Interview mit Polizeipräsident Jürgen Mathies

Das SPECIAL dieser Ausgabe befasst sich mit Großveranstaltungen, unter anderem mit den Ausschreitungen an Silvester 2015 und 2016 in Köln. Im folgenden Interview nimmt der Kölner Polizeipräsident Jürgen Mathies (56) Stellung zu den Ereignissen.

Veko-online: Herr Präsident Mathies, die Ereignisse an Silvester 2015/2016 haben nicht nur die Kölner Bevölkerung entsetzt. Die deutsche und die internationale Presse haben über die vielen Straftaten insbesondere zum Nachteil von Frauen im Bereich des Hauptbahnhofs berichtet. Mit einigem zeitlichen Abstand betrachten wir in Veko-online nochmals die damaligen Ereignisse und die Folgen. Eine dieser Folgen brachte Sie auf den Stuhl des Kölner Polizeipräsidenten, nachdem Ihr Vorgänger am 08.01.2016 in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden war. Haben Sie sich um diese Stelle bei einer Ausschreibung beworben oder wurden Sie mehr oder minder von Innenminister Jäger „ausgeguckt“?

Polizeipräsident Jürgen MathiesPolizeipräsident Mathies: Ich bin am 9. Januar von Herrn Minister Jäger angerufen worden. Er hat mich gefragt, ob ich bereit sei, Polizeipräsident in Köln zu werden. Ich habe mich mit Herrn Minister Jäger am Samstagnachmittag getroffen und ihm zugesagt, dass ich gerne diese Aufgabe übernehmen möchte.

Und dann ging der Amtswechsel seinen üblichen Weg?

Ich kann nicht sagen, was üblich ist.

Tage-, ja wochenlang wurden die Medien nicht müde, ihre Leser mit immer mehr Einzelheiten der Silvesternacht zu konfrontieren, wobei die verschiedenen Blickwinkel natürlich auch zu widersprüchlichen Ergebnissen führten. Wie lautet denn sozusagen das amtliche Endergebnis? Wie viele Täter gab es wirklich?

Wie viele Täter es tatsächlich waren, bleibt die Fragestellung. Wir haben ja nicht 100 Prozent aufgeklärte Taten, sondern wir haben etwa 1.300 Anzeigen, 1.600 Delikte und davon etwa 500 Sexualdelikte. Wir haben hier über die eingesetzte Ermittlungskommission etwa 340 Tatverdächtige ermittelt. Das war vor dem Hintergrund der schwierigen Ermittlungslage nicht von vornherein zu erwarten. Die Ermittlungen sind zum Teil so erfolgt, dass entwendete Handys geortet oder eben Videos oder Fotos ausgewertet werden konnten; daneben gab es natürlich auch Aussagen von Zeugen.

Das alles geschah aber schon auf Ihre Veranlassung. Seit dem 9. Januar waren ja Sie auf der Kommandobrücke.

Die Ermittlungskommission wurde schon ein paar Tage vorher, unmittelbar nach Bekanntwerden der Ereignisse eingesetzt. Was dann allerdings geschehen ist, geschah unter meiner Verantwortung, zum Beispiel, dass diese Kommission auf zeitweise 140 Personen aufgestockt wurde. Zudem haben wir auch Unterstützung von Scotland Yard angefordert ,weil dort sogenannte Super-Recognizer ausgebildet sind, die uns mit ihrer Kompetenz geholfen haben, die Videoaufnahmen zu analysieren, um so Opfer und Tathandlungen festzustellen.

Wie viele Verurteilungen gab es bis jetzt schon, so ungefähr?

Es ist bislang nur zu einer sehr geringen Zahl von Verurteilungen gekommen. Es ist ja nun mal in einem Rechtsstaat so, dass durch die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden das Gericht von der Straftat überzeugt werden muss, was eben eine gewisse Zeit dauert.

In der Öffentlichkeit und den Medien werden ganz unterschiedliche Zahlen genannt.

Die Zahlen, die ich Ihnen genannt habe, sind der augenblickliche, sozusagen amtliche Stand. Es sind auch keine wesentlichen Veränderungen mehr zu erwarten.

Haben die Kölner mit türkischem Migrationshintergrund bei den Ausschreitungen eine Rolle gespielt? Immerhin liegt Köln mit dieser Bevölkerungsgruppe unter den Großstädten Deutschlands mit rund 63.000 Personen an dritter Stelle.

Unter den Personen, die überprüft worden sind, inklusive der Tatverdächtigen, waren etwa 10 % - maximal – mit einer Aufenthaltserlaubnis und Wohnsitz in Köln. Das Gros, also 90 %, ist von außerhalb angereist.

Und weiß man, warum die plötzlich hierherkamen?

Nein. Wir sind deshalb dabei, jetzt die Erfahrungen von Silvester/Neujahr 2016/17 zu nutzen und aufzubereiten. Dazu habe ich eine Projektgruppe eingerichtet. Der starke Kräfteansatz hat dazu geführt, dass nur wenige Straftaten angezeigt wurden. Zunächst waren 1.500 Polizeikräfte eingesetzt, wir haben dann in der Nacht nochmals zwei Hundertschaften nachgefordert. Die Einsatzkräfte haben von 675 Menschen Personalien festgestellt. Diese werden wir – soweit eben möglich – befragen, und zwar bundesweit. Dafür sind mehrsprachige Fragebögen erarbeitet worden. Die örtlich zuständigen Polizeibehörden unterstützen uns bei der Befragung. Wir haben darüber hinaus Kontakte zu Instituten, zu Universitätsinstituten – auch aus dem Bereich der Ethnokultur –, die uns ebenfalls unterstützen wollen.

Haben Sie denn eine Erklärung dafür, warum diesmal an Silvester im Grunde nichts passiert ist?

Klar habe ich dafür eine Erklärung. Es gab einen gut strukturierten, gut vorbereiteten Polizeieinsatz. Wir haben mit einer relativ niedrigen Einschreitschwelle Personen angesprochen, Personen überprüft, Gefährderansprachen durchgeführt. Es wurden vor dem Einsatz – vor Silvester – auch eine ganze Reihe von Bereichsbetretungsverboten ausgesprochen. Betroffene Personen sind in Köln nicht angetroffen worden. Im Ergebnis waren die polizeilichen Maßnahmen zielführend, darüber bin ich sehr froh.

Sie hatten das richtige Konzept, denn es führte zum Erfolg. Natürlich gibt es immer welche, die nach dem Haar in der Suppe fahnden. Stichwort Nafris.

Richtig. Meine Behörde hatte in der Einsatznacht getwittert, dass in der Nacht am Hauptbahnhof mehrere hundert Nafris überprüft würden.

Nafri – was heißt das?

Nafri ist ein behördeninterner Begriff für „Nordafrikaner“

Und was war oder ist daran falsch?

Es handelt sich um einen internen Arbeitsbegriff der Polizei, und zwar in einem Analyse- und Auswerteprojekt. Hier werden Personen erfasst, die durch die Begehung mehrerer Straftaten aufgefallen sind und deren Herkunft zunächst einmal unmittelbar die nordafrikanischen Staaten Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen waren. Dieses Spektrum wurde später allerdings ausgeweitet.
Der Begriff „Nafri“ wurde fälschlich in der Silvesternacht 2016/2017 zur Schilderung einer Kontrollsituation genutzt, um die Öffentlichkeit zu informieren. Das hätte nicht geschehen dürfen. Ich habe bereits am Neujahrstag, die in diesem Fall unpassende Verwendung des Begriffes bedauert.

Eine Bundestagsabgeordnete, die Grünen-Chefin Simone Peter, nannte die Bezeichnung „völlig inakzeptabel“, ereiferte sich öffentlich und hatte später Mühe zurückzurudern. Noch am gleichen Tag haben Sie im Fernsehen den polizeiinternen Begriff erläutert und sich zusätzlich bei den Betroffenen entschuldigt. Die Luft war raus. Entgegen einiger Prognosen auch bei den Karnevalsumzügen, besonders in diesem Jahr. Allein mit Kölle Alaaf war es aber wohl nicht getan!

Ja, wir waren auch für diesen Karnevals-Einsatz gut vorbereitet und hatten sehr viele Polizeikräfte vor Ort. Die Einsatzkonzeption sah Maßnahmen im unmittelbaren Veranstaltungsbereich (zum Beispiel des Rosenmontagszuges) vor aber auch und insbesondere umfassende Raumschutzmaßnahmen. Zur Verhinderung möglicher terroristischer Anschläge wurden ein LKW-Fahrverbot in weiten Teilen der Innenstadt angeordnet und Durchfahrtsperren eingerichtet. Hier wurden Maßnahmen vorbereitete und umgesetzt, die im Jahr davor noch nicht im Konzept enthalten waren. Positiv zu bewerten ist, dass die Zahl der freiheitsentziehenden Maßnahmen um rund 40 Prozent reduziert werden konnte.
Unser Konzept ist seit dem vergangenen Jahr klar: Geringe Einschreitschwelle, klares, konsequentes Handeln der Polizei. Seit dem letzten Jahr hatte sich das wohl herumgesprochen, so dass wir erheblich weniger auffälliges Verhalten von Besuchern und damit auch weniger Fest- und Ingewahrsamnahmen hatten.

Neben Karneval gibt es in Köln aber noch andere Ereignisse, die besonderes polizeiliches Handeln erfordern. Wir sprachen schon davon: der hohe Anteil von türkischen Mitbürgern, in deren Heimat in wenigen Wochen aus deutscher Sichtweise umstrittene Wahlen stattfinden. Gibt es auch Probleme aus polizeilicher Sicht?

Wir hatten hier im vergangenen Jahr große öffentliche Versammlungen zu bewältigen. Am 30. Juli fand die Versammlung der UETD statt, eine Vereinigung von Nationaltürken. Eine emotional sehr aufgebrachte Teilnehmermenge; aus der heraus unter anderem die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei gefordert wurde. Dann hatten wir vier Wochen später, am 3. September, eine große kurdische Versammlung auf der Deutzer Werft. An beiden Versammlungen nahmen jeweils bis zu 30.000 Personen teil. Intensive Kooperationsgespräche und konsequente polizeiliche Maßnahmen sorgten dafür, dass Straftaten nach dem Vereins- bzw. Versammlungsgesetz nur in geringem Umfang festgestellt wurden.
Im November haben nochmals Aleviten und Kurden mit über 20.000 Teilnehmern demonstriert.
Das Zusammentreffen von Kurden und Nationaltürken kann schnell zu Eskalationen führen. Deshalb müssen die Polizeikräfte sich insbesondere auf die Verhinderungen von Konfliktlagen vorbereiten.

Wenn es um die Lösung oder Vermeidung von Konfliktsituationen geht, wird oft übersehen, dass man solche Lagen auch mit der Hilfe von Technik lösen kann. Auf dem Weg zu Ihrem Präsidium habe ich am Hauptbahnhof mit Blick über den Domplatz ungewöhnliche Videokameras entdeckt, die man hierzulande bisher nur in Fußballstadien oder Flughäfen findet...

…Multifokus-Kameras. Bereits 2016 habe ich entschieden, eine moderne Videobeobachtung unter anderem mit der hochauflösenden PANOMERA-Kamera in Köln zu realisieren. Haushaltsmittel wurden von der Landesregierung bereitgestellt. Wir haben in Köln zwei Bereiche identifiziert, die durch Videobeobachtung im öffentlichen Raum sicherer gemacht werden sollen. Das ist einmal die Umgebung vom Hauptbahnhof, Dom-Umgebung, am Museum Ludwig vorbei bis hinunter zum Rhein. Auf der anderen Seite ist es die sogenannte Kölner Partymeile, also dort, wo die Nachtklubs und Nachtbars sind und wir regelmäßig freitags und samstags intensive Polizeieinsätze fahren. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Vergabeentscheidung richtig war: Das System liefert hervorragende Aufnahmen, die von den beobachtenden Beamtinnen und Beamten zur Lagebeurteilung und zur Veranlassung von Sofortmaßnahmen gut genutzt werden können.

Herr Präsident Mathies, ich danke für dieses Gespräch und wünsche weiterhin eine glückliche Hand bei der Lösung Ihrer polizeilichen Aufgaben.

Das Interview führte Helmut Brückmann