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Autoren, Maler, Musiker als sicherheitsrelevantes Risiko?

Über Verbrecher als Künstler und Künstler als Verbrecher

Von Rolf-Bernhard Essig und Gudrun Schury

Seine Literatur begeistert seit Jahrzehnten Hunderttausende, seine Geschichte rührte wahrscheinlich noch viel mehr, aber die Hinterbliebenen seiner vier Opfer, zwei Sicherheitsleute, zwei Taxifahrer, kann nicht trösten, dass aus Norio Nagayama im Gefängnis ein sehr guter Schriftsteller wurde.

 

Vorgeschichte eines exemplarischen Vierfach-Verbrechers

Am 29. Juli 1965 im Tokioter Stadtteil Shibuya. Tausende Menschen im belebten Viertel werden Zeuge, wie plötzlich jemand mehrfach aus einem Waffenladen heraus schießt. Ein immer größer werdendes Polizeiaufgebot sammelt sich schnell und feuert zurück. Am Ende wird der Täter, der vier Geiseln genommen und 16 Menschen angeschossen hat, überwältigt. Es ist der erst achtzehnjährige Misao Katagiri. Vor dem Schusswechsel hat er in einem Außenbereich Tokios einen Polizisten getötet, einen verletzt.

In der aufgeregten Menge steht ein junger Mann, selbst gerade erst sechzehn geworden: Norio Nagayama. Ob ihn der aufsehenerregende Vorfall zu vier eigenen Morden anregte? Schwer zu sagen. Klar ist, dass die Morde heute vielleicht ähnlich geschehen könnten. Wie leicht unterschätzt man einen schüchternen Jungen von gerade 19 Jahren! Wenn er sich dann noch höflich nähert … Wer käme da schon auf die Idee, dass er gleich einen Revolver – klein wie die Fläche seiner Hand – ziehen und schießen wird?!

Nagayama wurde 1949 in Abashiri, Hokkaido, in eine arme, kinderreiche Familie geboren. Sein Vater, ein verarmter Apfelfarmer, trennte sich von den Seinen kurz nach Norios Geburt, schickte nie Geld, starb 1958 in einem Zug. Die Mutter versuchte trotz großer Armut, ihre acht Kinder allein aufzuziehen. Im Oktober 1953, als Nagayama vier Jahre alt war, kapitulierte sie vor der Aufgabe und floh kopflos mit einem Teil der Kinder aus Abashiri zurück in ihre ursprüngliche Heimat. Vier alleingelassene Kinder, darunter Norio, bemühten sich verzweifelt, ohne Eltern den sehr strengen Winter im äußersten Norden Japans mit bis zu minus 30° C zu überleben. Später erinnerten sich die älteren Geschwister nicht einmal mehr recht, ob der kleine Norio überhaupt bei ihnen gelebt hatte oder nicht. Er selbst beschreibt in seiner Erzählung Findling-Spiel (Sutego Gokko), die Älteren hätten ihn auszusetzen versucht, weil sie so hungerten. Im Mai 1954, nach einem guten halben Jahr, reagierten endlich die Nachbarn und meldeten die vier elternlos hausenden Kinder der Wohlfahrtspflege. Man brachte sie zur Mutter nach Itayanagi. Als einfache Fischhändlerin verdiente sie wenig. Zeit für Erziehung oder Aufsicht? Gab es so gut wie nicht. Das hatten die Kinder untereinander zu erledigen. In die Kinderzeit fällt Norios erster Diebstahl in einem Kleidungsgeschäft. Nur dank nachsichtiger Lehrer erreichte er trotz extrem schlechter Leistungen mit 15 den Mittelschulabschluss. Weil er hoffte, in Tokio Arbeit zu finden, zog er gen Süden. Es beginnt eine typische Jugend-Kleinkriminellenkarriere auf der Kippe zwischen Rettung und Absturz. Tatsächlich stellte man ihn als Hilfsarbeiter ein, doch nach sechs Monaten stahl er Geld, wurde auf Bewährung verurteilt, bekam erneut Arbeit, stahl wieder, diesmal auf einer US-Militär-Basis, und wurde schließlich in eine Besserungsanstalt gesteckt. Bewährungshelfer verschafften ihm mehrfach Stellen, ermöglichten ihm, eine Highschool zu besuchen, doch Nagayama gab beides nach kurzer Zeit auf. Man setzte seinen Bruder für ihn als Vormund ein, der ihm Arbeit in einer Molkerei verschaffte. Wieder besuchte Nagayama kurz eine Highschool. Vielleicht hätte sich dieses richtungslose Leben zwischen Kleinkriminalität, Fluchtversuchen, wechselnden Jobs und Schulen zum Besseren verändert, wäre seine Bewerbung bei den Selbstverteidigungskräften Japans angenommen worden. Angesichts seiner mangelnden Ausbildung, seiner Jugend – er war erst 18 – und seiner Gesetzesbrüche wäre seine Aufnahme ins Militär freilich ein Wunder gewesen. Vielleicht verführte ihn der erste leicht zu verübende Diebstahl auf einer US-Militärbasis dann 1968 zu einem zweiten, bei dem er den kleinen Revolver und 50 Patronen an sich nahm – die Mordwaffe.

Was dann geschah, bewerteten die meisten seiner Richter nicht als Folgen von schwieriger Kindheit und mangelndem Verstand, sondern als Taten aus freiem Willen, skrupellos und bei voller Zurechnungsfähigkeit. In allen vier Fällen ging es Nagayama wohl um Geld. Allerdings beraubte er lediglich die Opfer Drei und Vier, wobei er etwas über 16.000 Yen erbeutete, umgerechnet ca. 180 DM. Obwohl die Kaufkraft damals deutlich höher war, handelte es sich um sehr kleine Beträge.

Mit einem solchen Revolver tötete Norio Nagayama seine Opfer.Nagayama tötete seine vier Opfer in vier Städten zwischen dem 11. Oktober und dem 5. November 1968 mit einem sechsschüssigen Revolver, Fabrikat Röhm RG 10, Kaliber 22, genannt Rosco, den man in Zeitschriften für bloß 12,95$ anbot.

Nagayama überraschte alle vier Opfer, schoss mehrfach und eindeutig, um zu töten, ließ ihnen keine Zeit zur Gegenwehr. Zuerst ermordete er Masanori Nakamura, den Wachmann des Luxushotels Prince in Tokio, dem er zweimal in den Kopf schoss, drei Tage später einen weiteren Wachmann, Tomejirô Katsumi, am Yasaka-Schrein im Tempelbezirk Kyotos mit fünf Schüssen. Die beiden nächsten Opfer waren Taxifahrer. Tetsuhiko Saitô tötete er am 27. Oktober in Hakodate (Hokkaido), er war das einzige Opfer mit Kindern. Masaaki Itô erschoss Nagayama bei einem missglückten Raubüberfall. Wenige Wochen später wurde er verhaftet und nach einem aufwendigen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt, wogegen seine Anwälte – schon wegen seines Alters von erst 19 Jahren – erfolgreich Berufung einlegten. Weitere Verhandlungen wurden nötig.

Schreiben, um zu überleben

Es folgten 28 Jahre Gefängnis, in denen Nagayama immer wieder seine große Reue betonte und zeigte, besonders im Fall Tetsuhiko Saitôs, der Kinder hatte. Allerdings beharrte er darauf, dass Armut und Unwissenheit für seine Morde grundlegend gewesen seien. Er glaubte offenbar wirklich daran. Als seine Bücher – Gedichte, Romane, Erzählungen – erfolgreich wurden, bemühte er sich um Sühnezahlungen an die Angehörigen der Opfer, später an eine Kinderhilfsorganisation, wozu er eine Stiftung gründete. Insgesamt kamen etwa 80.000 Euro für die beiden Opferfamilien, die das Geld akzeptierten, zusammen und bis heute gut über 100.000 Euro für ein Kinderhilfswerk in Peru. Nagayama hoffte, mit diesem Geld junge und ungebildete Kinder von Verbrechen wie den seinen abhalten zu können.

Die japanische Justiz beeindruckte die Wandlung des Mörders zum fleißigen und erfolgreichen Autor nicht. 1983 verwarf der Supreme Court auf Betreiben des Staatsanwalts das abgemilderte Urteil und verwies die Sache zur Neuentscheidung an den High Court zurück. Damit wurde die Hinrichtung wieder zu Nagayamas wahrscheinlicher Zukunft. In seinen Gedichten thematisierte er sie immer wieder, meist furchtlos:

„Wenn ich Tee trinke –
plötzlich fällt mir ein:
geht’s zum Sterben, wird der Strick
mit heißem Wasser weichgemacht.“

Obwohl es Aktionen für eine Begnadigung Nagayamas im In- und Ausland gab, ließ man sich in Japan nicht beeinflussen, schließlich galt und gilt die Todesstrafe dort seit Jahrzehnten bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung als angemessen für außergewöhnlich schwere Verbrechen. Am 1. August 1997 wurde er gehenkt. Sein Testament hatte Nagayama längst vor der Exekution gemacht. Darin sprach er die weiteren Tantiemen seiner Bücher, die er als eine Art Erbe und Wiedergutmachung ansah, der eigenen Kinderhilfsstiftung zu. Seine Anwältin und weitere Unterstützer kümmern sich seit nunmehr fast zwanzig Jahren um sie, deren Arbeit hauptsächlich armen Kindern in Peru zugute kommt. Im Namen Nagayamas kämpfen außerdem viele – wie er selbst in seinen letzten Lebensjahren – für die Abschaffung der Todesstrafe in Japan.

Kunst und Verbrechen – zwei Seiten einer Medaille?

Nach dramatischen Fällen wie diesen mussten meine Frau und ich nicht lange suchen, als wir uns daran machten, das Buch „Schlimme Finger. eine Kriminalgeschichte von Villon bis Beltracchi“ zu schreiben. Es gab vielmehr das Problem, die Spreu vom Weizen zu trennen. Nehmen wir berühmte Künstlerverbrecher wie Sir Thomas Malory aus dem 15. Jahrhundert, der für den Grals- und König-Arthur-Sagenkreis besonders bedeutsam ist. Er soll Überfälle organisiert und durchgeführt, Vergewaltigungen und Entführungen auf dem Kerbholz haben. Dumm nur, dass es mehrere seines Namens gibt und man nicht weiß, ob der Autor auch der Verbrecher war. Dass man es ihm überhaupt zutraute, obwohl seine Geschichte vom „Tod des Königs Arthur“ hochmoralisch ist, hängt mit einem Klischee zusammen, dass fast so alt ist wie die Kunst.

Man hielt bereits in der Antike Sänger wie Homer für außergewöhnliche Menschen, die von den Göttern geliebt, aber auch geschlagen seien. Geschichten von körperlichen und geistigen Eigenheiten der Künstler, von einer Art Wahnsinn erzählte man oft. Spätestens in der Renaissance dann verfestigte sich dieser Verdacht zu einer Art von Gewissheit, weil viele und berühmte Künstler dem Klischee entsprachen.

Was die bildenden Künstler betrifft, wiesen uns die Studien des Kunsthistorikers Horst Bredekamp auf ein höchst merkwürdiges Phänomen hin. Unter dem Titel Der Künstler als Verbrecher beleuchtet er eine über längere Zeit hinweg gebräuchliche Argumentation: Ein Künstler müsse wegen seiner Einzigartigkeit von der gängigen Rechtspraxis ausgenommen werden. In einer aufschlussreichen Konzentration auf die Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts im Italien päpstlicher Allmacht und fürstlicher Willkür führt Bredekamp an den Beispielen von Michelangelo, Cellini, Leoni, Cesari und Bernini vor, wie die als begnadet angesehenen Goldschmiede, Maler und Bildhauer Bewunderung, Macht und Reichtum errangen, obwohl sie wegen ihrer Vergehen von unerlaubter Entfernung vom Hof über Hochverrat, schwere Körperverletzung, Falschmünzerei bis hin zu mehrfachem Mord das Gefängnis, wenn nicht die Hinrichtung verdient hätten. Sie aber wurden in ihrem anerkannten „Anspruch auf Ebenbürtigkeit“ von Papst oder Kaiser begnadigt, ja noch belobigt, beschenkt und ausgezeichnet. Denn schließlich hätte der Hof durch Verbannung oder Tod eines herausragenden Künstlers unwiederbringlich Ruhm und Reputation verloren. Außerdem machten der Gnadenakt sowie die behauptete Einzigartigkeit und Gleichrangigkeit aus dem Künstler für immer einen loyalen Diener der Obrigkeit – der sich darauf verlassen konnte, dass er weitgehend straffrei bleiben würde, was auch immer er anstellte, „als wenn es für ihn keine Herren und keine Justiz gebe“, wie Berninis Mutter über ihren Sohn klagte, der sich aufführe wie „der Herr der Welt“. Vergessen wir freilich nicht, dass selbst um 1600 die Mehrheit der Künstler und erst recht die wenigen Künstlerinnen friedlich, fleißig, flink ihre Finger für ihre Werke und nicht fürs Zuschlagen gebrauchten. Deren Leben ließ sich leider nicht so spannend erzählen.

Das Prinzip Cardillac

Unser Buch hätte auch heißen können Das Prinzip Cardillac, denn in dieser Figur aus E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi sind Kunst und Verbrechen so wirkungsvoll wie beispielhaft vereint. Noch viel skrupelloser als eins seiner Vorbilder, Benvenuto Cellini, handelt in dieser ersten deutschen Kriminalerzählung von 1819 der Goldschmied Cardillac. Beherrscht von der maßlosen Liebe zur eigenen Schöpfung, tötet er die Käufer seiner Geschmeide, um wieder in deren Besitz zu gelangen.

Wolfgang Betracchi, der berüchtigte Fälscher und inzwischen Medienstar, der fürs Fernsehen sogar Christoph Waltz, Gloria von Thurn und Taxis, Daniel Kehlmann und Harald Schmidt portraitierte, kennt die Erzählung. Auf die Frage „Stimmt es, dass Sie Ihre eigenen Bilder irgendwann sogar zurückkauften?“ antwortete der Maler und Fälscher Wolfgang Beltracchi: „Es gibt eine Geschichte von E. T. A. Hoffmann, die im Paris des 17. Jahrhunderts spielt, über einen Juwelier, der ganz tollen Schmuck macht. Jedes Mal, wenn er ein Schmuckstück verkauft hat, werden die Damen ermordet und verschwindet der Schmuck. Ich habe natürlich die Besitzer der Bilder nicht ermordet, aber ich kann das verstehen. Ich wollte meine Bilder wiederhaben und sie eigentlich auch nie verkaufen.“

Es gibt aber durchaus Verbrechen, die dem Künstler generell näher liegen als einer Verwaltungsangestellten oder einem Schornsteinfeger: die Kunstfälschung vor allem, egal ob Bild, Buch oder Komposition. Auch geraten Künstler wohl leichter als Busfahrer oder Bäckerinnen in ein Milieu aus Drogen, Alkohol und Beschaffungskriminalität. Über Jarhhunderte existierten sie ja auch am Rand der Gesellschaft, in einem Unterschichten- und Bohème-Milieu. Für manche gehörten und gehören illegale Rauschmittel zum Selbstverständnis, ja unabdingbaren Treibstoff ihrer Produktion. Ob Opium-Esser, Absinth-Trinker oder Kokain-Schnupfer, die Liste berühmter Konsumenten ist lang. Trauriges Beispiel für einen unter Drogen- und Alkoholeinfluss zum Täter gewordenen Schriftsteller ist William S. Burroughs. Weil er für sich und seine ebenfalls drogenabhängige Frau Joan Vollmer Geld brauchte, lud er einen Käufer nach Hause ein, um ihm ein paar Waffen zu zeigen. Außerdem anwesend: seine Frau, sein Sohn William Junior, zwei Studenten. Alle sind bereits abgefüllt mit Tequila, Whiskey, Gin, als Burroughs die Idee mit dem Wilhelm-Tell-Spiel hat. Joan stellt sich ein Whiskeyglas auf den Kopf, William schießt darauf. Kurz danach stirbt sie im Krankenhaus an der Schussverletzung.

Auch abseits von Totschlag und Drogen bewegen sich Künstler nicht selten am Rand der Legalität. Manche Inszenierer von Happenings müssen notwendig Gesetze übertreten, wenn sie ihre Botschaft unters Volk bringen wollen. Man mag lange diskutieren, wo die Kunst aufhört und das Verbrechen beginnt. Die Grenze eindeutig überschritten hat der wegen seiner Farb-, Blut- und Ausscheidungsorgien bekannte Aktionskünstler Otto Muehl, der in seiner Kunstkommune Minderjährige manipulierte, demütigte, traumatisierte, sexuell missbrauchte und mit Drogen versah, was ihm 1991 eine Verurteilung zu sieben Jahren Haft einbrachte. Auch bei manchen Musikern sind Exzesse, Gewalt und Zerstörung oder der Aufruf zu ihnen unverzichtbarer Teil ihrer Performance, so schon bei Alice Cooper, den Sex Pistols oder Marilyn Manson – wobei die provokanten Äußerungen meist der Bühnensphäre vorbehalten bleiben.

Vergehen wie Mord, Desertion oder Urkundenfälschung sind dagegen nicht künstlerspezifisch; sie kommen quer durch alle Gesellschaftsschichten vor, denn sie haben nichts mit dem Berufsstand des Dichters, Malers oder Musikers zu tun. Einige Künstler wurden nur einmal straffällig, andere stahlen serienmäßig. Auch die Schwere der Verbrechen hat nichts Spezifisches; sie reicht vom Diebstahl einiger Taschentücher bis zum brutalen Doppelmord. Künstler sind am Vorkommen verbotener Handlungen von A wie Amtsanmaßung bis Z wie Zuhälterei genauso beteiligt wie der Rest der Bevölkerung.

Psychologische Spekulationen

Was ist so anders, wenn ein Künstler Verbrechen begeht? Eine alte Frage. Gerade in Anschluss an Sigmund Freud widmeten sich Psychoanalytiker und Psychiater dem Thema „Genie, Irrsinn und Ruhm“ (so der Titel eines Buches von 1927), unter das für sie auch das Künstlerverbrechen fiel. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass über den Durchschnitt hinausragende Schöpfergenies so genannte bionegative Anteile, also Neurosen oder Psychosen, in ihrer Persönlichkeit hätten oder aber ein tragisches Schicksal, die sie besonders empfänglich und geeignet machten für den kreativen Akt. Gleichzeitig verdienstvoll und befremdlich wirkt in dem über 700 Seiten dicken Werk der Hauptteil „Pathographien“. Ob van Gogh oder Leonardo, de Sade oder Mozart – ihre Lebensläufe werden aufgrund einer erdrückenden Fülle schriftlicher Zeugnisse nach Merkmalen körperlicher und seelischer Krankheiten sowie nach kriminellen Aktivitäten durchsucht. Wie schade, dass vieles auf erfundenen Anekdoten, Selbstporträt des Malers Thomas Griffiths Wainewrightdünner Faktenbasis und bloßen Spekulationen beruht. Bei einem Autor und Maler wie Thomas Griffiths Wainewright (1794-1847), der wohl tatsächlich zwei Menschen vergiftete, schiebt man ihm gleich viele weitere Giftmorde in die Schuhe. Verurteilt wurde er freilich „nur“ wegen Urkundenfälschung zu einer Verbannung nach Tasmanien, wo er ein erschreckendes Selbstportrait von sich anfertigte.

Das Werk unterscheidet

Längst wissen wir, dass der Künstler nicht notwendig wahnsinniger ist als … sagen wir: ein Geschäftsführer oder Staatspräsident. Im Gegenteil. Viele Künstler zeichnen sich durch Sensibilität, Moralempfinden, Empathie und einen kritischen Umgang mit den Auswirkungen von Kapitalismus, Intoleranz oder Freiheitsbeschränkung aus. Aber wenn es nicht der Wahnsinn ist, nicht die psychische Krankheit – was bringt dann den Dichter zum Stehlen, den Maler zum Fälschen und den Musiker zum Morden? Das, was auch andere Menschen zum Stehlen, Fälschen oder Morden bringt. Ein plötzlicher Blackout. Geldnot. Die Überwältigung durch Hass, Gier oder Neid. Eifersucht. Egoismus. Eitelkeit.

Vor der Tat lässt sich der Künstlerverbrecher nicht vom Handwerker- oder Handelsvertreterverbrecher unterscheiden. Jedoch nach der Tat. Ob François Villon seine Ankläger verhöhnt oder ein Chanson auf den Strick macht, an dem er baumeln soll, ob Caravaggio blutige Signaturen in seinen Gemälden hinterlässt, ob sich Karl May, Hans Fallada, Albertine Sarrazin, Henri Charrière und Jean Genet literarisch mit dem Knastleben auseinandersetzen, ob Anne Perry sich zeitlebens der Schuldfrage stellt: Bei keinem dieser Künstler sind Vergehen, Prozess oder Bestrafung ohne künstlerische Bewältigung geblieben.

Autogrammpostkarte Karl May Dem Gefängnis kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Manchen macht es erst zum Künstler. So fingen Richard Savage (Totschläger), Karl May, Albertine Sarrazin, Henri Charrière, Jean Genet, Norio Nagayama, Jack Unterweger (Mörder) und Arno Funke erst hinter Gittern mit dem Schreiben an. Andere hindert es an der Kunst: Wäre Veit Stoß nicht ins Lochgefängnis gekommen, hätte er weiter an seinen Skulpturen arbeiten können. Wieder anderen bietet es – wie Hans Fallada, Albertine Sarrazin und Jean Genet – die Abgeschiedenheit, die Drogenabstinenz und den geordneten Tagesablauf, die sie zum Schreiben benötigen. Und dann gibt es Künstler, die durch den Aufenthalt in der Zelle geläutert werden, die bereuen und ihr Leben danach auf eine neue Grundlage stellen: Anne Perry, Arno Funke. Für einige Künstler gilt sogar der Satz, dass sie erst durch Verbrechen und Gefängnis zu Ruhm und Geld gelangten. Weder Albertine Sarrazin noch Henri Charrière noch Jean Genet hätten zu Beginn ihrer Karriere ohne derartige Erfahrungen etwas zu erzählen gehabt.

An dieser Stelle sollte sich Widerspruch regen: Wie, diese Leute begehen Verbrechen, nur um dann im Kittchen ihre künstlerische Ader zu entdecken und anschließend einen Haufen Kohle mit der Glorifizierung ihres Ganovenlebens zu verdienen? Dem Vorwurf waren vor allem „Gentlemanverbrecher“ wie der Erpresser Arno Funke oder Fälscher wie Elmyr de Hory, Edgar Mrugalla und Wolfgang Beltracchi ausgesetzt, aber auch der als Papillon weltberühmt gewordene Schriftsteller Henri Charrière. Man missgönnte ihnen den Promi-Glamour, denn eigentlich, so die Stammtischmeinung, hätten sie ihr restliches Leben still und bescheiden im Büßerhemd zu verbringen. Doch nicht jede Gefängnisaufzeichnung hat das Zeug zum Bestseller. Dass wir heute Hans Fallada, Albertine Sarrazin oder Norio Nagayama als Verfasser von Literatur begreifen und nicht als Verbrecher, die irgendetwas Autobiografisches niederschrieben, hat natürlich mit der künstlerischen Qualität ihrer Werke zu tun.

Umgekehrt ist man gerne bereit, den Schöpfern unvergesslicher Geschichten, unsterblicher Gemälde oder unvergänglicher Melodien ein paar Sünden zu verzeihen, ja ihre Werke strikt von ihrem Leben zu trennen. Was kümmert ein Überfall hier, eine Schlägerei dort, wenn am Ende Weltliteratur, Spitzenmusik, Meistermalerei entsteht? Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so führt er zu der Schlussfolgerung, ein Künstler sei nicht recht mit irdischen und also auch nicht mit gesetzlichen Maßstäben zu messen. Der Schein seiner Gloriole überstrahle eben jeden Makel. Doch verlangt man damit nicht auch, dass sich Justitia von diesem Licht blenden lasse?

Wir alle müssen uns fragen, ob wir bei der Beurteilung von Künstlern nicht der alten klassisch-romantischen Vorstellung vom Genie anhängen, das eben, weil es ein Genie ist, sich ungehöriger benehmen darf als der biedere Bürger, der die genialen Schöpfungen dankbar bewundernd in Empfang nimmt – und alles verzeiht.

(Alle Fotos Verfasser)

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