„Predictive Policing“ steckt noch in
den Kinderschuhen

Wenn „Kommissar Computer“ Ort und Zeit des nächsten Einbruchs voraussagt

Von Horst Zimmermann

Es gibt kaum noch ein Medium, das in letzter Zeit nicht über „predictive policing“ (vorausschauende Polizeiarbeit) berichtet hat. Dabei suggeriert die Tonlage mitunter, dass der große Heilsbringer gegen die Kriminalität vor der Tür steht. Es wäre wirklich traumhaft: Man gibt die Daten aus der Kriminalstatistik zusammen mit zahlreichen Sondererhebungen und Studien in den Computer, der dann voraussagt, wann und wo die nächste Straftat verübt wird. Die Polizei muss nur noch entsprechend Posten fassen und den Täter einsammeln.

In der ganzen Berichterstattung über die Probeläufe mit “predictive policing“ in Köln, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg wird nirgends mit einem Wort erwähnt, wer der Erfinder der vorausschauenden Polizeiarbeit war.

Horst Herold, heute 93, von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), war der Mann, der vor über 40 Jahren das Computer-Zeitalter bei der Polizei Dr. Horst Herold einläutete. Herold war wohl der größte Visionär und der nachdenklichste Philosoph, der je an der Spitze der deutschen Polizei stand.

Es war die Zeit, da die erfasste Kriminalität auf stolze 2,9 Millionen Delikte (1975) anstieg. Mittlerweile hat sich die Kriminalität auf 6,3 Millionen Straftaten (2015) mehr als verdoppelt. Herold thronte damals an einem monströsen Schreibtisch im Wiesbadener BKA und hielt – privatissime et gratis – seine Vorlesungen.

Die Polizei der Zukunft werde alle verfügbaren Daten in Rechner einspeisen, der dann bis auf die Straße genau den nächsten Tatort und die Tatzeit vorausberechnen kann. Die ersten BKA-Computer waren damals so groß wie Kleiderschänke. Sie mussten ständig stark gekühlt werden. Sie hatten noch längst nicht die für Herolds Vision erforderliche Kapazität und Schnelligkeit. Aber Herold war sicher, dass viele Täter eines Tages angesichts der Aussichtslosigkeit ihres Tuns, brav daheim bleiben werden. Der erste Schritt war damals die Aufbereitung der Statistik nach kriminalgeografischen Schwerpunkten: Das Raster, wo sich bestimmte Delikte konzentrieren.

Die Visionen von „Kommissar Computer“ gingen noch weiter. Von über die Autobahnen gebauten Kamera-Brücken könnten die Kennzeichen der vorbeifahrenden Wagen erfasst, gelesen und in Sekundenbruchteilen mit Listen gesuchter Fahrzeuge abgeglichen werden. Ein Stück weiter könnte die Polizei verdächtige Fahrzeuge aus dem Verkehr picken. Heute gibt es (wegen der Maut) Messbrücken auf den Autobahnen, aber sie dürfen wegen Datenschutz nicht für Fahndungen genutzt werden.

Genauso muss „predictive policing“ auf zahlreiche an sich vorhandene Daten verzichten. Technisch möglich wäre z.B. eine Computer-Datei mit allen Intensivtätern und der Information, in welchem zeitlichen Abstand sie gewöhnlich tätig wurden. Automatische Personen-Erkennungsprogramme könnten die Polizei in Marsch setzen, wenn diese Intensivtäter ihr Haus verlassen oder an bestimmten Orten auftauchen. Der Datenschutz steht dagegen.

Herold hielten damals viele seiner Kollegen für einen Spinner. Heute laufen bereits Versuchsprogramme für die Vorhersage von Wohnungseinbrüchen(2015: 152000 Delikte), mit zum Teil verblüffendem Erfolg. Wird Science-Fiction schrittweise zur Realität? Doch längst nicht bei allen Delikten ist Vorhersage möglich, z.B. nicht bei Mord und Totschlag. Aber bei Straßenraub sind Vorhersage-Programme nicht mehr völlig undenkbar.

Der Philosoph Horst Herold war vor 40 Jahren durchaus von Zweifeln geplagt, wie weit die Polizei mit der Datensammelei gehen soll und darf. Er sah auch durchaus die Notwendigkeit, gesellschaftliche Ursachen für Kriminalität zu beheben. Soziale Maßnahmen, die etwa den kriminellen Zugriff auf fremdes Eigentum unnötig machen.

Auf anderen Gebieten war Herold schneller erfolgreich. So bei der Kriminalgeografie oder der Rasterfahndung. Oder bei der Erkenntnis, dass Sachbeweise weniger fehleranfällig sind als Zeugenaussagen. Die Kriminaltechnik erlebte einen gehörigen Schub.

Weil unter Herolds Ägide einige der gefährlichsten Terroristen der RAF dingfest gemacht wurden, galt er als hochgradig attentatsgefährdet. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst musste er vor 36 Jahren aus Sicherheitsgründen ein Haus auf dem Gelände einer bayrischen Polizeikaserne beziehen. Dort wohnt er noch heute.

 

Über den Autor
Horst Zimmermann
Horst Zimmermann
Horst Zimmermann, schon während des Studiums (Jura und Politik) an der Uni Bonn Mitarbeit bei mehreren Tageszeitungen, dann Mitglied der Bundespressekonferenz (bis 2010), bis 1999 NRW-Korrespondent der WELT am Sonntag und freier Mitarbeiter von zeitweise bis zu 14 Tageszeitungen. Schwerpunkt: Innere Sicherheit und speziell Terrorismus. In den letzten Jahren Schwerpunkt Sicherheit auf Reisen.
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