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 Airbus A320 nach Sullenbergers erfolgreicher Notwasserung im Hudson River
© Foto:Greg L, Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-2.0

Die Bedeutung psychologischer Eigensicherung in Extremsituationen und deren Bewältigung

Von Christian Köhler

Ein herausragendes Beispiel für die erfolgreiche Bewältigung einer Extremsituation stellt die Notwasserung eines vollbesetzten Airbus A 320 auf dem Hudson River durch den Piloten Chesley B. Sullenberger kurz nach dem Start vom New Yorker Flughafen La Guardia (am 15.01.2009) dar. Sullenberger gelang es beispielhaft, Komplexität zu reduzieren, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und seine Kompetenzen äußerst effektiv einzusetzen. Obwohl beide Triebwerke aufgrund von Vogelschlag ausgefallen waren, konnte er das Flugzeug in weniger als drei Minuten sicher auf dem Hudson River landen. Alle Passagiere blieben unverletzt.
Sullenberger selbst schreibt seine Ausnahmeleistung vor allem. folgenden Aspekten zu: Gewissenhaftigkeit, Perfektionsstreben, bedeutsamen Lernerfahrungen, unerschütterlichem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, optimistischem Realismus, situativer Bewusstheit/Wachsamkeit, Training von Ausnahmesituationen, Analyse von Flugunfällen, Pflichtbewusstsein. Diese Merkmale finden sich im Konzept der „mentalen Stärke“ (Aufgabenbindung, motivierende Herausforderung, Kompetenzerwartung und Bewältigungsstrategien) wieder, welches im Leistungssport oder in anderen Hochleistungsbereichen erfolgreich angewendet wird.


Zentral ist es demzufolge für Einsatzkräfte, durch strukturiertes Training Kompetenzen und Bewältigungsstrategien aufzubauen oder zu vertiefen, die es ermöglichen, Anforderungen in Extremsituationen zu meistern, die jenseits von Routinen liegen. Erfolgreiche Personenschützer besitzen Vorstellungen („kognitive Landkarten“) von verschiedenen Handlungsabläufen in Extremsituationen („mentale Navigationssysteme“).

Beispiele für Extremsituationen im Personenschutz sind z.B. Messerattacken, Waffengewalt/Beschuss („Hinterhalt“), Ansprengung, Geiselnahme/Entführung. Aus Studien zum Schusswaffengebrauch ist bekannt, dass derartige Situationen auch bei sehr gut trainierten Einsatzkräften starke biopsychologische Reaktionen auslösen. Ziel ist es, durch gezieltes Training rasch wieder Kontrolle über die eigenen unvermeidbaren Stressreaktionen zu gewinnen und möglichst schnell wieder auf die erlernten Kompetenzen effektiv zugreifen zu können. Handlungsabläufe, die immer wieder trainiert wurden, werden in der Regel auch unter Stress in Extremsituationen beherrscht.

Psychologische Eigensicherung bedeutet also, dass Einsatzkräfte spezifische Voraussetzungen mitbringen, die durch gezieltes Training zu alternativen Kompetenzen und Bewältigungsstrategien weiterentwickelt werden. Dabei geht es um körperliche und mentale Voraussetzungen bzw. Kompetenzen. Mit Blick auf die o.g. spezifischen Voraussetzungen beginnt psychologische Eigensicherung somit schon bei der Personalauswahl, und umfasst auch die Bereiche Ausbildung/Training und Coaching/Monitoring.

Personalauswahl

Abgeleitet von den o.g. Aspekten und praktischen Erfahrungen lassen sich beispielhaft folgende Anforderungsmerkmale für Personenschützer/Einsatzkräfte bestimmen:

  • Stressresistenz/Psychische Stabilität
  • Kompetenzerwartung (Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten)
  • Konzentrationsfähigkeit/Aufmerksamkeitsleistung
  • Intelligenz/Auffassungsgabe

Teamorientierung/Kooperation

  • Sozialkompetenz
  • Gewissenhaftigkeit
  • Flexibilität/Veränderungsbereitschaft
  • Leistungsmotivation

Die genannten Anforderungsmerkmale dienen einer Orientierung bei der Auswahl von Personen, die in Extremsituationen effektiv Höchstleistungen erbringen sollen. Es ist daher dringend zu empfehlen, das Anforderungsprofil an die Bedingungen der jeweiligen Organisation anzupassen (durch eine Anforderungsanalyse). Aus methodischer Sicht ist eine Kombination von kognitiven Leistungstests, Persönlichkeitsfragebögen, strukturiertem Interview und Gruppenaufgaben/-diskussionen im Auswahlverfahren am erfolgversprechendsten.

Persönlichkeitsfragebögen liefern zusätzliche Informationen, auch wenn sie auf Selbsteinschätzungen beruhen. Wichtig ist eine gründliche Nachexploration der Ergebnisse anhand konkreter Beispiele im persönlichen Gespräch mit einem/einer geschulten Psychologen/-in. Im Sinne einer Potentialanalyse können die Ergebnisse auch genutzt werden, um im Verlauf der Verwendung bestimmte Bereiche (z.B. Teamorientierung) weiter zu optimieren bzw. Trainingspläne zu individualisieren.

Um Stressresistenz möglichst valide zu erfassen, kann z.B. die Konzentrations-fähigkeit/Aufmerksamkeitsleistung vor und unmittelbar nach starker körperlicher Belastung getestet werden. Dadurch kann ein erster Eindruck gewonnen werden, wie gut Leistung unter Stress abgerufen werden kann bzw. an welcher Stelle mit besonderem Augenmerk trainiert werden sollte.

Darüber hinaus ist in der Ausbildungsphase des Personals die Durchführung einer Belastungswoche im Team (wie z.B. beim KSK der Bundeswehr) zu empfehlen. Neben der Stressresistenz lassen sich in einer Belastungswoche v.a. Leistungsmotivation, Teamorientierung und Sozialkompetenz beobachten. Diese Beobachtungen liefern somit wertvolle Informationen über die Bewältigung von Extremsituationen in der Realität (z.B. bei Nahrungsmangel, körperlicher Höchstleistung, reduziertem Schlaf).

Ausbildung/Training

Im Folgenden werden das Ausbildungsthema „Umgang mit Belastungen“ näher beschrieben und zentrale Ausbildungsinhalte aufgezählt. Bezogen auf das zentrale Merkmal „Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten“ sei an dieser Stelle erwähnt, dass die psychologischen Ausbildungsinhalte mit allen anderen Ausbildungsinhalten eng verknüpft sind (wie z.B. Schießen, Selbstverteidigung, Fahren, Navigieren usw.).

Die Bedeutung einer fundierten medizinischen Notfallausbildung (zum Rettungssanitäter) ist nicht hoch genug einzuschätzen, um in Extremsituationen handlungsfähig zu bleiben und die Kompetenzerwartung zu erhöhen.

Informationsvermittlung zum Umgang mit Belastungsreaktionen

Einsatzkräfte (in Krisengebieten) sind lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt, wie z.B. Beschuss, Ansprengung, Geiselnahme, Tod/Verletzung (von Kollegen). Typischerweise reagiert der Organismus stark, sowohl in solchen, als auch auf solche Situationen. Das ist ein Zeichen der natürlichen Verarbeitung außergewöhnlicher und extremer Erlebnisse. Wiedererleben der Ereignisse, Vermeidung (z.B. von Gedanken, Gefühlen, Gesprächen, Orten, Aktivitäten, die an das Ereignis erinnern) und Übererregung / Hyperarousal (z.B. Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen) sind typische posttraumatische Reaktionen.

Wichtig ist dabei, den Einsatzkräften und deren Vorgesetzten zu vermitteln, dass o.g. Reaktionen bis zu vier Wochen nach dem Ereignis „normal“ sein und als Zeichen von natürlicher Verarbeitung verstanden werden können. Dieses Wissen trägt zur

Entlastung nach kritischen Ereignissen bei und erhöht die Achtsamkeit gegenüber der Befindlichkeit von Kolleg/inn/en erhöhen. Der flexible Umgang von Führungskräften mit Mitarbeitern, die Belastungsreaktionen zeigen, ist von höchster Bedeutung, um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dauerhafter Folgen zu reduzieren. Sollte die o.g. Belastungsreaktion länger als vier Wochen bestehen und mit Hilfe psychologischer Diagnostik eine „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) festgestellt worden sein, ist eine psychotherapeutische Behandlung angezeigt. PTBS kann heute von traumatherapeutisch geschulten psychologischen Psychotherapeuten gut behandelt werden.

Verschiedene Studien der US-Army an Veteranen aus dem zweiten Irakkrieg zeigen, dass eine hohe Zahl an Soldaten (bis zu 40%), die intensivem Kampfgeschehen ausgesetzt waren, im Anschluss eine PTBS entwickelten. Bei den Soldaten konnte beobachtet werden, dass sie antrainierte Handlungsabläufe in Kampfsituationen gut abrufen konnten und Extremsituationen häufig gut und kontrolliert bewältigen konnten („…das im Training erlernte Verhalten lief wie automatisch ab…“).

Allerdings konnte auch beobachtet werden, dass dies nicht vor der Entwicklung einer PTBS schützt, die bei den Soldaten typischerweise mit zeitlicher Verzögerung auftrat. Daraus leiteten Ärzt/inn/en und Psycholog/inn/en der US-Army ab, dass herkömmliche psychologische Vorgehensweisen im Umgang mit Extremsituationen an Berufsgruppen wie Soldaten und andere Einsatzkräfte angepasst werden müssen, da diese Berufsgruppen auf den Umgang mit Hochrisikosituationen vorbereitet werden und speziell trainiert sind. Psychologisches Training zum Umgang mit Extrembelastungen für Einsatzkräfte (vor und nach Einsätzen), Ausbildung in psychologischer Erster Hilfe und psychologisches Screening auf PTBS (auch 6 Monate nach Beendigung von Einsätzen) ist angezeigt im Sinne einer notwendigen und sinnvollen Fürsorge.

Weitere förderliche Ausbildungsinhalte:

  • Kognitive Stressbewältigung (kognitive Umstrukturierung)
  • Entspannungsverfahren (PMR)
  • Psychologische Aspekte bei Geiselnahmen
  • Interkulturelle Kompetenz

Für das Training von Szenarien ist aus psychologischer Sicht zu empfehlen, möglichst realitätsnah und möglichst oft extreme Szenarien zu üben. Dadurch werden Handlungsabläufe verinnerlicht und können im Ernstfall „automatisiert“ und kontrolliert abgerufen werden. Unabdingbar ist dabei eine strukturierte Nachbereitung dieser Trainingsmaßnahmen. An dieser Stelle wird auch deutlich, wie Personalauswahl/Diagnostik, Ausbildung/Training und Coaching / Monitoring ineinandergreifen. Individuelle Kompetenzen bzw. Entwicklungsfelder können in der Auswahl identifiziert, in der Ausbildung theoretisch unterfüttert, im Training eingeübt und im Coaching reflektiert werden.

Coaching/Monitoring

Begleitend zu den gruppenorientierten Ausbildungsmodulen sind psychologische Einzelgespräche mit den Einsatzkräften wichtig und notwendig. Diese Gespräche (mindestens 1-2x jährlich und anlassbezogen) dienen zunächst der professionellen Herstellung von Vertrauen, um (zukünftig) in kritischen Situationen auch persönliche Themen reflektieren zu können, die z.B. nicht mit dem Kollegenkreis geteilt werden sollen/können. Auch Stressbewältigungsfähigkeiten können in diesen Gesprächen individuell und effizient optimiert werden. Psycholog/inn/en unterliegen in der Ausübung ihrer Tätigkeit der Schweigepflicht (nach § 203 Abs.1 StGB).

Ein weiteres wichtiges Thema ist die berufliche Zukunftsperspektive von spezialisierten Einsatzkräften. Wie auch im Profifußball begrenzt das Lebensalter die Möglichkeit, (körperliche) Höchstleistungen zu erbringen. Die parallele Vorbereitung einer beruflichen Zukunft, die unabhängiger vom biologischen Alter ist, ist letztlich Aufgabe der Mitarbeiter/inn/en, Führungskräfte, der gesamten Organisation und der Psycholog/inn/en.

 Weiterführende Literatur:
Bernstein, D. A. & Borkovec, T. D. (2007). Entspannungstraining. Handbuch der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson. 12., Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta.
Brönnimann, R. & Ehlert, U. (2015). Traumafolgestörungen bei gefährdeten Berufsgruppen. In: Seidler, G., Freyberger, H. & Maercker, A. (Hrsg.). Handbuch der Psychotraumatologie. 2., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, 398 – 410.
Drexler, D. (2012). Das Integrierte Stressbewältigungsprogramm ISP. Manual für Therapie und Beratung. 3., vollst. überarb. Neuaufl. Stuttgart: Klett-Cotta.
Eberspächer, H. (2011). Gut sein, wenn`s drauf ankommt. Von Top-Leistern lernen. 3., überarb. Aufl. München: Hanser.
Füllgrabe, U. (2014). Psychologie der Eigensicherung. Überleben ist kein Zufall. 5., aktual. U. erw. Aufl. Stuttgart: Boorberg.
Kreim, G., Bruns, S. & Völker, B. (Hrsg.) (2014). Psychologie für Einsatz und Notfall. Ansätze und Perspektiven der Militärpsychologie. 2., völlig überarb. u. aktual. Neuaufl. Bonn: Bernard & Graefe.
Mahinova, E. & Qualbrink, C. (2014). Interkulturelle Kompetenz. In: Paschen, M. & Fritz, A. (Hrsg.) Die Psychologie von Potenzial und Kompetenz. Individuelle Stärken verstehen, beurteilen und entwickeln. Neustadt an der Aisch: Verlagsdruckerei Schmidt, 193 – 226.
Richter, M. (2014). Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970-1993). Frankfurt: Campus.
Schmalzl, H. P., (2011). Die Gegenwart meistern. Anmerkungen zur erfolgreichen Bewältigung von Extremsituationen. In: Lorei, C. (Hrsg.). Eigensicherung und Schusswaffeneinsatz bei der Polizei. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft, 9 – 34.

Über den Autor
Christian Köhler
Christian Köhler
Christian Köhler, Dipl. Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, arbeitet im Bereich Personalauswahl und Einsatzunterstützung des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden.
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