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Auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors erhielten in den 1970er Jahren besonders gefährdete Personen, wie etwa Richter am Bundesgerichtshof, eine Pistole zu ihrem Eigenschutz.
Foto:© Dr. Reinhard Scholzen

Gespeicherte Waffen

Von Dr. Reinhard Scholzen

Seit dem Jahr 2013 erfasst das Nationale Waffenregister (NWR) die legal in Deutschland besessenen Schusswaffen. Das Wissen über den Waffenbesitz ist aber immer noch lückenhaft. Zudem steigt in der Bevölkerung die Nachfrage nach Schreckschusswaffen.

Das Nationale Waffenregister

Über viele Jahre war der private Waffenbesitz der Deutschen ein Buch mit sieben Siegeln. Vor zehn Jahren reichten die Schätzungen der rechtmäßig zwischen Rhein und Oder besessenen Pistolen, Revolver und Gewehre von fünf, über zehn bis hin zu 20 Millionen. Bei den illegalen Waffen, die also ohne staatliche Registrierung irgendwo im Bundesgebiet verwahrt wurden, gingen die Mutmaßungen von knapp unter zehn, 20 bis zu 40 Millionen. In der Summe lagen somit die Schätzungen zwischen 15 und 60 Millionen Waffen in Deutschland.

Mehr Klarheit brachte eine EU-Waffenrichtlinie, die allen Mitgliedstaaten vorschrieb, ein Verzeichnis der legal besessenen Waffen zu erstellen. In Deutschland begann man im Jahr 2008 mit ersten Vorarbeiten zum Nationalen Waffenregister (NWR), das von manchen Polizeivertretern mit Vorschusslorbeeren bedacht wurde. So betonte der damalige Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bernhard Witthaut, es sei „für die Polizei überlebenswichtig, bei einer Fahndung oder vor einem Einsatz schnell erfahren zu können, ob sie Personen antreffen, die über – zumindest legale – Waffen verfügen oder ob Waffen im Haus sind.“ Auch Wolfgang Dicke von der GdP sah viel Licht im neuen NWR, genau wissend, dass es ja nur einen Teil der Waffen erfassen kann. Die Speicherung im NWR würde der „aus polizeilicher Sicht richtigen Argumentation der Waffenbesitzer dienen, wonach der private Waffenbesitz in Hinblick auf die missbräuchliche Verwendung von Schusswaffen für kriminelle Zwecke kaum eine Rolle spielt (ca. 0,03 Prozent aller registrierten Straftaten).“ Somit könne mit dem NWR die häufig noch unsachlich geführte Debatte über den privaten Waffenbesitz auf eine „sachliche Plattform gestellt“ werden.

Viel Gutes erwartete auch der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) von der Erfassung der legalen Waffen. Rainer Wendt wählte einen einprägsamen Vergleich: „Jede Kuh und jedes Schaf in Europa hat eine Registriernummer und wird in einer zentralen Datei registriert, aber Schusswaffen können wir nicht einmal von einer Stadt in eine andere zurückverfolgen.“

Spiegelt man die positiven Erwartungen der Polizeigewerkschafter vor der Einrichtung des NWR mit den Erfahrungen nach dessen Installation im Jahr 2013, zeigt sich Ernüchterung. Rainer Wendt relativierte bereits bald dessen Nutzen: „Erfasst werden natürlich nur die legalen Waffen. Die illegalen Waffen ... stellen nach wie vor eine erhebliche Gefährdung dar.“ Dennoch resümiert die DPolG im Internet unverdrossen: „Daher dient die Einführung eines zentralen Waffenregisters auch der Sicherheit von Polizeibeamten.“ Tendenziell stärkere Bedenken äußerte frühzeitig der GdP-Vorsitzende Oliver Malchow. Er wertete das Waffenregister als „Schuss in den Ofen“, da es zahlreiche Fehler enthalte. Manche Polizeipraktiker sehen hingegen ganz andere Gefahren, die ein rheinland-pfälzischer Polizist auf den Punkt bringt: „Gerade bei jüngeren Kollegen könnte eine ergebnislose Abfrage eine trügerische Sicherheit erzeugen“.

Im Bundeslagebild Waffenkriminalität bleiben kritische Stimmen außen vor. Mit starrem Blick auf die Chancen heißt es dort seit Jahren, „Informationen des NWR können damit unmittelbar bei Einsatzlagen zum Zwecke der Gefahrenabwehr, im Rahmen von Ermittlungsverfahren sowie bei Maßnahmen zur Eigensicherung in die jeweilige Lagebeurteilung einfließen.“

Das weite Feld der „Schusswaffen in der Bundesrepublik Deutschland“ erhellen die Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion vom Januar 2018. Auf den ersten Blick nahm die Gesamtzahl der legal privat besessenen Schusswaffen und Waffenteile seit 2013 kontinuierlich zu.

Im NWR registrierte Schusswaffen und Waffenbesitzkarten in Deutschland

Jahr Anzahl Schusswaffen Anzahl Waffenbesitzkarten
2013 5.569.163 1.665.271
2014 5.701.762 1.637.342
2015 5.818.290 1.619.120
2016 5.952.280 1.616.122
2017 6.089.543 1.617.816

 

Somit stieg die Gesamtheit der legal besessenen Schusswaffen um 9,3%, gleichzeitig verringerte sich die Zahl der Waffenbesitzkarten (WbK) um fast drei Prozent. Auf den ersten Blick scheint dies widersprüchlich zu sein. Eine WbK berechtigt zum Erwerb einer Schusswaffe. Jedoch können, wenn dafür ein Bedürfnis vorliegt – auf das wir weiter unten näher eingehen –, auch mehrere Waffen in eine WbK eingetragen werden. Dies gilt zum Beispiel für Sportschützen, die diverse Disziplinen mit unterschiedlichen Waffen schießen oder für Jäger, die verschiedene Wildarten bejagen. Spezielle WbKs gibt es auch für Sammler, Waffensachverständige und Schießsportvereine, die regelmäßig mehr als eine Waffe besitzen. Auch in der Zahl der registrierten Schusswaffe gibt es eine Unschärfe, weil im NWR bis zum Ablauf einer Speicherfrist auch noch solche Waffen aufgeführt sind, die bereits vernichtet wurden.

Seit dem Jahr 1972 schreibt das deutsche Waffenrecht vor, dass jeder, der legal eine Waffe besitzen möchte, dafür ein Bedürfnis nachweisen muss. Damit wird das Ziel verfolgt, „die Zahl der Waffenbesitzer sowie die Art und Zahl der in Privatbesitz befindlichen Schusswaffen auf das unbedingt notwendige und mit Rücksicht auf die Interessen der öffentlichen Sicherheit vertretbare Maß zu beschränken.“ Wie viele Waffen diese Berechtigten jeweils besitzen, ist sehr unterschiedlich.

Waffenbesitzer in Deutschland nach ihrem Bedürfnis am 31. 12. 2017

Jäger: 417.005
Sportschützen: 345.576
Erben: 96.935
Vereine: 15.447
Waffen- und Munitionssammler: 7.089
Gefährdete Personen: 1.951
Brauchtumsschützen: 1.645
Waffen- und Munitionssachverständige: 1.343
Bewachungsunternehmer und Bewachungspersonal: 1.154
Sonstige: 46.485

 

Neben diesen legalen Waffen existieren aber auch illegale Waffen, die aus unterschiedlichen Gründen in den offiziellen Statistiken nicht auftauchen. Das kann die Walther-Pistole des Großvaters sein, die er aus dem Krieg mitbrachte und die seither irgendwo auf dem Speicher liegt. Es kann ein Kleinkalibergewehr sein, das in den frühen 1960er Jahren in einem Versandhauskatalog bestellt und nach der Novellierung des Waffengesetzes im Jahr 1968 nicht in eine WbK eingetragen wurde. Es kann aber auch die Maschinenpistole eines Zuhälters oder Drogendealers sein, die nach dem Ende des Bürgerkriegs in Jugoslawien nach Deutschland geschmuggelt wurde.

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Die Gewerkschaft der Polizei schätzte vor einigen Jahren, es gäbe in Deutschland 20 Millionen illegale Schusswaffen, ohne dies näher zu begründen. Zu einem deutlich niedrigeren Ergebnis kommt Rainer Hofius, ein Oberstaatsanwalt aus Mainz, der bei mehreren Anhörungen des Deutschen Bundestages als Sachverständiger tätig war. Er wertete über mehrere Jahre Suizide aus und stellte dabei fest, dass 60 Prozent der dabei verwendeten Schusswaffen illegal besessen wurden. Bei rund sechs Millionen legalen Waffen errechneten sich somit neun Millionen illegale Waffen. In der Addition der legalen und illegalen Schusswaffen ergäbe sich ein Wert von etwa 15 Millionen. Das läge punktgenau bei der oben erwähnten niedrigsten Schätzung vor der Einführung des NWR.

Waffen bei Straftaten

In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird verzeichnet, ob bei einer Straftat mit einer Schusswaffe gedroht wurde. Im Jahr 2016 wurden 4.425 derartige Drohungen erfasst. Berechnet man die Anzahl dieser Taten auf jeweils 100.000 Einwohner – also die Häufigkeitszahl – ergibt sich mit 16,0 der höchste Wert im Saarland, gefolgt von Sachsen-Anhalt (15,5) und Rheinland-Pfalz (11,1). Betrachtet man alle Delikte, bei denen mit einer Schusswaffe gedroht wurde, so machen die Straftaten gegen die persönliche Freiheit 46,6 Prozent aller Fälle aus, ihnen folgen mit 43,1% die Raubdelikte.

Darüber hinaus unterscheidet die PKS, ob mit einer Waffe auf Personen oder Sachen geschossen wurde. 2.199 Fälle wurden unter „Sonstige Straftatbestände“ eingeordnet, die damit 39,7 Prozent aller Fälle ausmachen, bei denen mit einer Waffe geschossen wurde. Des Weiteren sind 1.803 Fälle einer Sachbeschädigung erfasst, also zum Beispiel das Schießen auf ein Straßenschild. Einen anderen großen Posten bilden 1.993 Verstöße gegen „Strafrechtliche Nebengesetze“. Hierunter fällt zum Beispiel das unerlaubte Schießen mit einer Waffe in der Öffentlichkeit. Bei 864 Körperverletzungen war eine Schusswaffe im Spiel und es kam zu 158 Straftaten gegen das Leben – zum Beispiel Mord und Totschlag –, bei denen eine Pistole, ein Revolver oder ein Gewehr verwendet wurde.

Ob ein Verbrechen mit einer legalen oder illegalen Waffe begangen wurde, kann nicht in jedem Fall beantwortet werden. Dies belegen mehrere Antworten von Landesregierungen auf Kleine Anfragen von Parlamentariern. Besonders eindrucksvoll fiel die Antwort auf eine Kleine Anfrage im sächsischen Landtag aus. Es wurde dargelegt, die Polizei führe zu dieser Frage keine Statistiken. Wollte man die Frage beantworten, müssten alle in Sachsen mit Waffen geschehenen Straftaten einzeln ausgewertet werden. Der Präsident des Landtags rechnete vor, dazu seien 2.657 Stunden erforderlich. Dafür stünde das notwendige Personal nicht zur Verfügung.

Lediglich eine Annäherung an den prozentualen Anteil der legalen und illegalen Waffen bei Straftaten ist über die Erfassung der an den Tatorten sichergestellten Waffen möglich. Im Jahr 2014 antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Bei Straftaten sichergestellte Waffen 2010-2013

Jahr

Fälle der Straftaten

Erlaubnisfreie Waffen

Illegale Waffen

Legale Waffen

Summe aller Waffen

2010

496

346

142

28

516

2011

410

323

106

19

448

2012

413

295

119

17

431

2013

412

337

124

23

484

 

Somit bewegte sich in diesen Jahren der Anteil der legalen Waffen zwischen 3,9 und 5,4 Prozent. Dies liegt in der Nähe einer Feststellung des Bundeskriminalamtes aus dem Jahr 2008. Damals hatte ein Pressesprecher ausgeführt, der Anteil der bei Straftaten verwendeten legalen Waffen liege bei rund zwei Prozent. Der GdP-Vorsitzende Konrad Freiberg hatte bereits ein Jahr zuvor betont, für den Erhalt der Inneren Sicherheit sei es somit bedeutsamer, den illegalen Waffen nachzuspüren. Dafür brauche die Polizei aber sehr viel mehr Personal.

Sich selbst bewaffnen

Im Jahr 2017 sank die Zahl der erfassten Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um fast zehn Prozent. Auch die Zahl der Wohnungseinbrüche nahm ab, aber bei den Immer öfter verwenden Gewalttäter ein Messer.
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Gewaltdelikten gab es kaum Veränderungen: Mord und Totschlag, Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe nahmen sogar zu. Jörg Radek, der stellvertretende Bundesvorsitzende der GdP, stellt heraus, es habe zwar die Gesamtzahl der Gewalttaten abgenommen, jedoch sei die Gewaltintensität gestiegen. Dies zeigt sich darin, dass Täter immer öfter statt ihrer Fäuste ein Messer einsetzen.

In den Medien – besonders in sozialen Netzwerken – nehmen Berichte über Gewalttaten einen breiten Raum ein. Gleichzeitig wird darüber berichtet, dass in vielen Bundesländern Polizisten fehlen. Zusammengenommen führt dies dazu, dass sich immer mehr Menschen auf irgendeine Weise bewaffnen, weil sie fürchten, das Opfer einer Gewalttat zu werden. Das sehen manche Polizisten mit großer Sorge. Arnold Plickert, der erste Mann der GdP in Nordrhein-Westfalen, führte dazu in einem Interview mit dem WDR im Februar 2018 aus, die Hierzulande werden bei Straftaten vergleichsweise selten scharfe Schusswaffen eingesetzt.
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Polizei müsse so ausgerüstet werden, dass die „Menschen wieder Vertrauen in die öffentliche Sicherheit haben.“ Die Politiker hätten die richtigen Lehren gezogen und verstanden, „dass wir in Angsträume, in Brennpunkte ganz konsequent Polizei reinbringen müssen.“

Ganz anders sieht das sein Kollege von der DPolG, Rainer Wendt: „Es ist doch klar, dass die Anträge für den kleinen Waffenschein in die Höhe schnellen. Die Menschen haben zunehmend Angst vor Terror und Kriminalität. Und sie lassen sich nicht länger mit Statistiken, Beschwichtigungen oder Ankündigungen beruhigen.“

In Deutschland sind die Möglichkeiten, sich mit einer Schusswaffe selbst zu schützen, eng reglementiert. Wer eine Waffe mit sich führen möchte, benötigt dazu einen Waffenschein. Dabei müssen zwei völlig verschiedene Berechtigungen unterschieden werden: Wer im Besitz eines sogenannten „Kleinen Waffenscheins“ (§ 10 Abs. 4 Satz 4 WaffG) ist, der im Jahr 2003 im Zuge einer Waffenrechtsnovellierung eingeführt wurde, darf eine Schreckschusswaffe bei sich führen. Diese ist dazu bestimmt, daraus Kartuschenmunition abzuschießen, also Schreckschuss-, Reizstoff- und kleine Signalpatronen. Da die Bauweise so sein muss, dass daraus keine „scharfen“ Patronen verschossen werden können, werden diese SRS-Waffen nicht in das NWR eingetragen. Wer diesen „Kleinen Waffenschein“ erhalten möchte, muss 18 Jahre alt sein und seine Zuverlässigkeit und persönliche Eignung nachweisen. Wer hingegen eine scharfe Waffe führen möchte, muss im Besitz eines „Waffenscheins“ sein. An diese legalen Waffenträger stellt der Gesetzgeber besonders hohe SRS-Waffen, aus denen Knall, Reizgas- und Pfefferpatronen verschossen werden können, sind bei den Deutschen sehr beliebt. Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger nimmt zu, die eine solche Waffe ständig zu ihrem Schutz mitführen möchten und daher einen „Kleinen Waffenschein“ beantragen.
Foto:© Dr. Reinhard Scholzen
Anforderungen. Insbesondere gilt das für das Bedürfnis; denn der zukünftige Waffenscheininhaber muss darlegen, dass er sehr viel stärker als andere gefährdet ist und seine Gefährdung durch das ständige Mitführen einer scharfen Schusswaffe deutlich verringert wird.

Wie restriktiv der Gesetzgeber bei der Ausgabe von Waffenscheinen vorgeht, belegt das NWR: Am 31. Dezember 2013 besaßen nur 18.587 Deutsche einen Waffenschein gemäß §10 Abs. 4 Satz 2 und 3 WaffG. Ihnen war es somit erlaubt, ständig eine scharfe Waffe mit sich zu führen, jedoch mit Einschränkungen und Verboten für bestimmte Anlässe. So ist es dem Waffenscheinbesitzer in der Regel verboten, seine Schusswaffe bei öffentlichen Veranstaltungen, Messen und Märkten mitzuführen. Eine bemerkenswerte Veränderung verkündete die Deutsche Bahn AG im November 2017. Seither ist den Inhabern eines Waffenscheins die Mitnahme ihrer Waffe in Zügen erlaubt.

Waffenscheine für „scharfe“ Waffen

2013: 18.587

2014: 14.479

2015: 12.781

2016: 11.916

2017: 10.500

 

Während somit die Zahl der Berechtigungen zum Führen einer scharfen Schusswaffe seit dem Jahr 2013 um 43,5 Prozent abnahm, ist die Zahl der ausgegebenen „Kleinen Waffenscheine“ rasant angestiegen.

Inhaber eines „Kleinen Waffenscheins“

Jahr

Personen mit „Kleinem Waffenschein“

2013

249.923

2014

262.481

2015

285.911

2016

469.741

2017

557.560

 

Die in diesem Zeitraum um 123 Prozent gestiegene Nachfrage nach dem Kleinen Waffenschein muss im Zusammenhang mit der Silvesternacht in Köln 2015 gesehen werden. Viele Bürgerinnen und Bürger sahen die Übergriffe meist nordafrikanischer Männer auf Frauen im Hauptbahnhof, auf dem Bahnhofsvorplatz und der Domplatte als Indiz für ein Staatsversagen. Da die Polizei nicht in der Lage sei, die Bürger zu schützen, wollten diese selbst für ihre Sicherheit sorgen, konnte man in der Folgezeit hören. Das klingt zunächst plausibel. Es lässt sich jedoch auch andernorts feststellen, dass der Wunsch, eine Waffe zu besitzen, wächst. So nahmen in einigen Kantonen der Schweiz zwischen 2015 und 2016 die Anträge auf einen Waffenerwerbschein sehr deutlich zu: In Nidwalden + 31,5%, in Aargau + 40,4 % und in Genf sogar um + 49,2 %.

Offensichtlich wächst nicht nur in Deutschland die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden. Ob eine SRS-Waffe ihrem Besitzer mehr Sicherheit bringt, ist jedoch fraglich.

 


 Carolin Matthie erweitert mit einer Pistole ihre Möglichkeiten zur Verteidigung.
Foto:© Andreas Glock)

Mit Pistole sicherer

Carolin Matthie ist 25 Jahre alt. Sie studiert an der Berliner Humboldt-Universität in Adlershof Physik und Informatik. Nebenbei arbeitet sie im Online-Shop einer Firma, ist als Model tätig und schreibt in ihrer Freizeit unter dem Pseudonym Letizia Morante Science-Fiction Romane. Die Aufmerksamkeit der Medien erhielt die gebürtige Thüringerin, weil sie nicht verheimlicht, dass sie sich mit einer Schreckschusspistole im Hosenbund auf den Straßen der Hauptstadt sicherer fühlt.

Dr. Scholzen: Was waren Ihre ganz persönlichen Gründe eine Schreckschusswaffe zu kaufen?

Carolin Matthie: Das hat sich in Monaten und Jahren langsam entwickelt. Ich habe in meinem Freundes- und Bekanntenkreis mitbekommen, dass einige von denen auf dem Heimweg verfolgt wurden und in unschöne Situationen gerieten. Da habe ich überlegt, was mach ich, wenn mir so etwas passiert. Dann habe ich angefangen, mich umzusehen. Ich habe geschaut, welche Möglichkeiten gibt es, was ist erlaubt, was hat welchen Effekt. Ich habe die Vor- und Nachteile abgewogen und bin dann zu dem Ergebnis gekommen …

 … sich eine Schreckschusspistole, eine Walther P 99 im Kaliber 9 mm P.A.K., zu kaufen.

Diese Pistole hat für mich einige Vorteile. Da die daraus verschossenen Patronen einen sehr lauten Knall erzeugen, erhält man einerseits die Aufmerksamkeit von Passanten, andererseits kann man damit effektiv einen Angreifer abwehren.

Haben Sie auch Erfahrungen mit scharfen Schusswaffen gesammelt?

Ich habe in den letzten Jahren immer wieder einmal bei unterschiedlichen Gelegenheiten mit scharfen Waffen geschossen. Das war nie etwas, was mich abgeschreckt hätte. Berührungsängste hatte ich nicht.

Eine Schusswaffe in die Hand zu nehmen, war für Sie also kein Neuland …

Ganz genau, überhaupt nicht.

Erhöht die Pistole Ihr persönliches Sicherheitsgefühl?

Das kommt drauf an. Das subjektive Sicherheitsgefühl wird gesteigert, weil man planen kann, wie man in welcher Situation reagieren würde. Wenn man auf das objektive Sicherheitsgefühl sieht, dann kommt es sehr auf die jeweilige Situation an. Man muss schauen, wo kann oder muss man die Waffe einsetzen, wo ist das nicht erforderlich. Jedoch wirkt sich das subjektive Sicherheitsgefühl stark auf das objektive aus, da man ja ganz anders auftritt.

Sie sagen, man tritt ganz anders auf, können Sie das näher erklären?

Wenn man sich sicher fühlt, dann wird man selbstbewusster, wirkt weniger wie ein potentielles Opfer. Man rutscht dann nicht in die Opferrolle. Das wirkt auf einen potentiellen Angreifer hemmend, hält ihn davon ab, den Entschluss zu fassen, einen Angriff zu starten. Denn ein Angreifer sucht ja eigentlich Opfer und keine Gegner.

Sind Sie mutiger, wenn Sie die Pistole bei sich tragen?

Das macht für mich keinen Unterschied. Ich bin nicht ängstlich, aber es ist mir lieber, wenn ich weiß, dass ich mich effektiv wehren kann, wenn ich muss. Es ist nicht so, dass ich Gegenden meide, wenn ich nichts dabei habe. Aber man fühlt sich sicherer, wenn man weiß: Man kann was tun.

Der Mut kommt also bei Ihnen nicht aus der Pistole, sondern aus Ihrem recht hohen Selbstwertgefühl?

Ganz genau. Ich mache ja auch seit vielen Jahren Kampfsport.

Aber der Kampfsport hat Ihnen dann nicht genügt, Sie wollten dann noch zusätzlich eine Schusswaffe dabei haben?

Da geht es nicht um genügen, sondern ich wollte meine Möglichkeiten zur Verteidigung erweitern. Im Kampfsport ist es so, dass dort auch Nahkampftechniken geübt werden. Das möchte ich in einer Situation auf der Straße aber vermeiden; denn ich weiß ja nicht, wie groß und schwer ist der Angreifer, ist er im Kampf geübt oder hat er ein Messer dabei. Mein Ziel ist es, schnell aus der Situation herauszukommen, ohne in eine Nahkampfsituation zu geraten, die man immer meiden sollte.

Würden Sie, wenn es Ihnen in Deutschland gestattet wäre, auch eine scharfe Waffe zu Ihrem Schutz führen?

Grundsätzlich ja, es hängt aber von der Situation ab, wohin ich gehe. Damit ist immer auch ein hohes Maß an Verantwortung verbunden. Man hat, wenn man eine scharfe Waffe mit sich führt, ja nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten.

Rechte und Pflichten, was verstehen Sie darunter?

Rechte und Pflichten im übertragenen Sinne. Man hat die Möglichkeit, sich zu wehren. Man kann etwas tun, man wäre dann also berechtigt, etwas Effektives mit sich zu führen. Mit diesem Recht sind dann aber auch Pflichten und Verantwortung verbunden: Man muss sich an die rechtlichen Rahmenbedingungen halten und man muss mit der Waffe umgehen können.

Würde Ihrer Meinung nach eine Erhöhung der Zahl der Polizistinnen und Polizisten zu mehr Sicherheit für die Bürger führen?

Das kommt ganz darauf an, in welchem Bereich erhöht würde. Das könnte etwas bringen an belebten Orten, an Brennpunkten. Es ist aber nicht machbar, dass die Aus den USA ist bekannt, dass in den letzten Jahren die Zahl der Frauen, die eine scharfe Waffe besitzen und mit sich führen, sprunghaft gestiegen ist. Das deutsche Waffenrecht ermöglicht dies fast niemandem.
Foto:© Dr. Reinhard Scholzen
Polizei überall sein kann. Man ist ja auch an Orten unterwegs, wo keine Polizei ist, zum Beispiel in Wohngebieten. Es ist ja nicht so, dass jeder seine eigene Privatpolizei dabei haben kann. Am Alexanderplatz – dort wurde vor kurzem eine neue Wache errichtet –, da kann die erhöhte Polizeipräsenz etwas bringen. So wurde das ja auch kommuniziert, aber es stehen die aktuellen Zahlen zur Polizeilichen Kriminalstatistik noch aus. Aber zum Beispiel draußen in Schöneweide lässt sich die Sicherheitssituation durch eine erhöhte Polizeipräsenz nicht verbessern.

Frau Matthie: Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Sehr gerne!

 

Über den Autor
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen, M. A. wurde 1959 in Essen geboren. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Trier. Nach dem Magister Artium arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte 1992. Anschließend absolvierte der Autor eine Ausbildung zum Public Relations (PR) Berater. Als Abschlussarbeit verfasste er eine Konzeption für die Öffentlichkeitsarbeit der GSG 9. Danach veröffentlichte er Aufsätze und Bücher über die innere und äußere Sicherheit sowie über Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs: Unter anderem über die GSG 9, die Spezialeinsatzkommandos der Bundesländer und das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr.
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