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Kanalbrigade der Wiener Polizei 1955: Suche nach Aufständischen und Einbrechern im ausgedehnten Kanalsystem Wiens
© ÖNB/Fritz Zvacek

Kanalbrigade: Streifen im Untergrund

Von Werner Sabitzer

Im Februar 1934 wurde bei der Wiener Polizei eine Kanalbrigade aufgestellt. Ziel war die Bekämpfung von Aufständischen sowie Einbrechern, die über das Kanalnetz zum Tatort gelangten.
Der Portier des Hauses Am Hof Nr. 5 hörte am Sonntag, 29. April 1934, verdächtiges Klopfen und Scharren aus dem Keller. Er vermutete, dass es Einbrecher waren, die vom Kanal aus in das Gebäude einzudringen versuchten. Polizisten der Kanalbrigade drangen mit gezogenen Pistolen vom Hauptkanal zum Hauskanal vor. Sie trafen auf drei Männer, die nach dem Ausstieg aus dem Kanal festgenommen wurden. Zwei weitere Männer, die sich im Kanal versteckt hatten, wurden ebenfalls festgenommen. Bei ihnen wurden Einbruchswerkzeug, zwei Bajonette und eine geladene Pistole sichergestellt. Die fünf Verdächtigen hatten die Kanaldecke unter dem Keller zum Juweliergeschäft Am Hof 5 angebohrt. Ein anderes Team der Kanalbrigade fand in einem Kanalschacht hängend zwei Säcke mit Pelzen, die bei einem Einbruch in ein Pelzwarengeschäft in der Quellenstraße gestohlen worden waren.

Die Festnahme dieser Einbrecherbande war einer der ersten erfolgreichen Einsätze der vorerst 30 Mann starken Kanalbrigade, die Ende Februar 1934 aufgestellt worden und für sicherheitspolizeiliche Aufgaben im ausgedehnten Wiener Kanalnetz zuständig war.

Zwei Hauptgründe gab es für die Aufstellung der Spezialtruppe der Wiener Sicherheitswache: Man wollte die vielen Einbruchsdiebstähle eindämmen, bei denen die Täter über das Kanalnetz zum Tatort gelangten. Außerdem fürchteten die Sicherheitsbehörden, das Kanalsystem könnte von untergetauchten Aufständischen als Waffenversteck oder für Anschlagsvorbereitungen genützt werden. Zwei Wochen vor der Aufstellung der Kanalbrigade war ein Putschversuch der Sozialdemokraten niedergeschlagen worden.

Im Juni 1934 versuchten Einbrecher, über einen Kanal von unten in ein Juweliergeschäft in der Reinprechtsdorfer Straße einzubrechen. Dem Juwelier fiel auf, dass sich der Fußboden gelockert hatte. Er verständigte die Polizei. Spezialisten der Kanalbrigade durchsuchten die Kanäle in diesem Bereich, aber die Täter konnten flüchten.

Ausbildung und Ausrüstung

Mit der Aufstellung der Kanalbrigade in der Marokkanerkaserne wurde der Stellvertreter des Generalinspektors für die öffentliche Sicherheit, Hofrat Emil Michall, betraut; Leiter war Polizeistabshauptmann Kraft. Die für die Kanalisation zuständige Magistratsabteilung (MA 30) der Stadt Wien stellte Lage- und Dienstpläne zur Verfügung. Ein Werkmeister der MA 30 schulte die Polizisten. Während der Ausbildung mussten die Polizisten 15 Stationen absolvieren, auch in den Kanälen. Eine Herausforderung war das Durchkriechen eines 800 Meter langen, 85 Zentimeter hohen, aber nur 50 Zentimeter breiten Kanals. Ein Drittel der Bewerber schied während der Ausbildung aus. Geplant war, bis zu 200 Polizisten für die Einsätze im Wiener Untergrund auszubilden.

Die Dienstkleidung der Kanaltruppe bestand aus wasserdichten Stulpstiefeln, strapazierfähigen Jacken aus grobgewebtem Leinen mit Kapuzen und dunklen Pullmann-Mützen mit dem Dienstabzeichen der Polizei. Vor dem Anziehen der Kanalstiefel mussten 1,5 Meter Fußlappenstoff so um die Füße gewickelt werden, dass keine Falte entstand. Zur Ausrüstung gehörten schwere Stöcke, Scheinwerfer, Pechfackeln und Kanalräumerkerzen, Seile, Strickleitern, Krampen zum Öffnen der Einstiege und Werkzeug zum Durchsuchen des Spülichts und kleinerer Kanaleinbauten. Dienstwaffen waren Pistolen und Maschinenpistolen. Der Kanalbrigade waren auch Polizeisportler zugeteilt, darunter Leichtathleten, Ringer und Jiu-Jiutsu-Kämpfer.

 Polizisten der Kanalbrigade: Kontrollstreife in der Wiener „Unterwelt“ um 1935
© ÖNB/Fritz Zvacek

„Kanalstrotter“

Das Wiener Kanalsystem hatte 1934 eine Gesamtlänge von 2.807 Kilometern. Neben den Hauptsammelkanälen gab es Haus-, Regenwasser, Unrat- und Straßenkanäle, 493 Spülkammern, 621 Spülschieber sowie Kanalschleusen und Hebewerke.

Im Kanalsystem hielten sich Obdachlose („Kanalstrotter“), Fettfischer und „Goldwäscher“ auf. Es handelte sich um Arbeits- und Obdachlose, die in den Kanälen nach Wertgegenständen suchten, wie Münzen, Goldzähne, Silberbesteck, Schmuck und andere verwertbare Sachen. Einige Kanalbewohner fischten Fett vom verschmutzten Wasser ab und verkauften es an Seifenfabriken. Unter dem Schwarzenbergplatz gab es im Kanalsystem einen trockenen Raum, in dem mehrere Strotter wohnten. Sie nannten ihren Unterschlupf „Zwingburg“ oder „Hotel zum goldenen Ratzn“. Der Kommandant der Kanalbrigade führte eine Liste der Kanalbewohner.

Kanalstreifen

Die Polizisten streiften täglich im Kanalsystem. Sie blieben oft mehrere Stunden in den Hauptkanälen und engen Schließschächten. Der Dienst war herausfordernd und gesundheitsgefährdend. In den Kanälen lag oft kniehoch Müll und es stank furchtbar. In manchen Gängen konnten sich die Polizisten nur gebückt fortbewegen. Nach einem Platzregen schwoll das Wasser in den Kanälen rasch an, flüchtende Ratten warnten die Polizisten bei Kanalstreifen vor der Gefahr. Der Kanalbrigade gelang es, die Zahl der Straftaten, die vom Kanalnetz aus begangen wurden, um 80 Prozent zu senken. Die Polizisten wurden auch zur unterirdischen Sicherung wichtiger Gebäude herangezogen.

Jeweils vier Polizisten durchstreiften die Kanäle, ein fünfter Beamter, der Obermann, wartete an der Einsteigstelle. Kamen die Kollegen nicht zur vereinbarten Zeit zurück, wurde ein Unglück befürchtet, dann holte der Obermann Hilfe. Der Obermann ging auch über dem Kanal auf der Straße die Strecke mit und beobachte seine Kollegen in den unterirdischen Gängen von den Kanaldeckeln aus.

 Polizisten der Kriminalbrigade während des Putschversuchs der Nationalsozialisten im Juli 1934.
© ÖNB/Fritz Zvacek

Die Kanalbrigade erledigte neben der sicherheitspolizeilichen Arbeit auch Hilfeleistungen: Sie bargen Schlüssel, Geld und Wertgegenstände, die durch das Kanalgitter gefallen waren, oder suchten nach Schmuckstücken, die durch den Ausguss in das Kanalsystem gerieten. In diesen Fällen schütteten sie Tinte in den Ausguss und verfolgten die blaue Spur im Kanal – in der Hoffnung, den Schmuck zu finden.

1936 versahen bereits 145 Polizisten Dienst in der Kanalbrigade. In der Marokkanerkaserne stand ein Überfallsauto für die Kanalbrigade bereit.
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938 in Österreich wurde die Kanalbrigade in die Schutzpolizei eingegliedert und als „Kanalüberwachungsdienst“ weitergeführt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1945 mit der Wiedererrichtung der Sicherheitswache auch die Kanalbrigade wieder aufgestellt. Die britische Besatzungsmacht organisierte Ausrüstung und Bewaffnung. 1946 bestand die Kanalbrigade aus 30 Polizisten. Die Truppe wurde auch zur Bekämpfung des Schleichhandels eingesetzt.
1968 wurde die Kanalbrigade in die Alarmabteilung eingegliedert und einige Jahrzehnte später als eigenständige Einheit aufgelöst.

-Erstveröffentlicht Öffentliche Sicherheit-

 

Über den Autor
Werner Sabitzer
Werner Sabitzer
Werner Sabitzer, MSc, 63, war 30 Jahre lang Pressereferent im österreichischen Bundesministerium für Inneres (BMI) und Chefredakteur der Fachzeitschrift „Öffentliche Sicherheit“. Er ist seit 2018 Referent für Polizeigeschichte und Traditionspflege im BMI und leitet das Polizeimuseum Wien.
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