Boom bei synthetischen Substanzen
Von Werner Sabitzer
Heroin spielt in Europa eine geringere Rolle als früher. Stimulanzien, synthetische Drogen, Cannabis und Arzneimittel gewinnen immer mehr an Bedeutung. Das geht aus dem „Europäischen Drogenbericht 2014“ hervor.
Der Jahresbericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) wurde am 27. Mai 2014 veröffentlicht. Er enthält eine Analyse der Drogensituation und gibt einen Überblick über die Entwicklungen in der Drogenpolitik und drogenpolitischen Maßnahmen. Der Bericht stützt sich auf eine umfassende Bestandsaufnahme europäischer und nationaler Daten.
Kernaussagen
Die weltweite Heroinproduktion verharrt zwar auf hohem Niveau und in der Türkei hat die Zahl der Sicherstellungen wieder zugenommen, aber in Europa zeichnet sich beim Heroinkonsum ein rückläufiger Trend ab. Rückläufig ist auch die Zahl der durch injizierten Heroinkonsum verursachten HIV-Infektionen. Das dürfte teilweise darauf zurückzuführen sein, dass Heroin durch andere Substanzen abgelöst wird, unter anderem durch synthetische Opioide und Stimulanzien. Die Zahl der durch Heroinmissbrauch verursachten Drogentoten sinkt; bleibt allerdings in einigen Ländern, vor allem in Nordeuropa, auf hohem Niveau. Weiterhin gelangen neue psychoaktive Substanzen auf den europäischen Drogenmarkt, darunter hoch wirksame Substanzen. 2013 wurden an das EU-Frühwarnsystem 81 neue psychoaktive Substanzen gemeldet. Damit hat sich die Zahl der überwachten Substanzen auf mehr als 350 erhöht. Europa ist ein wichtiges Zielgebiet für die Einfuhr verbotener Substanzen und spielt in geringerem Umfang auch eine Rolle als Durchgangsstation für Drogen, die in andere Regionen befördert werden. Die nach Europa geschmuggelten Drogen stammen weitgehend aus Lateinamerika, Westasien und Nordafrika. Europa ist Erzeugerregion für Cannabis und synthetischen Drogen. Während die Cannabisproduktion in Europa fast ausschließlich für den lokalen Konsum bestimmt ist, werden synthetische Drogen zum Teil für den Export in andere Regionen hergestellt. Die Zahl der Todesfälle, die durch den Konsum synthetischer Opioide verursacht wurden, steigt. In Estland gab es beispielsweise eine hohe Zahl von Toten durch Überdosierung von Fentanylen. Die meisten Überdosierungen kommen bei Menschen vor, die mehrere Substanzen konsumiert haben, so dass die Zuordnung der ursächlichen Wirkung häufig problematisch ist.
Drogensicherstellungen
Jedes Jahr gibt es in Europa rund eine Million Sicherstellungen von illegalen Drogen, vier Fünftel davon sind Cannabisprodukte.
Die meisten Sicherstellungen erfolgen bei Konsumenten und umfassen daher kleine Mengen. Bei der Zahl der Sicherstellungen im Jahr 2012 führt Spanien mit 381.000, gefolgt von Großbritannien mit 226.000 Fällen. In diesen beiden Ländern erfolgten zwei Drittel der Sicherstellungen in den EU-Ländern. 49 Prozent der Sicherstellungen im Jahr 2012 betrafen Cannabiskraut, 28 Prozent Cannabisharz und vier Prozent auf Cannabispflanzen. Neun Prozent entfielen auf Kokain und Crack, vier Prozent auf Heroin, drei Prozent auf Amphetamin und ein Prozent auf Methamphetamin und LSD.
Heroin
In Europa wird importiertes Heroin traditionell in zwei Formen angeboten – braunes Heroin (Heroinbase), das vor allem aus Afghanistan stammt, und das weit weniger verbreitete weiße Heroin (in Salzform), das hauptsächlich in Südostasien hergestellt wird, inzwischen aber auch in anderen Regionen, unter anderem in Osteuropa, wo in geringem Ausmaß Mohn angebaut wird. Afghanistan ist weiterhin der größte Produzent für den europäischen Markt, ein Teil stammt aus dem Iran und Pakistan. Im Jahr 2012 wurden in Europa bei 32.000 Sicherstellungen fünf Tonnen Heroin dem Schwarzmarkt entzogen, 2002 waren es zehn Tonnen.
Die Zahl der Neueinsteiger bei den Heroinkonsumenten ist rückläufig. 1,3 Millionen der erwachsenen Europäer haben im Lauf ihres Lebens Opioide konsumiert. 3,5 Prozent der Todesfälle von Menschen im Alter zwischen 15 und 39 Jahren sind auf Drogenüberdosierungen zurückzuführen. In drei Viertel der Fälle wurden Opiode nachgewiesen. 700.000 Opioidkonsumenten erhielten im Jahr 2012 eine Substitutionstherapie.[1]
Synthetische Opioidewerden zunehmend als Alternative zu Heroin konsumiert. Dazu zählen die besonders starken Fentanyle, die aus Lieferungen für den Pharmaziehandel abgezweigt oder eigens für den illegalen Markt hergestellt werden. 2012 und 2013 wurden der EBDD 28 Sicherstellungen des neuen synthetischen Opioids AH-7921 gemeldet, das in pharmakologischer Hinsicht Morphium ähnelt. AH-7921 ist in der Europäischen Union mindestens seit Juli 2012 erhältlich – meist in Pulverform. Dieses Opioid wurde bei 15 Todesfällen in Schweden, Großbritannien und Norwegen festgestellt.
Kokain
In Europa wird Kokain großteils als Pulver angeboten. Weniger leicht erhältlich ist Crack, das geraucht wird. Kokain für den europäischen Markt stammt fast ausschließlich aus den Koka-Anbaugebieten in Bolivien, Kolumbien und Peru. 2012 wurden in Europa in 77.000 Fällen 71 Tonnen Kokain sichergestellt, 85 Prozent davon in Spanien, Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Italien. 14 Millionen (4 %) der erwachsenen Europäer haben im Lauf ihres Lebens Kokain konsumiert, 3 Millionen (1 %) davon im letzten Jahr. Vor allem in süd- und westeuropäischen Ländern wird vermehrt Kokain konsumiert, während in Nord- und Osteuropa eher Amphetamin dominiert.
Cannabis
In Europa werden jährlich etwa 2.000 Tonnen Cannabiskraut („Marihuana“) und Cannabisharz („Haschisch“) konsumiert. Cannabisharz gelangt größtenteils aus Marokko nach Europa. Cannabiskraut wird im Inland angebaut oder aus Nachbarländern eingeschmuggelt.In einigen europäischen Staaten gibt es beim Cannabiskonsum eine rückläufige Tendenz. In anderen Staaten, in denen der Konsum niedrig war, ist ein steigender Konsum zu verzeichnen. Cannabis ist unter Drogenkonsumenten, die sich erstmalig einer Behandlung unterziehen, die am häufigsten gemeldete Droge. In den letzten 15 Jahren wurde in zahlreichen Ländern das Strafmaß für den Konsum und Besitz einer geringen Menge herabgesetzt. Laut EBDD haben 22 Prozent der Erwachsenen (15 bis 64 Jahre) im Lauf ihres Lebens Cannabis konsumiert – insgesamt 74 Millionen Menschen. 18 Millionen (5 %) von ihnen haben im letzten Jahr diese Droge konsumiert.Vor allem der verstärkte Anbau von wirkstoffhaltigen Hanfpflanzen im Inland führte dazu, dass Cannabis als Einkommensquelle für organisierte Kriminelle an Bedeutung erlangt hat. Banden vor allem aus Südostasien bieten zunehmend auch Methamphetamin für den mitteleuropäischen Markt an. In Europa wurden 2012 bei 635.000 Sicherstellungen 457 Tonnen Cannabisharz und 105 Tonnen Cannabiskraut sichergestellt. 33.000 weitere Sicherstellungen betrafen Cannabispflanzen. Der Wirkstoffgehalt des angebotenen Cannabis ist in den letzten Jahren gestiegen.
Das Angebot am Schwarzmarkt wird zunehmend erweitert durch Cannabinoide – Chemikalien, die die Wirkung von Cannabis imitieren. Die meisten synthetischen Cannabinoidpulver werden in China hergestellt und in die EU geschmuggelt. In Europa werden sie oft mit Kräutern gemischt und als „Legal-High“-Produkte über das Internet und andere Vertriebswege angeboten. Im ersten Halbjahr 2013 gab es in 18 Ländern mehr als 1.800 Sicherstellungen von synthetischen Cannabinoiden, die umfangreichsten in Spanien (20 kg) und Finnland (7 kg).
Amphetamine
Die synthetischen Substanzen Amphetamin und Methamphetamin sind in Europa weit verbreitet. Elf Millionen (3 %) der erwachsenen Europäer haben im Lauf ihres Lebens Amphetamine konsumiert, 1,5 Millionen davon im letzten Jahr. In Europa kommt immer mehr Methamphetamin auf den Schwarzmarkt. Hergestellt wird diese Droge in Mittel- und Nordeuropa, im Nahen Osten und in Südostasien. „Besonderen Anlass zur Besorgnis geben aktuelle Berichte über das Rauchen von Methamphetamin in Griechenland und der Türkei, da diese Form des Konsums mit besonderen potenziellen Gesundheitsrisiken einhergeht“, heißt es im EBDD-Jahresbericht. Methamphetamin wird in den baltischen Staaten, in Tschechien, der Slowakei und Deutschland hergestellt – überwiegend in kleinen „Küchenlabors“. Kriminelle Organisationen, die bisher im Heroinhandel tätig waren, bieten zunehmend auch Kokain und Methamphetamin in der EU an. Ecstasy in Pulver- und kristalliner Form wird in einigen EU-Ländern zunehmend in hoher Konzentration angeboten. Deshalb könnte nach einem Rückgang in den letzten Jahren wieder vermehrt Ecstasy konsumiert werden. In Belgien wurden vor Kurzem zwei der bisher größten Drogenherstellungsanlagen in der EU aufgedeckt. Hier wurden in kurzer Zeit große Mengen MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methamphetamin) hergestellt.
Elf Millionen (3 %) der erwachsenen Europäer haben im Lauf ihres Lebens Ecstasy konsumiert, 1,6 Millionen (0,5 %) davon im letzten Jahr.2012 wurden in der EU bei 29.000 Sicherstellungen 5,5 Tonnen Amphetamin dem Markt entzogen, mehr als die Hälfte davon in drei Ländern: Deutschland, Niederlande und Großbritannien. Außerdem wurden in 7.000 Fällen 340 Kilogramm Methamphetamin beschlagnahmt.
Cathinone
In den letzten Jahren wurden von den Behörden auf dem Drogenschwarzmarkt in Europa mehr als 50 Cathinonderivate festgestellt. Die bekannteste Substanz ist Mephedron. Ein weiteres, eng mit Pyrovaleron verwandtes Cathinonderivat, 3,4-Methylendioxypyrovaleron (MDPV), wird auf dem Schwarzmarkt in Pulver- oder Tablettenform als „Legal High“ verkauft. MDPV tauchte in Europa spätestens im November 2008 auf und dürfte zu knapp 100 Todesfällen geführt haben, insbesondere in Finnland und Großbritannien. Diese Substanz dürfte als „legale“ oder synthetische Version von Kokain verkauft worden sein, außerdem wurde sie in Tabletten festgestellt, die Ecstasy ähneln.
Neue psychoaktive Substanzen
Die Verfügbarkeit von neuen psychoaktiven Substanzen, die nicht von den internationalen Drogenkontrollabkommen erfasst werden, ist hoch. Meist außerhalb Europas produziert, werden diese Substanzen vorwiegend im Online-Handel und in Spezialgeschäften erworben.2013 wurden 81 neue psychoaktive Substanzen an das EU-Frühwarnsystem gemeldet. Bei 29 dieser Substanzen handelte es sich um synthetische Cannabinoide. Unter den neuen psychoaktiven Substanzen, die in den letzten Jahren auf dem Drogenmarkt in Europa aufgetaucht sind, befinden sich Methoxetamin und 25I-NBOMe. Methoxetamin ist ein eng mit Ketamin verwandtes Arylcyclohexylamin. Mindestens 20 Todesfälle stehen mit dieser Substanz in Zusammenhang. Methoxetamin wird als „legale Alternative“ zu Ketamin vertrieben. Bei 25I-NBOMe handelt es sich um ein substituiertes Phenethylamin. Der Substanz wird eine halluzinogene Wirkung zugeschrieben. Sie ist auf dem Drogenmarkt in der EU mindestens seit Mai 2012 erhältlich. 25I-NBOMe wird als „legale Alternative“ zu LSD verkauft.
EU-Antidrogen-Agentur
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht – EBDD (www.emcdda.europa.eu) ist die zentrale Informationsstelle der Europäischen Union mit Sitz in Lissabon, Portugal. Die 1993 gegründete EBDD sammelt, analysiert und verbreitet zuverlässige und vergleichbare Daten über Suchtdrogen und Konsumverhalten. Politische Entscheidungsträger sollen mit Datenmaterial versorgt werden – zur Ausarbeitung fundierter Rechtsvorschriften und Strategien im Bereich der Drogenbekämpfung. Mit dem Jahresbericht wird ein Überblick über die Drogenproblematik in der EU geboten. Der Verwaltungsrat tagt mindestens einmal jährlich und besteht aus je einem Vertreter der EU-Mitgliedsländer, zwei Vertretern der Europäischen Kommission, zwei vom Europäische Parlament genannten unabhängigen Drogensachverständigen sowie je einem Vertreter der Drittstaaten, die ein Abkommen geschlossen haben. Der Verwaltungsrat ernennt auf Vorschlag der Europäischen Kommission den Direktor auf fünf Jahre. Wolfgang Goetz wurde 2009 als Direktor für weitere fünf Jahre wiederbestellt. Dem Verwaltungsrat und dem Direktor steht ein Exekutivausschuss zur Seite, der die Beschlüsse des Verwaltungsrats vorbereitet und den Direktor berät und unterstützt. Dazu kommt ein Wissenschaftlicher Ausschuss, der Stellungnahmen zu wissenschaftlichen Fragen abgibt, die die Tätigkeit der EBDD betreffen. Der Ausschuss besteht aus maximal 15 Wissenschaftlern, die aufgrund ihrer wissenschaftlichen Leistungen und ihrer Unabhängigkeit vom Verwaltungsrat ernannt werden. Die EBDD ist im Rang einer EU-Agentur, stützt sich bei ihrer Arbeit auf die von der EU angenommenen Drogenstrategien und Drogenaktionspläne und arbeitet mit internationalen Organisationen wie Interpol, WHO und Pompidou Group zusammen. In den EU-Mitgliedstaaten, in Norwegen, in den Kandidatenländern und in der Kommission bestehen Kontaktstellen (National Focal Points – NFP), die das europäische Informationsnetz für Drogen und Drogensucht bilden (REITOX-Netzwerk). Die nationalen Beobachtungsstellen sammeln Daten für die EBDD.
[1] Eine Substitutionstherapie Opioidabhängiger (engl.: opioid maintenance treatment (OMT); umgangssprachlich auch: Drogensubstitution oder Drogenersatztherapie) ist eine Behandlung von Personen, die an einer Abhängigkeit von Opioiden – meist Heroin – leiden. Die Behandlung erfolgt mit gesetzes- und richtlinienkonform zu verordnenden Medikamenten, wobei das Ziel darin besteht, in (mehr oder weniger) absehbarer Zeit eine dauerhafte Substanzfreiheit (Abstinenz) herbeizuführen oder im Sinne einer Dauersubstitution eine Schadensminimierung anzustreben und damit den Gesundheitszustand und die soziale Situation der Patienten deutlich zu verbessern und gleichzeitig Schaden von der Gesellschaft abzuwenden.(Quelle: Wikipedia)