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Silvesternacht 2015: Ausschreitungen auf dem Platz zwischen Kölner Dom und Bahnhof.
Foto: dpa

Zweimal Silvester

Von Hendrik Geisler

Die Kölner Silvesternacht 2015 ist zum Sinnbild für das Versagen der Staatsmacht geworden. Als die Polizei gebraucht wurde, war sie nicht da. Silvester 2016 bot sich ein anderes Bild: Durch frühzeitiges Einschreiten schon bei der Ahnung von Gefahr stellte die Behörde das Vertrauen der Bürger zu ihr wieder her. Die Voraussetzungen, unter denen die anwesenden Polizeibeamten arbeiten mussten, hätten unterschiedlicher kaum sein können.

Schon Silvester 2014 hatte sich der Kölner Bahnhofsvorplatz als Einsatzschwerpunkt der Polizei erwiesen, viele Raubüberfälle und Taschendiebstähle waren auf dem Platz begangen worden. In einem Erfahrungsbericht der Polizei hieß es deswegen im Dezember 2015, die Unterstützung durch Bereitschaftspolizisten sei an Silvester „zwingend erforderlich“. Die Kölner Behörde forderte daher beim Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) in Duisburg eine Hundertschaft für den Silvestereinsatz an, bestehend aus drei Zügen á 38 Beamten. Das LZPD unter Leitung des heutigen Kölner Polizeipräsidenten Jürgen Mathies verweigerte die Wünsche – statt drei wurden Köln nur zwei Züge zugeteilt, 76 statt 114 Beamte. Die Kölner Polizei ärgerte sich zwar über die Entscheidung, erhob jedoch keinen formalen Protest.

In der Kölner Innenstadt befanden sich an Silvester dann rund 150 Beamte der Landespolizei, Bahnhöfe und Gleise wurden von etwa 70 Bundespolizisten gesichert. Das Ordnungsamt schickte 24 Mitarbeiter und 72 externe Sicherheitskräfte in den Einsatz.
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Eine der ersten Fehlentscheidungen des Abends traf der Einsatzleiter der Landespolizei, als er am Einsatzort gegen 20.40 Uhr eintraf. Vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht sagte er im März 2016, er habe beim Anblick 400 junger Migranten, die sich mit Raketen abschossen und mit viel Alkohol feierten, gedacht: „Wenn das mal nicht in die Hose geht.“ Der leitende Beamte bestellte trotzdem keine Verstärkung. Die hätte trotz der Absage durch das LZPD durchaus zur Verfügung gestanden. In Ossendorf, etwa eine Viertelstunde vom Kölner Hauptbahnhof entfernt, war gerade eine Demonstration zu Ende gegangen. Die Beamten, die dort im Einsatz waren, wurden aber statt zu den Tumulten auf dem Bahnhofsvorplatz nach Hause geschickt. In Rufbereitschaft standen auch drei weitere Züge der Bereitschaftspolizei. Wegen eines möglichen Terroranschlags waren insgesamt 114 Beamte in drei Städten einsatzbereit. In seiner Rolle als Leiter des LZPD sagte Jürgen Mathies vor dem Untersuchungsausschuss später: „Hätte man die Bereitschaftskräfte gleich nach den ersten Feststellungen angefordert, wären sie nach spätestens zwei Stunden in Köln gewesen.“

Doch der Einsatzleiter tat dies nicht, verließ sich auf die vorhandenen Kräfte. Dass die überfordert und kaum präsent waren, belegt das Meldeprotokoll der Polizei aus der Nacht: Gegen 21.20 Uhr berichtet die Besatzung eines Rettungswagens von einer aggressiven Stimmung vor dem Hauptbahnhof, Passanten würden mit Böllern beworfen. Etwas später heißt es, Raketen würden in die Menge geschossen, Polizei sei nicht zu sehen. Gegen 22.15 Uhr wird vermerkt: „Immer wieder Meldungen, dass Raketen in die Menschenmenge geschossen werden.“ Eine Streifenwagenbesatzung bilanziert: „Weit über 1000 Personen“, und schließt darauf: „Keine Maßnahmen mit unserer Kräftesituation möglich.“ Spätestens jetzt hätte die aufgeheizte Stimmung bekannt gewesen sein sollen.

Dringend notwendige Verstärkung wurde sogar abgelehnt. Ein eingehendes Angebot des LZPD, 114 Polizisten zur Unterstützung nach Köln zu schicken, lehnte die Kölner Leitstelle ab. Dass die Verstärkung dringend nötig war, drang nicht zu ihr durch. Erst kurz vor 23 Uhr eilten Bereitschaftspolizisten zum Bahnhofsvorplatz, wo inzwischen rund 1500 Männer in aggressiver Stimmung feierten. Etliche Straftaten waren zu diesem Zeitpunkt schon begangen worden.

Videoaufnahmen des Beweissicherungstrupps der Kölner Polizei zeigen die Machtlosigkeit der eingesetzten Polizisten. Böller explodieren, auch direkt vor ihren Füßen, immer wieder erleuchten Raketen den Bahnhofsvorplatz. An die Anweisungen der Beamten halten sich viele der Feiernden kaum. „Ich stehe hier ganz alleine“, hört man einen Polizisten verzweifelt dem Kameramann zurufen.45 Anzeige STOOF 60x40

Auch durch die Räumung des Bahnhofsvorplatzes und der Domplatte entsteht zwischenzeitlich Gedränge. Als sie wegen der Ereignisse Strafanzeige stellte, gab eine Frau zu Protokoll: „Die Polizei versperrte die Domplatte und drängte uns alle nach außen an den Rand, hierbei wurden wir wieder mehrfach unsittlich berührt, ebenfalls im Intimbereich. […] Wir baten einen Polizisten, uns zu helfen, der meine Schwester anschrie, sie solle sofort zurück an den Rand gehen, und schubste sie dorthin. Erneut wurde ich hinter mir von mehreren Händen angefasst und im Gesäß und den Gesäßtaschen meiner Hose befanden sich mehrere Hände.“ Die Schilderungen anderer Frauen ähnelten dieser Begebenheit. Sie wurden von etlichen Männern begrapscht und belästigt. Hände wanderten unter ihre Kleider, Finger versuchten, zwischen ihre Beine zu kommen. Unter den Opfern befindet sich nachweislich auch ein 15 Jahre altes Mädchen.

Die Taten spielten sich in der dicht gedrängten Menschenmenge ab, waren für die Polizisten vermutlich auch aufgrund der Dunkelhaut kaum auszumachen. Der Einsatzleiter der Landespolizei gab im Untersuchungsausschuss später zu Protokoll: „Das alles passierte wenige Meter neben uns, und wir haben das nicht mitbekommen“. Am frühen Neujahrsmorgen beobachtete er dann einen sexuellen Übergriff, nahm den Täter sogar fest. Schon kurz nach Mitternacht war er Zeuge geworden, wie in einer Wache in der Innenstadt zahlreiche weinende Frauen saßen, um Strafanzeige zu stellen. Wie später bekannt wurde, war auch eine Zivilbeamtin der Polizei unter den Opfern der Nacht. Katastrophale Kommunikation unter den Polizisten begünstigte das Einsatzchaos. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ zitiert ein vernichtendes Urteil aus dem Entwurf des Untersuchungsausschuss-Berichts: „Es war gerade so, als ob die Leitstelle nicht im Dienst war.“ Auch andere eingesetzte Beamte würden in dem Bericht scharf kritisiert, schreibt die Zeitung. Viele von ihnen hätten demnach Opfer der Übergriffe nicht ernst genommen, ihnen lediglich gesagt, der Menge fernzubleiben. Der wohl schwerwiegendste Satz des Berichts: „Die Übergriffe hätten, zumindest weitgehend, verhindert werden können.“ Doch die dafür nötigen Kräfte hätten gefehlt, heißt es.

Auch im Hauptbahnhof kam es zu Sexual- und Eigentumsdelikten. Die hier zuständige Bundespolizei war jedoch mit etlichen Kräften an den Gleisen auf der Hohenzollernbrücke im Einsatz. Da immer wieder Menschen aus der dichten Menschenmenge auf der Brücke auf die Gleise liefen, wurde der Schienenverkehr gestoppt. Reisende konnten nicht mehr weiter, auch dadurch wurde es immer enger im Bahnhof.
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Einer der letzten Fehler der langen, verhängnisvollen Nacht: Die am Abend eingesetzten Polizeibeamten informierten die Pressestelle der Polizei nicht über das Gesamtbild oder immerhin Fragmente des Geschehens. Mit bestem Wissen verschickte eine Polizeisprecherin am Neujahrsmorgen die inzwischen berühmte Pressemitteilung: „Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich“. Das Gegenteil hätte zu ihr durchdringen können, wie die Aussage des Kriminalpsychologen Rudolf Egg vor dem Untersuchungsausschuss belegt. Mindestens acht Opfer sexueller Übergriffe hätten nachweislich ihre Fälle noch in der Nacht der Polizei geschildert, sagte er.

Die bislang letzte Bilanz der Kölner Staatsanwaltschaft zum Ermittlungskomplex Silvester ist erschreckend: 1222 Strafanzeigen, von denen sich 513 auf sexuelle Pressekonferenz in Köln am 5. Januar 2016: Oberbürgermeisterin Henriette Reker (links), Polizeipräsident Wolfgang Albers (Mitte)
Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
Übergriffe beziehen. 28 versuchte oder vollendete Vergewaltigungen wurden angezeigt.

Der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers wurde am 8. Januar 2016 von NRW-Innenminister Ralf Jäger aus dem Dienst entlassen. Auf ihn folgte Jürgen Mathies, ein Mann mit Erfahrung im Meistern schwieriger Lagen. Er erarbeitete unter anderem die polizeiliche Rahmenkonzeption für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Mathies kündigte stärkere Präsenz und mehr Videoüberwachung an. Unter ihm solle die Behörde konsequent handeln und früh einschreiten.

An Silvester 2016 war die Polizei mehr als vorbereitet

Im Herbst stand das Konzept von Landespolizei, Bundespolizei und Stadt für Silvester 2016. Ein massiver Personaleinsatz und Kameraüberwachung waren die gravierendsten Neuerungen. Rund um den Dom sollte es eine böllerfreie Schutzzone geben. Eine Lichtshow und Auftritte von Chören auf dem Roncalliplatz am Dom sollten Besucher anlocken. Die Landespolizei plante mit etwa 1500 Beamten, 300 von ihnen sollten in Teams á drei Beamte unterwegs und für die Feiernden ansprechbar sein.

Die Kölner Polizei machte mit großem Aufwand schon im Vorfeld klar, dass sie bestens vorbereitet war. Mit einer Medienoffensive versuchte sie das Bild zu korrigieren, Neue Panomera-Spezialkameras von Dallmeier überwachten (hier am Kölner Hauptbahnhof) mit bisher nicht gekannter technischer Perfektion das Demonstrationsgeschehen.
Foto: © Dallmeier
das Deutschland von ihr seit Silvester 2015 hatte. Rund um Dom und Hauptbahnhof wurden medienwirksam 25 hochauflösende Spezialkameras installiert. Dass Täter ungeschoren davonkommen würden, weil sie wegen veralteter Technik bloß verschwommene Pixel auf grauem Hintergrund sind, sollte nicht mehr vorkommen.

300 Bundespolizisten übernahmen die Arbeit im Bahnhof. 600 Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamts und privater Sicherheitsdienste kamen hinzu. Dieses Jahr konnte einfach nichts passieren, war die durchgängige Meinung in der Stadt.

Doch es sammelten sich wieder Menschenmassen, die an Silvester 2016 erinnerten. Bundes- und Landespolizei kontrollierten im Laufe des Abends Tausende Männer, die in das Täterprofil des Vorjahres passten. Die meisten von ihnen waren in Zügen nach Köln gereist, die Bundespolizei sprach später davon, viele von ihnen wären bereits alkoholisiert oder „mit einer gewissen Grundaggressivität“ in Köln angekommen. Den Vorwurf des Racial Profiling wiesen Landes- und Bundespolizei später entschieden zurück, die Kontrollen der nordafrikanisch und arabisch aussehenden Männer hätten ausschließlich aufgrund deren Verhalten stattgefunden.

Silvester 2016: Der Einsatz der Bundespolizei am Kölner Bahnhof glich mehr einem Stehkonvent.
Foto: © Bundespolizei
Für die Beamten zeichnete sich ab, dass die Männer wohl kein Interesse daran hatten, an der offiziellen Silvesterfeier teilzunehmen. In einem Bericht der Bundespolizei heißt es: „Zahlreiche Männer hatten vielmehr die Absicht, sich zunehmend Alkohol konsumierend über einen längeren Zeitraum im Kölner Hauptbahnhof aufzuhalten.“ Die Bundespolizei sorgte sich, dass die Situation für sie dadurch unübersichtlich werden würde. Sie entschloss sich, rund 900 Personen einen Platzverweis zu erteilen. „Die Platzverweise waren unumgänglich, um eine ähnliche ‚gefahrengeneigte Situation wie Silvester 2015‘ zu verhindern“, schreibt die Bundespolizei. Die Personen, die sich nach erteiltem Platzverweis dafür entschieden, den Hauptbahnhof Richtung Innenstadt zu verlassen, kamen in die Kontrollzonen der Landespolizei. Die Bilder gingen durch die Medien: Die jungen Männer stehen vor dem Ausgang zum Bahnhofsvorplatz, umringt von Polizisten, und warten darauf, kontrolliert zu werden. In ihrer Lageabschlussmeldung schreibt die Kölner Polizei: „Alle Personen, die dem nordafrikanischen Spektrum zugeordnet werden konnten, wurden außerhalb des Hauptbahnhofs im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten einer Identitätsfeststellung unterzogen.“ Bemerkenswert ist, dass sogar noch Verstärkung nach Köln beordert wurde: Wegen der unerwartet intensiven Einsatzlage forderte die Kölner Polizei zwei zusätzliche Hundertschaften an.

Im Großen und Ganzen blieb es aber ruhig, Straftaten wurden kaum begangen. Für die Zeit zwischen 18 Uhr am Silvesterabend bis 8 Uhr am Neujahrsmorgen wurden für den Bereich rund um Dom und Hauptbahnhof nach unsittlichen Berührungen zwei Sexualdelikte angezeigt. Auch die Zahl der Eigentums- und Gewaltdelikte war außerordentlich niedrig. Am 2. Januar sagte Polizeipräsident Mathies zur Presse: „Wir sind angetreten, den Menschen ein sicheres und friedliches Feiern zu ermöglichen. Die Zahlen sprechen dafür, dass uns das gelungen ist.“ Inzwischen hat er bereits einen Ausblick auf Silvester 2017 geworfen: „Es wird wieder einen Großeinsatz geben.“

Über den Autor
Hendrik Geisler
Hendrik Geisler
Hendrik Geisler, Jahrgang 1988, hat Anglistik, Amerikanistik und Geographie studiert. Er ist Redakteur der Kölner Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Als Polizeireporter schreibt Hendrik Geisler auch über die Sicherheitsbehörden. An Silvester 2016 war er für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ als Reporter am Kölner Hauptbahnhof im Einsatz und wurde Zeuge der Polizeikontrollen.
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