Teil 2
Götterdämmerung in Zentralafrika
Operation Turquoise. Juni 1994 – August 1994
Von Thomas Gast
Und der Rest der Welt? In den Köpfen der meisten Europäer fand in Ruanda gerade ein Bürgerkrieg statt, besser gesagt: Er ging dieser Tage zu Ende. Die Massaker waren allenfalls, so die Auffassung vieler, ein Nebenprodukt des Krieges, eine Art Collateral Damage. Nichts also, worüber man sich ernsthaft Gedanken machen müsste. Es war allenfalls eine störende, unbequeme „Situation“. Wohl auch deshalb sah Europa nur halb hin.
Oh ja, man kümmerte sich. Aber ob es die Operation Turquoise (Operation Türkis) der Franzosen, die Operation Gabriel der Briten kurze Zeit darauf oder auch die Operation Support Hope der Amerikaner in der dritten Juliwoche war: Man kümmerte sich zu spät. Zumindest was den Völkermord betraf. Die UN-Resolution 929 des Weltsicherheitsrates vom 22. Juni 1994 erlaubte es den Franzosen, eine zeitlich begrenzte Operation durchzuführen, deren strikter humanitärer Charakter darauf abzielte, die Massaker in Ruanda, wo und wann immer es möglich war, zu beenden. Mit Gewalt, falls nötig!
Als die Resolution durch war, wurde zwischen Paris und Goma eine Luftbrücke errichtet. Die Operation Turquoise unter dem Befehl des Generals Lafourcade nahm Anlauf. Goma, die Hauptstadt der Provinz Nord-Kivu im damaligen Zaire, diente als logistische Basis. Von dort verlegten die „Türkis-Einheiten“ schnell über die Grenze nach Ruanda, nach Cyangugu, Gikongoro, Kibuye und Gisenyi. Der erste und scheinbar bedeutsamste Auftrag der Soldaten war es, die Flüchtlingscamps zu schützen.
Das alleine schon stellte eine Herkulesarbeit dar, denn um zu erreichen, dass das humanitäre Engagement von den völlig verunsicherten Ruandern akzeptiert wurde, musste zunächst ein Klima des Vertrauens geschaffen werden. Vertrauen, und das wussten die Legionäre, schuf man in erster Linie mit Engagement und mit eselssturer Neutralität. In einer Zone Humanitaire Sûre (ZHS) sollte ab dem 5. Juli die in Not geratene Population vor Angriffen geschützt sein und geschützt werden. Das alles zumindest, so könnte ich es mir vorstellen, stand in etwa auf dem Marsch- und Einsatzbefehl der ersten vor Ort operierenden Einheiten.
Rechte hatten die französischen Soldaten kaum. Sie durften weder diejenigen dingfest machen, die bewiesenermaßen an den Massakern teilgenommen hatten oder als dafür verantwortlich galten, noch war es ihnen gestattet, in irgendeiner Art und Weise Partei zu ergreifen. Was man ihnen aber erlaubte, war, die FAR dazu zu bringen, die Ordnung wiederherzustellen. Und schon tat sich das nächste Absurdum auf. War es denn nicht genau diese FAR gewesen, die den Genozid aktiv vorangetrieben hatte? Natürlich ging der Schuss nach hinten los. Wie konnten weitere Massaker verhindert werden, wenn Augen und Ohren (und Münder) verschlossen bleiben sollten? Wer profitierte von der „Neutralität um jeden Preis“? Was, wenn die Ereignisse die Soldaten einfach überrollten? Wem nützte es, wenn ein Land in der Lage war, binnen kurzer Zeit 2500 Elitesoldaten sowie 5000 Tonnen Kriegsgerät nach Ruanda zu verlegen, wenn dadurch dem Massaker kein Ende bereitet werden konnte?
Sicher war es ein Fehler, dass die Franzosen während der Operation Türkis die Hutu-Miliz nicht entwaffneten, ja die Täter nicht daran hinderten, über die nahe Grenze in die Flüchtlingslager zu fliehen. Auf der anderen Seite aber blieben dem französischen Kontingent insgesamt nur sechzig Tage, die Wunden zu pflastern, von denen das ganze Jahr über, der Rest der Welt den Blick abgewandt hatte. Sechzig Tage und kein einziger mehr!
Das Legionshauptquartier befand sich am Flughafen der Stadt Cyangugu. Von hier rückten die Männer der vierten Kompanie und der CRAP des 2. REP sowie Legionäre der ersten Kompanie des 2. REI und die der dritten Kompanie des 13. DBLE aus, um den ganzen Südwesten Ruandas zu
kontrollieren. Chef der Legionäre war Oberst Jacques Hogard, ein bulliger Legionsoffizier, dessen Vater, General seines Zeichens und ein Held der französischen Résistance bereits im Zweiten Weltkrieg, auch in Indochina sowie im Algerienkrieg gekämpft hatte.Jacques Hogard, den ich von meiner Zeit im 2. REP her kannte – ich war damals Obergefreiter in der ersten, er Kompaniechef der dritten Kompanie –, beschrieb in seinem im Jahr 2005 erschienenen Buch „Les larmes de l'honneur, 60 jours dans la tourmente du Rwanda“ Paul Kagame als Verantwortlichen des Abschusses der Maschine, in der Präsident Juvénal Habyarimana saß. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und bezichtigt Madeleine Albright, damals US-Botschafterin, dass sie die Entsendung einer internationalen Truppe zu lange hinausgezögert habe. Zu lange, als dass das Morden noch hätte verhindert werden können.
Zumindest was Letzteres betraf, hatte er recht. Was Ruanda betraf, glänzten die Amerikaner, wenn schon, dann höchstens durch ihre Abwesenheit. Als am 16. Juli, zwei Tage nach dem französischen Nationalfeiertag, die Truppen Paul Kagames in Gisenyi ihren Einzug hielten, drohte die angespannte Lage zu eskalieren. Die Rebellen trieben Hunderttausende oder sogar eine Millionen Flüchtlinge vor sich her. Um der Lage noch Herr zu werden, waren Fremdenlegionäre genau die richtigen Männer. Sie kannten Afrika.
Die von den Legionären überwachten Lager sprangen jedoch buchstäblich aus den Nähten. Um das Maß vollzumachen, brach eine Choleraepidemie aus, die auch vor den französischen Soldaten nicht Halt machte. Als die sechzig Tage rum waren, übergab die französische Armee den Auftrag an die äthiopischen Soldaten der UNAMIR-2. Nun ist es müßig, zu hinterfragen, was in den oberen Etagen, in den politischen Büros und den Generalstäben alles schiefgelaufen ist oder was man dort hätte tun oder lassen sollen. Fakt war, dass die einfachen französischen Soldaten, insbesondere die Legionäre, sich stolz auf die Schulter klopfen konnten, denn was sie geleistet hatten, war in Anbetracht der ganzen schleierhaften Umstände nur eines: eine hervorragende Arbeit, good job!
Mobutu, Kabila, Coltan, Gold und Diamanten
Mobutu war ein Produkt belgischer Kolonisation. Nach seinem Großonkel nannte man ihn Sese Seko Kuku Ngbendu wa za Banga, den „Krieger, der von einem Triumph zum Nächsten eilte“. Und genau das tat er auch. Der vom Geltungsbedürfnis und später vom Größenwahn motivierte Leopardenmann war nicht etwa zu vergleichen mit einem Idi Amin Dada, dem man nachsagte, dass er seine Feinde gerne mal verspeiste, nein! Mobutu war schlimmer. Unteroffizier, Journalist und schließlich Generalstabschef der Force Publique Zaires, das alles waren nur Zwischenstationen des vom Ehrgeiz zerfressenen Ngbandi.
1965 putschte er sich selbst an die Macht. Seit diesem Zeitpunkt führte er als Diktator ein dreißigjähriges, irrsinniges Regime, das von Korruption und von Ausbeutung geprägt war. Dieses Regime war 1997 wie eine überreife Frucht; es fehlte nur jemand, der dem Baum, der sie trug, einen kräftigen Tritt verpasste, damit sie zu Boden fiel und zerbarst. Ging es beim Völkermord in Ruanda in erster Linie um Hass und um Macht, so kamen in den Kongokriegen zwei Komponenten hinzu: Rohstoffe und deren potenzielle Abnehmer! Abnehmer, die nicht in Afrika, sondern mitten unter uns und in unserer „zivilisierten“ Welt zu finden waren. Das einfache Volk, welcher Ethnie auch immer es angehörte, wurde dabei in eine Statistenrolle verdammt.
Für Kriege und üble Machenschaften wie den Raubbau an der Erde und für den „Run“ auf Afrikas Bodenschätze brauchte man Gewinner, vor allem aber benötigte man Statisten und Verlierer. Nach dem Völkermord in Ruanda flohen die mörderischen Hutus über die Grenze nach Zaire, wo sie in immensen Flüchtlingscamps Unterschlupf fanden. Dort, in der Kivuregion, hauptsächlich in Goma und Bukavu, organisierten sie sich erneut. Sie bauten die Flüchtlingscamps zu Basen für eine baldige Wiedereroberung Ruandas aus. Während die UN erhaben wegsahen, entstanden dort richtige Armee-Trainingslager und Ausbildungszentren: Brutstätten der Wut und des Hasses!
Die „Tutsi von Zaire“, die Banyamulenges, mit den Tutsi von Ruanda eng verwandt, hatten sich seit langer Zeit schon in der Region niedergelassen. Doch nun wurden sie von den Hutus verfolgt und vertrieben, und die Machthaber in Kinshasa halfen ihnen dabei. Während Mobutu bei den USA immer mehr in Ungnade fiel, zeichnete sich aus der oben genannten Rebellion heraus ein neuer Mann am Kongo-Horizont ab: Laurent-Désiré Kabila. Mobutu besaß Macht, und der von den USA in allen Belangen unterstützte Gold- und Elfenbeinhändler von Hewa Bora, der so nebenbei noch dem Waffen-, Diamanten-, dem Drogenschmuggel und der Prostitution frönte, wollte sich diese Macht aneignen.
Kabila hatte bei weitem nicht das Format eines Spitzenpolitikers. Das wussten die Amerikaner. Was also erwarteten sie sich von diesem Mann, der eher aussah wie ein grausamer, blauschwarzhäutiger Blutsäufer als ein feiner Diplomat? Die Frage war einfach zu beantworten. Im Kongo lagen unermessliche Bodenschätze. Gold, Diamanten, Kupfer und vor allem Coltan. Coltan oder Tantal war ein wichtiger Bestandteil für die Handyproduktion. Bereits damals war abzusehen, dass sich auch die Computerindustrie auf dieses Erz stürzen würde. Kabila vergab Lizenzen von Diamant-, Gold- und sonstigen Erz Minen, und er erhielt dafür Cash, Waffen und Carte Blanche (grünes Licht) für sein weiteres Vorgehen.
Was die Amerikaner nicht wissen konnten, war, dass Kabila, was Kongos immense Bodenschätze anbelangte, damals schon mit China und Nord-Korea liebäugelte. Außerdem bot er 1998 einem Geschäftsmann aus Zimbabwe, einem gewissen Billy Rautenbach, die Obhut über GECAMINES in der Katanga-Provinz an, die dieser natürlich nicht verschmähte. Möglicherweise, ich möchte sagen höchstwahrscheinlich, waren es all diese „Liebschaften“, die Kabila später ins Fadenkreuz der USA und letztendlich ins kühle Grab brachten. Auf der Gegenseite unterstützten die Franzosen Mobutu (Françafrique, dem nachkolonialen französisch-afrikanischen Netzwerk, verpflichtet) nach wie vor mit aller Macht. Schließlich ging es um nichts weniger als um Vorherrschaft und um Einfluss in der Region. Der Ausspruch „Afrika ohne Frankreich ist wie ein Auto ohne Fahrer. Frankreich ohne Afrika ist wie ein Auto ohne Benzin“ traf genau ins Schwarze.
Mehr als 40 Jahre Unabhängigkeit in Afrika bot der Welt ein trauriges Schauspiel eines geplünderten Kontinents, gedemütigt durch die Komplizenschaft seiner eigenen Söhne und Töchter. Laurent-Désiré Kabila (1939 – 2001), Präsident von Zaire/ Demokratische Republik Kongo.
In einer Art Blitzkrieg führte Kabila den ersten Kongo-Krieg. Mit der Ansage, „Mobutu in den Mülleimer der Geschichte zu werfen“, fegte seine Armee wie ein Orkan in Richtung Kinshasa. Tutsi-Soldaten der Ruandisch Patriotischen Front und tausende von Tutsi-Flüchtlingen füllten seine Reihen. Sein Heer bestand aber auch aus Kindersoldaten. Unter Aufsicht und angestachelt von erwachsenen Kämpfern rückten die „Kids“ auf roten Lehmpisten, durch dichten Dschungel, durch Regen und durch Sümpfe und über die mit Elefantengras bewachsene Savanne vor. Hutus wurden massakriert, wo man sie antraf.
Nacheinander fielen Bukavu am 30. Oktober 1996 und Goma vier Tage später. Bereits Ende Dezember 1996 hatte die AFDL das gesamte Grenzgebiet nach Uganda, Ruanda und Burundi unter ihrer Kontrolle. In Windeseile marschierten sie unbeirrbar weiter nach Westen. Mobutu derweil tobte. Erbost über das Unvermögen seiner eigenen Truppe ernannte er General Mahele zum Stabschef der Armee von Zaire. Mahele hatte nur einen einzigen Auftrag: Kabila aufzuhalten! Doch auch er konnte nicht verhindern, dass die bedeutendste Bastion auf dem Weg in die Hauptstadt in die Hände der Rebellen fiel: Kisangani! Wie ein Schwarm ausgehungerter Heuschrecken fielen Kabilas Männer über die Stadt her. Sie zerstörten den dortigen Flughafen und die wenigen Hubschrauber in den Hangars, und sie töteten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte.
Die Einnahme Kisanganis war ein schrecklicher Schlag für Mobutu. Kisangani war immerhin das solideste Bollwerk gegen Kabila gewesen. Niemand hatte ernsthaft daran geglaubt, dass es fallen könnte. Niemand jedenfalls außer Mahele selbst. Der drahtige General war sich des Ernstes der Lage nur allzu sehr bewusst, aber er konnte nichts tun. Seine Einheiten suchten ihr Heil in der Flucht. Die meisten Berichte, die mit ihnen von der Front kamen, waren falsch. Sie erzählten von einem heroischen Widerstand, der nie stattgefunden hat. Mahele war somit Herr über eine Gespensterarmee! Die Regierung vertraute ihren eigenen Generälen nicht mehr und forderte die Unterstützung diverser Söldnerfirmen an.
In Belgrad wurde in aller Eile eine serbische Söldnereinheit von 180 Mann aufgestellt. Serben, teilweise brutale Kriegsverbrecher des Bosnienkrieges aus den Jahren 1992 bis 1995, zu denen auch Kroaten, Russen und Polen stießen, erhielten vermutlich via Botschaft Zaires in Paris ihre Visa und flogen dann direkt nach Kinshasa. Das geschah um die Jahreswende 1996/1997. Ein anderes Söldnerkontingent, hauptsächlich waren es Franzosen, stand unter dem Befehl eines Belgiers. Die beiden Söldnerfraktionen, Serben und Franzosen, verschmolzen, bildeten bald schon eine einzige Légion blanche. Als solche tauchten sie am 3. Januar 1997 in Kisangani auf.
Wenn man den Erzählungen der Einwohner Kisanganis Glauben schenken darf, dann haben sie sich sehr disziplinlos verhalten. Naiverweise erwarteten die Söldner der Légion blanche, dass Kabilas Männer den klassischen Buschkrieg von anno 1961 (Zeit der Kongo-Wirren) führten. Damit begingen sie einen unverzeihlichen Fehler. Keine einzige Minute gelang es diesen schwerbewaffneten War-Dogs, Laurent-Désiré Kabila und den AFDL-Rebellen den Schneid abzukaufen, im Gegenteil: Meist waren sie auf der Flucht! Stellten sie sich doch mal zum Kampf, dann bekamen sie anständig den Hintern versohlt.