Unfallaufnahme der Polizei und Absicherung einer Unfallstelle durch die Feuerwehr Foto: © kaestn Disk Cat, wikimedia

Filmen statt Weiterfahren

Die Schaulust und ihre Folgen

Von Stefan Pfeiffer

Anfang März 2015 sorgten verschiedene Presseberichte für ein Aufhorchen in der Öffentlichkeit. Nach einem schweren Verkehrsunfall auf der Bundesautobahn A 57 bei Longerich kam es auch auf der Gegenfahrbahn zu Stauungen, weil dort zahlreiche „Schaulustige“ ihre Geschwindigkeit verringerten, um so die Rettungsarbeiten im Vorbeifahren filmen zu können. Daraufhin stellte sich ein Polizeibeamter an die Mittelschutzplanke und dokumentierte mittels Kamera dieses Fehlverhalten einzelfallbezogen. In kurzer Zeit konnten 30 Verstöße registriert werden, die im Nachgang zur Anzeige gebracht wurden. „Ein Großteil der Verstöße entstand durch Benutzung eines Mobiltelefons während der Fahrt“, so ein Polizeisprecher.

Für die Polizeibeamtinnen und -beamte, die im Unfallaufnahmedienst, insbesondere auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen tätig sind, ist dies ein alltägliches Phänomen. Manchmal genügt schon ein mit blauem Blinklicht auf dem Seitenstreifen abgestelltes Einsatzfahrzeug, um Kraftfahrzeugführer zu einem nicht nachvollziehbaren und oftmals gefährlichen Fahrverhalten zu veranlassen. Bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass der Fahrer die Situation lediglich neugierig betrachtet oder gar versucht, mit seiner Handykamera zu filmen. Gerade bei sehr schadensträchtigen Verkehrsunfällen, die auf der betroffenen Richtungsfahrbahn per se schon zu massiven Verkehrsbeeinträchtigungen führen, kommt es dann regelmäßig auch auf der Gegenfahrbahn zu Behinderungen, Staus und Unfällen. Dabei werden von den Schaulustigen Gefahren für sich und andere nicht bedacht oder billigend in Kauf genommen. Das Risiko einer Ahndung dieses Fehlverhaltens ist für die Betroffenen gering, da die Rettungs- und Einsatzkräfte mit der Bearbeitung des Schadensereignisses beschäftigt sind und das Verfolgen der „Schaulustigen“ hinten angestellt werden muss. So erklärt sich auch, dass selbst auf der vom Schadensereignis betroffenen Richtungsfahrbahn immer wieder Fahrzeugführer unbehelligt die Situation mit ihrem Handy filmend an den eingesetzten Polizeibeamten vorbeifahren können.

Die Frage, warum Menschen so etwas tun, beantwortet Professor Dr. Hermann Strasser zunächst mit einem Blick in die Vergangenheit. Demnach gibt es in der Menschheitsgeschichte schon lange das Phänomen der Schaulust. „Gaffer“ gibt es seit der Tötung von Sklaven durch Menschen oder Tiere in römischen Stadien des Altertums, über das Aufhängen auf Marktplätzen im Mittelalter bis zum Einsatz der Guillotine an öffentlichen Orten in der Neuzeit. Heute fotografieren und filmen Menschen als nicht willkommene Zuschauer spektakulärer Ereignisse, wie eben Unfälle. „Es gibt in unserer Gesellschaft eine neue Währung, das ist die, wichtig genommen zu werden, wahrgenommen zu werden, Aufmerksamkeit zu erregen“, sagt der Soziologe. Das erreichen die Menschen einerseits durch Selfies, andererseits durch Fotos von Events, die sie in der Familie und Freunden zeigen oder ins Netz stellen. Strasser: „So ein Unfall wird für sie zu einem Event, bei dem sie dabei waren.“

Das Vorgehen der Beamten bei Longerich hat für andere mit diesem Phänomen konfrontierte Polizistinnen und Polizisten quasi als Weckruf gedient, ebenfalls tätig zu werden und dadurch das Thema verstärkt in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Auch wenn dies zusätzlichen personellen, technischen und zeitlichen Aufwand mit sich bringt. Dabei muss festgestellt werden, dass die derzeitige Rechtslage zum wirkungsvollen Einschreiten gegen schaulustige Verkehrsteilnehmer für die Polizei unzureichend und damit nicht praxisgerecht ist. Zur verkehrsrechtlichen Ahndung werden Auffangtatbestände wie § 23 Abs. 1 a StVO (Wer ein Fahrzeug führt, darf ein Mobil- oder Autotelefon nicht benutzen, wenn hierfür das Mobiltelefon oder der Hörer des Autotelefons aufgenommen oder gehalten werden muss. …) oder § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO (Wer vorausfährt, darf nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen. ...) herangezogen. Allerdings besteht beim Nachschicken einer Anzeige wegen Filmens mittels Handy, selbst mit Aufzeichnung des Verstoßes durch die Polizei, die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Verfahrenseinstellung kommt. Letztendlich kann der anzeigende Beamte nämlich vor Gericht keine Angaben zum Typ oder zur Mobilfunkeigenschaft des benutzen Gerätes machen. Das reine Abbremsen, um Schauen zu können, ist zwar auf den ersten Blick leichter zu beweisen, laut Bußgeldkatalog aber selbst bei einer damit einhergehenden Gefährdung nur mit 20 Euro zu ahnden. Die Hürden, welche für die Begründung eines Straftatbestandes beispielsweise des § 315 b StGB zu nehmen sind, liegen sehr hoch und sind nur im konkreten Einzelfall überwindbar.

Die Politik hat insoweit reagiert, dass es Bestrebungen gibt, konkrete Behinderungen von Rettungskräften und das Fotografieren oder Filmen von Unfallopfern, auch ohne nachfolgende Veröffentlichung, im Strafgesetzbuch unter Strafe zu stellen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Gesetzesinitiative noch in der aktuellen Legislaturperiode zur Umsetzung kommt.

Überdies fehlt aber nach wie vor eine spezielle und zielführende Sanktionsvorschrift in der StVO zur Ahnung des Verhaltens „Schaulustiger“ im Straßenverkehr, quasi als Vorstufe zu den oben erwähnten Straftatbeständen. Diese muss für die Polizei leicht anwendbar und gerichtsfest formuliert sein. Ein Bußgeld von 80 Euro erscheint dafür angemessen zu sein.

Nordrhein-Westfahlen, dort der Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen, setzt seit 2015 als erstes Bundesland im Kampf gegen „Schaulustige“ auf mobile Sichtschutzwände. Rund 470.000 Euro aus Bundesmitteln hat der Landesbetrieb in insgesamt zwölf Sichtschutzsysteme investiert. Landesverkehrsminister Michael Michael Groschek
Foto: © Raimond Spekking, wikimedia
Groschek präsentierte die mobilen Wände am 24. April 2015 bei der Autobahnmeisterei Kaarst. Jedes der zwölf Systeme besteht aus einem Anhänger mit 40 einzelnen Stahlrahmen, in denen jeweils eine grüne, blickdichte Folie verspannt ist. Vor Ort angekommen, können die Mitarbeiter der jeweiligen Autobahnmeisterei somit eine bis zu 100 Meter lange, undurchsichtige Wand errichten. Die zwölf Anhänger sind so auf die Autobahnmeistereien im Nordrhein-Westfalen verteilt, dass das rund 2.200 Kilometer umfassende Autobahnnetz grundsätzlich abgedeckt werden kann. "Die Sichtschutzzäune sind ein Element, um Staus und Unfälle zu vermeiden. Schaulustige oder Autofahrer, die sich reflexartig vom Geschehen auf der Gegenfahrbahn ablenken lassen, bekommen nichts mehr zu sehen. Gleichzeitig werden die Persönlichkeitsrechte von Unfallopfern und Rettungskräften geschützt. Es ist gut, dass Straßen.NRW dieses System zusammen mit der Polizei getestet und ausgewertet hat, und dass die Sichtschutzelemente jetzt für alle Autobahnabschnitte verfügbar sind", sagte dazu der nordrhein-westfälische Verkehrsminister.

Das System ist zweifellos ein guter Ansatz, um das Problem “Schaulustige“ angehen zu können. Die Autobahnmeistereien müssen dies personell leisten können. Dazu kommen die oft schwierigen Umstände hinsichtlich der „Erreichbarkeit der Unfallstellen“. Zwischenzeitlich gibt es in weiteren Bundesländern Überlegungen, solche Sichtschutzwände anzuschaffen. Dabei soll dieses Problemfeld intensiv berücksichtigt werden. Alternativ könnte man das Material beispielsweise an den Standorten, der auf den Autobahnen tätigen Ortsverbänden des Technischen Hilfswerkes stationieren.

Derzeit erscheint als die wirkungsvollste Möglichkeit, gegen Schaulustige vorzugehen, das direkte Anhalten der mit dem Handy Filmenden auf der vom eigentlichen Ereignis betroffenen Richtungsfahrbahn. Anfang Mai 2015 führte dieses Vorgehen bei einem schweren Lkw-Unfall am Autobahnkreuz Nürnberg innerhalb kürzester Zeit zu mehreren Anzeigen, die zum Teil gegen ausländische Kraftfahrzeugführer gleich mit Sicherheitsleistungen geahndet wurden. Die Betroffenen waren, während der polizeiliche Einsatzleiter von einem Kamerateam zum Unfallhergang interviewt wurde, mit dem Handy filmend an der Unfallstelle vorbeigefahren und dann angehalten worden.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Reaktion der für den Erlass der entsprechenden Bußgeldbescheide verantwortlichen Verfolgungsbehörde. Von dieser wurde ausdrücklich auf die im Einzelfall mögliche Erhöhung bzw. Verdoppelung des Bußgeldes bei Vorliegen eines atypischen Falles hingewiesen. Dieser könnte beispielsweise beim verzögerten Vorbeifahren an der Unfallstelle und einer damit verbundenen Gefahrenerhöhung für den nachfolgenden Verkehr oder einem längerem Abwenden des Blickes des Fahrzeugführers vom Verkehrsgeschehen hin zur Unfallstelle vorliegen. Für die Begründung eines atypischen Falles ist in jedem Einzelfall der polizeiliche Sachbearbeiter verantwortlich. Ob eine solche Ahndung vor Gericht Bestand hat, ist allerdings aufgrund bisher fehlender Entscheidungen offen.

 

Über den Autor
Stefan Pfeiffer
Stefan Pfeiffer
Polizeidirektor Stefan Pfeiffer, Einstellungsjahr 1985 im mittleren Dienst, ist seit 2008 Leiter der Verkehrspolizeiinspektion Feucht und Mitglied der Fachkommission Verkehr der Deutschen Polizeigewerkschaft.
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