und Staatsanwälte in die Wege und erlies gleichzeitig ein Gesetz, das die Ermittlung gegen türkische Geheimdienstmitarbeiter und besonderer Gesandter von der Genehmigung des Premierministers abhängig macht. Im Jahr 2014 wurde ein weiteres Gesetz erlassen, welches die Immunität und Macht von Geheimdienstmitgliedern bedeutend erweiterte. Seit der Verabschiedung dieses Gesetzes ist die Befragung des Geheimdienstchefs von der Zustimmung des Präsidenten abhängig. Die Reaktion von Gülens Hizmet Bewegung ließ aber nicht lange auf sich warten. Gülen-nahe Staatsanwälte befahlen Teilen der Polizei, Lastwagen des Geheimdienstes, welche im Januar 2014 Waffen an die syrische Opposition hätten liefern sollen, aufzudecken und abzufangen. Auch stellte sich die Hizmet Bewegung aus ähnlichen Gründen hinter die Gezi Park Protestbewegung, in der Hoffnung, so die 11-jahrelange Herrschaft der AKP-Regierung zu Fall zu bringen. Ein Entschluss der AKP im November 2013, Gülens Privatschulen zu schließen, wurde von Gülen dann als „offene Kriegserklärung“ und existenzielle Bedrohung empfunden. Bildungseinrichtungen sind nicht nur essenziell für die Verbreitung der Ideologie der Hizmetbewegung, sondern gelten anderen auch als „Brutstätte“ für eine türkische Elite, die später Einfluss und Kontrolle auf politische Staatsangelegenheiten der Türkei ausübt. Mit der Schließung jener Schulen würde Gülen somit eines seiner wichtigsten Werkzeuge zur Rekrutierung, aber auch zur Generierung von Finanzen entzogen.
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Hizmet holte im Dezember 2013 aber erneut zum Gegenschlag aus, als ein der Hizmet Bewegung vermeintlich angeblich wohlgesonnener Staatsanwalt in Istanbul eine allumfassende Ermittlung und Razzia gegen zahlreiche Verdächtige im Zusammenhang mit einem bedeutenden Korruptionsskandal, der auch die Söhne von drei AKP-Ministern einschloss, in die Wege leitete. Die Prävalenz weitverbreiteter Korruption unter hochrangigen AKP-Mitgliedern waren zwar bereits lange bekannt, blieb jedoch unter Verschluss, da die von der Opposition über die Jahre hinweg gesammelten Beweise nicht zum Einsatz gebracht werden konnten. In der von der Hizmet Bewegung kontrollierten Justiz ließen sich keine Staatsanwälte oder Gerichte finden, welche sich bereit erklärt hätten, diese Fälle anzunehmen. Ende 2013 hatte sich das Blatt jedoch gewendet. Die Hizmet Bewegung unterstützte die Aufdeckung des Korruptionsskandals zusätzlich, indem sie abgehörte Gespräche, welche selbst die oberste AKP-Herrschaftselite implizierte, über soziale Medien an die Öffentlichkeit durchsickern ließ. Unweigerlich zielte die Veröffentlichung darauf ab, das öffentliche Bild der AKP nur wenige Monate vor den Kommunalwahlen in Istanbul zu ruinieren. Als Mittel der Gegensteuerung konzentrierten sich viele Wahlkampfaktivitäten der AKP darauf, Hizmet zu diskreditieren, indem man ihr einen Umsturzversuch basierend auf legalen Mitteln vorwarf. Als das ehemalige Bündnis der Beiden zusehends den Status einer Feindschaft erreichte, begann die AKP in Bezug auf die Hizmet Bewegung von einem „Parallelstaat“ zu sprechen. Versuche der Erdogan Administration, die Hizmet Bewegung durch justizielle Reformen oder auch der Einschränkung des Zugangs der Öffentlichkeit zu sozialen Medien Einhalt zu gebieten, müssen vor diesem Hintergrund betrachtet werden.

Der Konflikt weitet sich auf die Justiz aus

Nachdem das türkische Verfassungsgericht die Sperre sozialer Mediennetzwerke zum Beispiel als verfassungswidrig erklärte, befand die AKP sich zunehmend auch mit dem Verfassungsgericht auf Kriegsfuß. Somit machte Erdogan wenig später seine Absicht klar, auch die Justiz von verbleibenden Elementen des „Parallelstaates“, nämlich der Hizmet Bewegung, zu reinigen. In der Zwischenzeit machte einer der Toprichter der Türkei während einer öffentlichen Rede im Beisein von Erdogan und seinen politischen Verbündeten, die AKP für die Verletzung von Verfassungsrechten verantwortlich. Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Hasan Kilic, kritisierte sogenannte „Hassreden“, die auf politischen Motiven basierten – ein unmissverständlicher Hinweis auf Erdogans harsche Rhetorik in Wahlkampfreden. In diesem Zusammenhang stellte er zudem klar, dass sich Gerichte nicht auf die von der AKP geäußerten Drohungen einlassen würden.

Der ehemalige Präsident Abdulllah Gül
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Obwohl die Hizmet Bewegung dem Sufi Islam nahe steht und somit die Teilung von Staat und Religion verfolgt, haben die Entwicklungen in der Türkei in den letzten fünf Jahren den vermeintlich apolitischen Charakter der Hizmet Bewegung immer wieder in Frage gestellt. Doch nach wie vor bevorzugt es die Hizmet Bewegung, als Akteur im Hintergrund die Fäden zu ziehen, anstatt eine Partei zu gründen und bei Wahlen zu kandidieren. Eine Herangehensweise, die ihr gegenüber einer wachsenden Anzahl türkischer Wähler zum Verhängnis wird. Erdogans Strategie, in Reden, die darauf abzielten, die Hizmet Bewegung bei der türkischen Wählerschaft genau hierfür zu diffamieren, erwies sich als erfolgreich. Der Wahlsieg der AKP sowohl in den Kommunalwahlen 2014 als auch bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 verleiht ihr den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung, um ihre Vorgehensweise gegenüber der Hizmet Bewegung fortzusetzen. So sprach der damalige Präsident Abdullah Gül bereits 2015 vor dem Nationalen Sicherheitsrat von der Hizmet Bewegung als Bedrohung für die nationale Sicherheit des Landes. In diesem Sinne verwundert es wenig, dass der Putschversuch Mitte Juli diesen Jahres von Erdogan regelrecht als „ein Geschenk Gottes“ tituliert  wurde, um nun mit voller Härte und Kompromisslosigkeit die „Säuberung“ des türkischen Staates von der Hizmet Bewegung zu vollenden.

Konsequenzen für westliche Sicherheitsinteressen

Der vereitelte Putschversuch der Türkei stellt derzeit auch die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen auf eine Zerreißprobe. Auch türkische Immigranten und Erdogan-Anhänger folgten Erdogans Ruf und protestierten in mehreren europäischen Städten gegen den Putschversuch. Vor allem Die Incirlik Air Base ist ein Stützpunkt der NATO. Eigentümer ist die türkische Luftwaffe, größter Nutzer ist aber seit der Errichtung die United States Air Force (USAF), die hier nach dem 11. September 2001 ihr wichtigstes Drehkreuz zur Versorgung der US-Streitkräfte im Irak und in Afghanistan eingerichtet hat. Seit Januar 2016 nutzt auch die Bundeswehr im Rahmen der Operation Inherent Resolve den Flugplatz.
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Deutschland, das ca. ca. 5 Millionen türkische Einwohner zählt, fürchtet, dass sich die Mobilisierung von tausenden Türken in Berlin, Bremen, München, Hannover, Stuttgart und kleineren Städten zu einem Sicherheitsproblem entwickelt. Dies könnte vor allem dann der Fall sein, sollte es zu gewaltsamen Konfrontationen zwischen Türken und Kurden, gegen welche die AKP-Regierung derzeit im Südosten des Landes Krieg führt, auf deutschen Straßen kommen.

Zudem wurde die kurzfristige Zugangsblockade zur türkischen Incirlik Militärbasis in Adana, auf welcher sowohl die USA und NATO Truppen stationiert haben, vom Westen mit Sorge betrachtet. Die Zugangsblockade unterband unter anderem kurzzeitig die Luftangriffe des Westens auf den Islamischen Staat in Syrien und im Irak. In den vergangenen Tagen wurde sie aber auch zum Schauplatz von anti-USA und anti-Israel Demonstrationen. Bekir Ercan, Befehlshaber des Luftwaffenstützpunkts, zusammen mit Offizieren niedrigeren Ranges wurde seit dem Putschversuch von türkischen Behörden in Gewahrsam genommen. Ein Vertreter aus türkischen Sicherheitskreisen vermerkte hierzu: „Die Demonstrationen als auch die Zugangsblockade nach dem Putschversuch, erklären sich schlichtweg in der Tatsache, dass Gülen Anhänger innerhalb des türkischen Militärs, welche dort stationiert sind, stark in den Putschversuch involviert waren. Außerdem geht die türkische Regierung davon aus, dass Gülen den Putschversuch nicht im Alleingang absolvierte, sondern von so manchen internationalen Verbündeten unterstützt wurde. Möglicherweise könnten Gülens Anhänger den Putschversuch mit ihren internationalen Verbündeten von dort aus koordiniert haben.“

Auch auf die EU-Beitrittsverhandlungen könnte sich das derzeitige Vorgehen der AKP-Regierung negativ auswirken. Die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Federica Mogherini, erklärte bereits, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe die Chancen der Türkei auf einen EU-Beitritt verwirken würde. Und dennoch blieb die Kritik des Westens gegenüber der Türkei bislang vergleichsweise verhalten, wobei man sich vor allem auf die Ermahnung der Türkei zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Prinzipien beschränkte. Federica Mogherini, Außenbeauftragte der EU
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Dies dürfte vor allem auch mit der Rolle der Türkei als Bollwerk in Bezug auf den Flüchtlingsstrom nach Europa zu tun haben. Es ist davon auszugehen, dass Erdogan gerade diese Druckmittel, jetzt nach der Konsolidierung seiner Macht, vermehrt zum Einsatz bringen wird, um somit die konventionelle westliche Diplomatie auf eine harte Probe zu stellen.

Im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsstrom stellt vor allem die Lösung des seit fünf Jahren andauernden Bürgerkrieges in Syrien den Westen vor eine große Herausforderung. Dabei konvergieren die türkischen Interessen jedoch nicht immer mit denen des Westens. Erdogan zählt schon seit längerem als Schirmherr der jihadistischen Gruppe Jabhat al-Nusra, die sich erst kürzlich von al-Qaida lossagte. Die Unterstützung nicht nur von syrischen Rebellengruppen, sondern vielmehr die der Türkei unterstellte Kooperation mit jihadistischen Gruppen könnte Erdogan unter anderem dazu dienen, in Syrien die Grundsteine für eine künftige islamistische Regierung zu legen. Denn spätestens seit Erdogans unwiderruflicher Unterstützung der ägyptischen Muslimbruderschaft – selbst nach deren Amtsenthebung – ist klar, dass Erdogans Außenpolitik die Entstehung islamistischer Regierungen im Nahen Osten fördert und forciert. Zudem wird immer wieder die Vermutung nahegelegt, die Türkei hätte, um den Einfluss und Erstarken der PKK nahestehenden syrisch-kurdischen YPG Einhalt zu gebieten, des Weiteren auch ISIS im Kampf gegen Kurden in Nordsyrien bedingt unterstützt. Ein regionaler Sicherheitsexperte bezeichnete die Problematik der Türkei im Zusammenhang mit der Syrienfrage als „Pakistanisierung“: „Durch eine bedingte Zusammenarbeit mit jihadistischen Gruppen in Syrien sichert sich die Türkei eine Rolle und Einflussnahme am Verhandlungstisch für die politische Zukunft Syriens. Auch liegt es nahe, dass die Türkei jihadistische Gruppen in Syrien und im Irak aus den gleichen Gründen unterstützt, aus welchen der Iran und Russland derzeit mit der Taliban in Afghanistan zusammenarbeiten. Durch einen „Pakt mit dem Teufel“ versucht man, sich einer noch größeren Gefahr zu entledigen. Aus Sicht der türkischen Regierung und Militärs wäre dies in jedem Fall die Gefahr, die von erstarkten syrischer Kurden ausgeht. Dies könnte im schlimmsten Fall für die Türkei in kurdischer Autonomie oder Unabhängigkeit in Syrien münden, angeführt von einer Gruppe (YPG), die noch dazu der türkischen PKK nahesteht.“ Derartige Entwicklungen, welche sich nach dem Putschversuch vermutlich weiter verstärken werden, stellen die Glaubwürdigkeit der Türkei als verlässlicher NATO Partner zu Recht in Frage.

 

Über den Autor
Roswitha Kern
Roswitha Kern
Roswitha Kern lebte und arbeitete bis 2014 acht Jahre vorwiegend im Nahen Osten und Nordafrika. Sie war die meiste Zeit journalistisch tätig, arbeitete aber auch als Security und Political Risk Consultant. Darüber hinaus ist sie auch in West-/Ostafrika gut vernetzt sowie in Teilen Asiens. Zurück in Deutschland ist sie weiter journalistisch tätig, arbeitet aber auch als Beraterin für verschiedene Unternehmen.
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