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Jochen Oltmer

Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart.

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017. 24,95 €
ISBN: 3-8062-2818-2

Spätestens seit der Silvesternacht 2015/16 in Köln steht das Thema Migration im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Nach einer Phase, in der die deutsche Öffentlichkeit die Chancen – Willkommenskultur – in der Aufnahme von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten sah, folgte eine bis zur Gegenwart andauernde Phase, in der von allen Seiten des politischen Spektrums vor den mit der Zuwanderung verbundenen Risiken gewarnt wird. Es mag manchen verwundern, dass, meist ausgehend von der gleichen Datenbasis, weit voneinander abweichende Folgerungen aus der Migration gezogen werden. Zu den immer wieder gestellten Fragen gehören: Führt Migration zu einem wirtschaftlichen Aufschwung? Steigt mit der Zahl der Migranten die Kriminalitätsbelastung? Wirkt Migration in der Summe belebend auf die Gesellschaft? Schließlich ist es nicht weit bis zu der in eine Frage umformulierte Feststellung der Bundeskanzlerin: Schaffen wir das?

Der Autor des hier zu besprechen Buches lehrt Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück. Zu den Forschungsschwerpunkten von Professor Jochen Oltmer zählt die europäische Migrationspolitik seit dem 18. Jahrhundert. Aus historischer Perspektive wurde das aktuelle Thema Migration in Deutschland bisher nur am Rande angegangen. Das mag man einem generellen Minderinteresse der deutschen Gesellschaft zuschreiben, sich mit historischen Themen zu befassen – es ist schlicht und ergreifend in Deutschland nicht en vogue, in historischen Dimensionen zu denken – oder auch dies der angeblich postfaktischen Zeit zuschreiben, in der wir leben.

Schon auf den ersten Seiten seines Buches stellt der Historiker nach einer kurzen Herleitung des Ursprungs des Begriffes Migration heraus, dass in der Antike Wanderungsbewegungen von Menschen und Völkern als Vorform der Zivilisation gedeutet wurden. Auf diese Wanderung begaben sich in den Augen der Römer nur solche Völker, die sich vor Verfolgung und Niedergang fürchteten. Oltmer weist sodann nach, dass Migration bis zur Gegenwart als das Ergebnis von „Krisen, Katastrophen und Defiziten verstanden“ wird. Und er fasst zusammen: „Migration erscheint damit als Risiko, das dringend der restriktiven politischen Vor- und Nachsorge bedarf.“

Eindrucksvoll arbeitet der Autor heraus, dass wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse und persönliche Gründe zu einer Migration führen können, und er stellt dar, dass den informationellen Netzwerken hierbei eine große Bedeutung zukommt. Für die Zeit von 1820 bis 1914 schätzt Oltmer, dass rund 100 Millionen Briefe von den in die USA Ausgewanderten nach Deutschland geschickt wurden. Die trug wesentlich dazu bei, dass auch andere ihr individuelles Glück in der Neuen Welt suchten. Was für deutsche Auswanderer in die USA ganz allgemein gilt, kann der Autor auch für bestimmte Berufe und Qualifikationen nachweisen. Besonders hebt er die Fish and Chips Geschäfte in Irland hervor, deren Inhaber nahezu ausnahmslos aus dem kleinen italienischen Ort Casalatticio stammen, die Wandergärtner aus Bulgarien oder Ziegler aus dem Fürstentum Lippe-Detmold.

Im Anschluss daran beschreibt Oltmer die unterschiedlichen Formen der Migration vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, wobei er jeweils den Schwerpunkt auf die Frage legt, welche Gründe jeweils die Wanderungsbewegung auslösten. Im letzten Kapitel seines Buches geht er auf „Deutschland und die globale Flüchtlingsfrage“ ein. Dabei beschreibt er zunächst die Rahmenbedingungen, die durch die im Jahr 1951 verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention und die im Jahr 1948 von den Vereinten Nationen erlassene „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ gesteckt werden. Während erstere von bisher 147 Staaten unterzeichnet wurde und sich damit diese Staaten verpflichten, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, fand das sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ableitende Asylrecht nur sehr selten Eingang in nationales Recht. Die Bundesrepublik Deutschland bildet mit dem Artikel 16 des Grundgesetzes eine große Ausnahme. Dort ist festgeschrieben: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Zu Recht wertet der Autor dies als „eine Reaktion auf die vor allem rassistisch motivierten Austreibungen aus dem Deutschland des ‚Dritten Reiches‘ und markiert damit eine symbolische Distanzierung von der nationalsozialistischen Vergangenheit. … Noch stärker bestimmend aber war ein weiterer Aspekt: Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates gingen davon aus, dass der größte Teil derjenigen, die das Asylrecht im Westen in Anspruch nehmen könnten, aus der Sowjetischen Besatzungszone käme.“ In der Praxis führte dies dazu, dass Westdeutschland bis zur Mitte der 1950er Jahre fast keinen Flüchtling aus dem Ausland aufnahm. Dies änderte sich mit dem dann rasch einsetzenden deutschen „Wirtschaftswunder“. Die boomende deutsche Industrie verlangte nach Arbeitskräften. So erklärt es sich, dass rund 16.000 Ungarn nach dem Aufstand von 1956 in Deutschland eine neue Heimat fanden. Insgesamt stellten von 1949 bis 1968 nur 70.000 Menschen in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag. Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre stieg die Zahl der Asylanträge sprunghaft an. Auslöser waren unter anderem der Militärputsch in der Türkei, die Errichtung einer Islamischen Republik im Iran und die von der Gewerkschaft Solidarnosz ausgelöste Revolution in Polen. Die Zahlen der Asylanträge stiegen schrittweise bis zu Beginn der 1990er Jahre an. Dies begleitete der Gesetzgeber mit zunächst kleinen Anpassungen im Asylrecht bis hin zu der im Jahr 1993 durchgeführten Änderung des Grundgesetzes. Ursächlich dafür waren auch die zum Teil sehr hart geführten innerdeutschen Debatten um Sinn und Zweck der Asylgesetzgebung gewesen und nicht zuletzt auch die Gewalttaten gegen Flüchtlinge, die meist von jugendlichen Autochthonen begangen wurden.

Oltmer stellt heraus, dass in der Regel die Fluchtdistanzen gering sind. Das hat mehrere Gründe: Neben geringen finanziellen Mitteln ist das der Wunsch der Geflüchteten, möglichst bald wieder in ihre Heimat zurückzukehren, sobald dort die Fluchtursachen beseitigt sind. Auf den ersten Blick steht dies in einem Widerspruch zu der großen Zahl von Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kam. Der Autor erklärt dies mit einem Bündel von Faktoren. Ursächlich für diese Flüchtlingswelle sind somit unter anderem die Netzwerke, die von Syrern, Irakern, Afghanen, Eritreern und insbesondere Südosteuropäern bereits seit längerer Zeit in Deutschland aufgebaut worden waren; die große Aufnahmebereitschaft Deutschlands zwischen 2010 und 2015, die durch den (angeblichen) Fachkräftemangel und den demographischen Wandel mitbestimmt wurde und sich ebenso durch einen Rückzug Frankreichs und Großbritanniens als klassische Flüchtlingsländer erklärt; gesellschaftliche Konflikte in zahlreichen EU-Anrainerstaaten, die zu einem Abbau der „EU-Vorfeldsicherung“ führte; die Auflösung des „Dublin-Systems“, das zu einer ungleichen Belastung der EU-Staaten geführt und besonders die südlichen Staaten über Gebühr belastet hatte. Der Autor kommt zu dem Schluss: „Dass Europa nur ein kleiner Teil der umfangreichen Fluchtbewegungen aus und in den Kriegs- und Krisenzonen der Welt erreicht, gerät demgegenüber ebenso wenig in den Fokus wie die Normalität der europäischen Migrationssituation mit ihren umfangreichen räumlichen Bewegungen zur Wahrnehmung von Erwerbs- und Bildungschancen andernorts.“

Dr. Reinhard Scholzen

 

Über den Autor
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen, M. A. wurde 1959 in Essen geboren. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Trier. Nach dem Magister Artium arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte 1992. Anschließend absolvierte der Autor eine Ausbildung zum Public Relations (PR) Berater. Als Abschlussarbeit verfasste er eine Konzeption für die Öffentlichkeitsarbeit der GSG 9. Danach veröffentlichte er Aufsätze und Bücher über die innere und äußere Sicherheit sowie über Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs: Unter anderem über die GSG 9, die Spezialeinsatzkommandos der Bundesländer und das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr.
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