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Der Erzengel Michael erschlägt den Drachen. Der Spruch sapere aude heißt: Wage es, weise zu sein. Meist wird er in der Interpretation Immanuel Kants zitiert, der ihn 1784 zum Leitspruch der Aufklärung erklärte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Foto: © Tatoo: Anton Ivkin, Photograph: Alexander Kuzovlev

Äußerlichkeiten

Wie viel Individualität ist Polizisten erlaubt?

Von Dr. Reinhard Scholzen

Dürfen auch Polizisten ihren Körper durch Tätowierungen und Piercings individuell gestalten? An dieser Frage scheiden sich seit Jahren die Geister.

Wer ein Spiel der Fußball Champions League betrachtet, sieht häufig bunte Haut. Viele Stars, die für Barcelona, Manchester, Bayern München oder Dortmund gegen den Ball treten, sind tätowiert – ihre Piercings müssen sie während des Spiels entfernen oder so abdecken, dass keine Verletzungsgefahr besteht.

Körpermodifikationen scheinen auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Männer und Frauen lassen sich gleichermaßen schmerzensreich mit Tätowiermaschinen Farbe unter die Haut sticheln. Glaubt man der Tattoo-Szene, so spiegelt sich in chinesischen Schriftzeichen, Comic-Figuren und bunten Mustern die Individualität des so Geschmückten wider. Aktuelle Forschungen bestätigen dies. Dirk Hofmeister fand in seiner Leipziger Dissertation heraus, dass „Tätowierungen vor allem wegen der Erhöhung der eigenen Attraktivität und wegen der Selbstoptimierung getragen werden“.1

Eine Untersuchung von Forschern der Ruhr-Universität Bochum2 ergab im Jahr 2014, dass von 2000 befragten deutschsprachigen Männern und Frauen neun Prozent tätowiert sind. Geht man ins Detail, so offenbart die repräsentative Studie, dass unter Haupt-, Real- und Handelsschülern das Tattoo ein klein wenig beliebter ist als unter Abiturienten. Keine signifikanten Unterschiede konnten die Forscher bei dem Parameter „Einkommen“ feststellen: Ob jemand reich oder arm ist, spielt für die Entscheidung pro oder contra Tattoo keine Rolle. Besonders großen Zuspruchs erfreuen sich Körperbemalungen und Piercings in der Gruppe der 25-34-Jährigen. Manchen wird überraschen, dass zehn Prozent der Frauen tätowiert sind, allerdings nur acht Prozent der Männer ihren Körper in dieser Form verändern. Jedoch bevorzugen mehr Männer als Frauen großflächige Tattoos. Bemerkenswert ist auch, dass rund zehn Prozent der Befragten „ihr Tattoo bereuen und derzeit über eine Entfernung nachdenken.“3

Auch in der Steinzeit beliebt

Die Geschichte der Tätowierungen reicht sehr weit zurück. An „Ötzi“, der vor rund 5000 Jahren im Grenzgebiet zwischen Italien und Österreich in den Alpen lebte, stellten Tätowierte Mumie der „Prinzessin von Ukok“, die 1993 in einem Kurgan bei Kosch-Agatsch gefunden wurde (5.–2. Jh. v. Chr.)
Foto: © Der ursprünglich hochladende Benutzer war Kobsev in der Wikipedia auf Russisch
Forscher 61 dauerhafte Veränderungen fest. Die Haut wurde am Rücken, auf der Brust und an den Unterschenkeln oberflächlich eingeritzt und in die Wunden Kohlepulver gerieben. Einiges spricht dafür, dass dies nicht zur Verschönerung des Körpers geschah, sondern damit Schmerzen gelindert werden sollten, wie sie zum Beispiel bei einer Arthrose entstehen. Als Hochburgen des Tätowierens galten bereits in der Antike Ägypten, die Inseln der Südsee, Japan, Nord- und Südamerika und auch bei den keltischen Kriegern waren solche Verzierungen sehr beliebt.

Danach existierten Tattoos in Europa über lange Zeit nur als Randerscheinung. Allenfalls Seeleute ließen sich – gern in den fernen Häfen Asiens – Tätowierungen stechen, ähnlich beliebt waren die Hautverzierungen bei Soldaten und in späterer Zeit auch bei Strafgefangenen.

In den 1970er Jahren erlebte in Großbritannien das Tätowieren und Piercen einen Boom. Insbesondere in der Punkerszene erfreuten sich die unterschiedlichen Hautmodifikationen großer Beliebtheit.

Zwar nimmt laut der oben erwähnten Bochumer Studie die Zahl der gepiercten und tätowierten Deutschen im Vergleich der letzten Jahre nicht zu, gleichwohl sah die Bundeswehr einen dringenden Handlungsbedarf.

Regeln für Soldaten

Bereits vor 50 Jahren sah die Bundeswehr die Notwendigkeit, das Erscheinungsbild der Soldaten im Erlass „Die Haar- und Barttracht der Soldaten“ im Detail zu regeln. Stechen eines Zungenpiercings mit einem Venenkatheter
Foto: © Tongue owner: Louparry Photographer: Johnleach Piercer: Luke at Physical Poetry, Leeds, UK /wikipedia
An dessen Stelle trat nach mehrjährigen kontroversen Diskussionen im Februar 2014 die Vorschrift A-2630/1 „das äußere Erscheinungsbild der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr“. Als Begründung für die Neufassung gab man unter anderem an: „Da unverändert große Teile der Bevölkerung aus dem Erscheinungsbild der Soldatinnen und Soldaten Rückschlüsse auf die militärische Disziplin und damit auf die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr ziehen, sind der Teilhabe an modischen Entwicklungen Grenzen gesetzt.“4 Grundsätzlich müsse jeder Körperschmuck „dezent“ sein, dürfe weder gegen das Straf- noch das Soldatenrecht verstoßen und nicht den „Werten und Normen des Grundgesetzes“ entgegenstehen.5 Mit großem Eifer regelt die Bundeswehr Haar- und Barttracht, die Länge der Fingernägel, die verwendete Kosmetik und den im Dienst getragenen Schmuck. Erlaubt sind demnach höchstens zwei Fingerringe und eine Soldatin darf zum Dienstanzug – nicht zum Kampfanzug – „einen dezenten Ohrstecker aus Edelmetall oder Perlmutt je Ohr“ tragen. Des Weiteren ist vorgegeben, dass Armbanduhren nicht als Schmuck gelten und das sichtbare Tragen von Armbändern oder Halsketten nicht gestattet ist. Bei Körpermodifikationen (Tätowierungen, Piercings, Implantate, Skarifizierungen, Brandings, Zahnveränderungen) bleibt die Bundeswehr im Ungewissen, indem sie die Kompetenz, solches im Einzelfall zu erlauben, auf die zuständigen Organisationsbereiche überträgt: Einer der nicht häufigen Fälle, in denen die Bundeswehr Kompetenzen von oben nach unten gibt. Eine Sonderregelung betrifft „Tunnel“ im Ohrläppchen. Diese sind erlaubt, „wenn sie durch eine hautfarbene Abdeckung bis zu einem Durchmesser von 15 mm vollständig abgedeckt werden.“6 Sogar das Tragen von Sonnenbrillen ist geregelt. Auch sie sind in Farbe und Form dezent zu halten, die Gläser dürfen nicht verspiegelt sein und Kontaktlinsen sind nur in einer farblosen Variante zulässig. Neuerdings ist es Soldaten erlaubt, zum Dienstanzug einen Regenschirm zu tragen, der jedoch einfarbig schwarz sein muss. Wieder andere Regeln gelten, wenn Soldatinnen zu festlichen Anlässen den „Gesellschaftsanzug“ tragen. Dann kann von den Vorgaben bei Haartracht, Kosmetik, den Fingernägeln und dem Schmuck „dem Anlass angemessen abgewichen werden“.7

Polizeilicher Körperschmuck vor Gericht

Gerichte mussten bereits über diverse Körpermodifikationen bei Polizisten entscheiden. Im Jahr 2002 urteilten die Richter am Verwaltungsgericht in Frankfurt am Main über großflächige Tätowierungen an den Unterarmen eines Bewerbers für den gehobenen Dienst bei der hessischen Polizei. Sie entschieden, die Körperverzierungen könnten für sich allein genommen kein Ausschlussgrund aus dem Polizeidienst sein. In ihrer Urteilsbegründung stellten sie unter anderem heraus, der öffentliche Dienst sei „stets auch ein gewisses Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft und ihrer dortigen Verhältnisse“. Zudem folgten sie der Argumentation des Bewerbers, der darauf hingewiesen hatte, Tätowierungen seien „auch bei bereits im Dienst befindlichen Polizeibeamten anzutreffen.“8

Dieses Urteil floss in eine Entscheidung des BMI vom Mai 2006 ein.9 Demgemäß sind Tätowierungen und ähnliche Hautverfärbungen grundsätzlich zulässig; sie dürfen jedoch im Dienst – der Dienstsport wird ausdrücklich ausgenommen – nicht sichtbar sein.

2012 urteilte das Verwaltungsgericht Aachen in einem ähnlich gelagerten Fall. Die Richter stellten fest, ein an beiden Armen tätowierter Bewerber für den Polizeidienst dürfe deshalb nicht vom Auswahlverfahren ausgeschlossen werden. Das nordrhein-westfälische Landesamt für die Polizeiausbildung hatte das anders gesehen und auf einen Erlass aus dem Jahr 1995 verwiesen, wonach deutlich sichtbare Tätowierungen einen Eignungsmangel darstellten. Die Aachener Richter führten aus, ein damals 17 Jahre alter Erlass reiche „angesichts des gesellschaftlichen Wandels“ nicht, um daraus ohne nähere Begründung eine mangelnde Eignung eines Bewerbers abzuleiten.10

Zwei Jahre später urteilte das Verwaltungsgericht Darmstadt über die Klage einer jungen Frau, die sich für die Ausbildung im gehobenen Dienst bei der Bundespolizei beworben hatte. Die Bundespolizeiakademie hatte sie zum Eignungsauswahlverfahren nicht zugelassen, da sie am rechten Unterarm großflächig tätowiert war. Der Dienstherr hatte auch in diesem Fall darauf verwiesen, die Uniform drücke die „Legitimation und Neutralität des Polizeibeamten“ aus. Dies könne durch eine Tätowierung beeinträchtigt werden.11 Die Bewerberin hatte – wie ihre Kollegen in Hessen und NRW – ins Feld geführt, die Bewertung einer Tätowierung habe sich „sowohl in der Bevölkerung als auch im Polizeidienst“ entscheidend geändert. Diese Verzierungen gelten als „Körperschmuck“, führte sie aus. Dieser Argumentration folgten die Darmstädter Richter jedoch nicht und wiesen die Klage ab. Sie stellten heraus, Bundespolizisten seien durch ihre Aufgaben häufig die „ersten Vertreter des deutschen Staates, die einreisende Ausländer wahrnehmen würden.“12 Daher sei das Bemühen des Dienstherrn, die Neutralitätsfunktion der Polizeiuniform sicherzustellen, nachvollziehbar. Dennoch urteilten sie, „dezente Tätowierungen von geringer Größe und ohne besondere Symbolik“ könnten heutzutage nicht mehr als Eignungsmangel angesehen werden: „Ein generelles Verbot jeglicher sichtbaren Tätowierung bei einem Bewerber für den Dienst bei der Bundespolizei lasse sich daher nicht mehr rechtfertigen.“

Tätowierung ist Ländersache

Die Polizeien der Länder und des Bundes beantworten die Frage13, wie viel Körperschmuck ein Polizist tragen darf, unterschiedlich. Brandenburg schreibt vor, dass das persönliche Erscheinungsbild nicht durch künstliche – medizinisch nicht indizierte – Hautveränderungen, eine außergewöhnliche Haartracht und Färbungen beeinträchtigt werden darf.14 Ähnlich sehen es die Dienstherren in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und bei der Bundespolizei.15 Einen Schritt weiter geht Bayern. Dort wird noch ergänzt, dass „inhaltlich problematische Tattoos“, auch dann, wenn sie im Dienst nicht sichtbar sind, im Einzelfall zu bewerten sind. Man könnte darüber nachdenken, auf welchem vielleicht problematischen Weg der Dienstherr von solch Verborgenem erfährt.

Etwas anders positioniert sich das Saarland. Dort sind Piercings nicht grundsätzlich verboten, müssen aber während des Dienstes abgelegt werden. Tätowierungen dürfen im Dienst nicht sichtbar sein, jedoch ist von dieser Regel der Dienstsport ausgenommen. Niedersachsen erlaubt Tätowierungen seit einem Erlass aus dem Jahr 2013 zwar nicht grundsätzlich, lässt aber „besonders dezent wirkende Tätowierungen“ zu. Ähnlich regeln auch Thüringen und Bremen den Körperschmuck. Schleswig-Holstein nimmt Beamte, die in der Aufklärung oder Zivilfahndung tätig sind, vom Verbot aus. Besteht eine dienstliche Notwendigkeit und liegt die Genehmigung des Dienstvorgesetzten vor, so kann dort zum Beispiel zur Legendenbildung ein Piercing oder Tattoo genehmigt werden. Das Bundeskriminalamt stellt dar: „Es bestehen keine Regelungen zum äußeren Erscheinungsbild. Über Tätowierungen und Piercings wird in einer Einzelfallprüfung entschieden.“ In Baden-Württemberg wird zurzeit geprüft, ob aufgrund der ergangenen Urteile von Verwaltungsgerichten und der „aktuellen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung“ eine „gewisse Liberalisierung von Tätowierungen im sichtbaren Bereich“ zu erfolgen hat.

In vielen Polizeien ist beim Thema Körpermodifikationen eine Annäherung an einen vermeintlichen Zeitgeist feststellbar. Die Fakten sprechen jedoch eine andere Sprache: Neun von zehn Deutschen verändern ihren Körper nicht durch Tätowierungen oder Piercings. Wer als Polizist Individualität demonstrieren möchte, hat dazu viele andere Möglichkeiten.

 

Quellen:

[1]  Universität Leipzig (Hrsg.): Pressemitteilung 183/2016 vom 1. 7. 2016.

[2]  Hans J. Trampisch, Katja Brandau: Tattoos und Piercings in Deutschland. Eine Querschnittsstudie. Bochum 2014.

[3]  www.ruhr-uni-bochum.de/fv-medizin/mam/content/informed_jul2014.pdf

[4]  Bundesministerium der Verteidigung: A-2630/1, RdNr.: 102.

[5]  A. a. O., RdNr. 103.

[6]  A. a. O., RdNr. 603.

[7]  A. a. O., RdNr. 801.

[8]  Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 14. 2. 2002 – 9 G 411/02(V).

[9]  Vgl.: B II 1- 652 100/120 – Ziff. 3.

[10]  Verwaltungsgericht Aachen, Beschluss vom 31. Juli 2012 – 1 L 277/12.

[11]  Verwaltungsgericht Darmstadt, Beschluss vom 27. Mai 2014 – 1 L 528/14 DA.

[12]  A. a. O.

[13]  Die folgenden Darstellungen der Polizeien der Länder und des Bundes und die Zitate stammen aus Briefen an den Autor, der den Innenministern im Sommer 2016 einen Fragebogen zusandte, in dem nach den jeweiligen Einstellungsbedingungen für den Polizeidienst gefragt wurde.

[14]  Es sei hier lediglich erwähnt, dass das OVG Berlin-Brandenburg in einem Urteil vom Januar 2009 eine sehr liberale Position eingenommen hat. Einem Bundespolizisten in der Probezeit hatte es aufgrund eines am Rücken angebrachten Tattoos, das einen Soldaten der Wehrmacht in der Seitenansicht zeigt, nicht unterstellt, dass er sich damit zum Nationalsozialismus bekenne, ein solches äußeres Zeichen sei noch nicht einmal als Bekenntnis zu rechtsradikalem Gedankengut zu bewerten. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Januar 2009 – 6 S 38.08.

[15]  Im November 2015 berichtete Der Spiegel von einem internen Papier der Bundespolizeiakademie. Darin werde berichtet, es solle bei der Vorschrift, Polizeianwärter dürften keine sichtbaren Tätowierungen und Piercings tragen, eine „gewisse Aufweichung“ geben. Gleichzeitig erwähnte Der Spiegel, in den nächsten Jahren wolle die Bundespolizei 3000 neue Stellen besetzen. Vgl.: Der Spiegel 48/2015 vom 19. 11. 2015.

Über den Autor
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen, M. A. wurde 1959 in Essen geboren. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Trier. Nach dem Magister Artium arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte 1992. Anschließend absolvierte der Autor eine Ausbildung zum Public Relations (PR) Berater. Als Abschlussarbeit verfasste er eine Konzeption für die Öffentlichkeitsarbeit der GSG 9. Danach veröffentlichte er Aufsätze und Bücher über die innere und äußere Sicherheit sowie über Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs: Unter anderem über die GSG 9, die Spezialeinsatzkommandos der Bundesländer und das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr.
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