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 Das Phänomen Kannibalismus in Deutschland

Klaus Henning Glitza sprach mit der Kriminologin Petra Klages.

Frau Klages, als Diplom-Pädagogin und Kriminologin haben Sie in Ihrem  Fachbuch „Serienmord und Kannibalismus“ die dunkelsten Seiten menschlichen Verhaltens beleuchtet. Was bringt aus Ihrer Sicht Menschen dazu, Lust am Verspeisen von Artgenossen zu empfinden?

 

Wenn Sie von „Lust“ am Verspeisen anderer Menschen sprechen, deuten Sie eine sexuelle Komponente des Kriminologin Petra KlagesKannibalismus an. Gerade bei der Entwicklung des sexuell orientierten Kannibalismus, handelt es sich um eine Vielzahl von Prozessen und Faktoren, damit ein Mensch sich in eine derart abweichende Richtung entwickeln kann. Diese Entwicklungen setzen in der frühen Kindheit ein, es kommt zu Verknüpfungen unangemessener und unaufgearbeiteter Inhalte mit der sich entwickelnden Sexualität des Kindes. Unter Umständen kommt es auch zur Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen, das muss aber nicht sein.

Lässt sich aus Ihrer Aufarbeitung aktueller und historischer Fälle ein Erklärungsansatz ableiten, durch welche spezifischen Entwicklungen, Ereignisse  und Erfahrungen aus einem Menschen ein Kannibale wird?

Es gibt durchaus bestimmte Parallelen zwischen den unterschiedlichen Fällen. In der Regel liegen Traumatisierungen, also Verletzungen der kindlichen Psyche beim späteren Kannibalen vor. Es handelt sich beispielsweise um extreme Erfahrungen mit Gewalt, auch sexueller Gewalt, Drogen, Kriminalität und häufig ein pathologisches Familienumfeld. Auch starke Verlusterfahrungen – wie der Tod eines Elternteils – können eine nicht unerhebliche Rolle spielen.

Diese Ereignisse wirken begünstigend auf die Entwicklung zu einem Intensivtäter und ggf. auch zu einem Kannibalen. Schwerste Gewalterfahrungen, insbesondere in der Kindheit und Jugend, prägen die Psyche jedes Menschen nachhaltig. Nicht aus jedem Menschen, der extreme Gewalterfahrungen macht, wird später ein Täter. Wenn aber bestimmte Faktoren und Prozesse zusammenkommen, erhöht sich die Gefahr, dass diese Menschen sich in einer kaum vorstellbaren oder für uns nachvollziehbaren Weise entwickeln und zu seriellen Mördern oder grausam agierenden Kannibalen werden.

Gleich auf den ersten Seiten Ihres Buches findet sich eine Textpassage, die den Opfern gewidmet ist. Darin schreiben Sie: „Die folgenden Erzählungen sind eine Aufforderung an die Menschen – eine Aufforderung hinzusehen, einzugreifen und zu helfen. So kann Schlimmes – möglicherweise sogar einige der furchtbarsten Verbrechen – verhindert werden.“ Wie ist Erkennen, Eingreifen und Hilfe konkret möglich?

Der Täter – ein Serienmörder oder auch Kannibale – wacht nicht eines Morgens auf und ist plötzlich ein Mörder oder verspürt das Bedürfnis, einen anderen Menschen zu verzehren. Derartige Entwicklungen zeichnen sich frühzeitig ab. Das bedeutet, dass es sichtbar und spürbar ist, wenn ein Kind beginnt, sich in eine gefährliche Richtung zu entwickeln. Diese Entwicklungen können „durchbrochen“ werden. Es bedarf aufmerksamer und aufgeklärter Menschen im Umfeld dieses Kindes, dann kann eine Entwicklung gestoppt oder schlicht verändert werden.

Diese Kinder ziehen sich häufig von der Umwelt zurück, sie verändern abrupt ihr Verhalten, werden zu Bettnässern, erfinden fantastische Lügengeschichten, legen Brände oder quälen sogar Tiere. Die Tierquälerei ist als höchstes Warnsignal zu werten, da Tiere die Funktion von Stellvertreteropfern für spätere menschliche Opfer sein können. Tiere leiden wie wir, bluten und sterben wie wir. Es handelt sich sozusagen um optimale „Probeopfer“. Insbesondere sexuell motivierte Serienmörder und Sexualstraftäter „proben“ überproportional häufig an Tieren; auch bei Kannibalen ist dieses Verhalten beobachtet worden.

Im Fall Detlev G. handelt es sich beim mutmaßlichen Täter und dem Opfer um zwei bürgerliche Existenzen, die vorher in keiner Form strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Auch Armin Meiwes[1] war kein tumber Außenseiter der Gesellschaft, sondern wie Sie selbst bei dessen  jahrelanger Betreuung festgestellt haben, durchaus gebildet und kultiviert. Erschwert das nicht entscheidend die Möglichkeiten, kannibalistisch orientierte Täter und Tatverdächtige im Erwachsenenalter frühzeitig zu erkennen?

Devianz und Delinquenz stehen leider niemandem auf die Stirn geschrieben. Täter entstammen unterschiedlichen Bildungsschichten und sind unterschiedlich intelligent. Desto intelligenter ein Täter ist, desto schwieriger ist auch die Ermittlungsarbeit. Im Falle von Armin Meiwes war es sicherlich so, dass u. a. das damals fehlende Unrechtsbewusstsein erheblich zur Aufklärung beigetragen hat. Mit Armin Meiwes hätte man das Verschwinden bzw. den Tod von Bernd B. und einer kannibalistischen Handlung kaum in Verbindung bringen können. 

Es kursieren die unterschiedlichsten Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland der sogenannten kannibalistischen Szene angehören. Wie seriös ist solches Material? Und gibt es von Ihrer Seite eigene Schätzungen?

Das ist davon abhängig, wie Sie Kannibalismus definieren. Wenn Sie ebenfalls die Menschen dazu zählen, die lediglich und ausschließlich geringe kannibalistische Phantasien haben und diese – wenn überhaupt – in entsprechenden Foren ausleben, oder jene, die ihre Phantasien im Zuge von verhältnismäßig harmlosen sado - masochistischen Praktiken ausüben, ist die Anzahl kaum realistisch zu schätzen. Hier könnte man nur grob von einigen Tausend Menschen ausgehen, die allerdings – wie erwähnt – keine Gefahr darstellen. 

Wenn Sie Menschen meinen, die über das eben Beschriebene hinaus ihre Phantasien auf andere Art und Weise ausleben möchten bzw. hier einen Leidensdruck und eine Art „inneren Zwang“ erleben und das Ableben oder die Verstümmelung (Amputation) anderer Menschen billigend in Kauf nehmen, kann man sicher von wenigen hundert Personen ausgehen. Die Gefährlichkeit dürfte hier allerdings auch erheblich variieren. Von realistischen Schätzungen sind wir aber insgesamt noch weit entfernt.

Im jüngsten Fall Detlev G. sind zwar kannibalistische Handlungen nicht sicher nachzuweisen, wohl aber die Betätigung des Tatverdächtigen im einschlägigen Forum „Zambian Meat“. Wie bewerten Sie Foren dieser Art, die salopp als „Plauderstuben für Menschenfresser“ bezeichnet werden, und in denen  Täter und Opfer in Kontakt treten können?

Bezüglich der Fälle des Detlev G. und Armin Meiwes gibt es einige Parallelen. Die Aktivitäten in dem Forum „Zambian Meat“ ist nur eine.

Diese Foren sind mindestens „ein zweischneidiges Schwert“. Einerseits bieten sie den Akteuren die Möglichkeit, ihre Phantasien „harmlos“ abzuarbeiten, ihre sexuellen und zum Teil auch emotionalen Bedürfnisse auf eine Art zu befriedigen, die niemandem schadet; andererseits besteht ebenfalls die Gefahr, dass sich in diesen Foren erst das Bedürfnis nach „mehr“ entwickelt.

Da wir gerade in der heutigen Zeit durch die Medien mit stark kannibalistisch orientierten Inhalten – wie z. B. Zombiefilmen, oder Serien wie „The Walking Dead“ massiv konfrontiert werden, scheint es fast unsinnig, sich über die Gefährlichkeit der „Plauderstuben für Menschenfresser“ Gedanken zu machen. Wenn wir hier ansetzen, müssten wir enorm viele mediale Themen, die Gewaltdarstellungen und sexualisierte Inhalte thematisieren, quasi neu überdenken.

Sie sprechen sich ausdrücklich für die Beibehaltung der Sicherungsverwahrung für stark rückfallgefährdete Täter aus. Ist sie das Mittel der Wahl, um die Gesellschaft vor stark rückfallgefährdeten Intensivtätern zu schützen?

Sicherlich nicht. Aber unserer Gesellschaft stehen nur knappe Ressourcen zur Verfügung, wenigstens die sollten genutzt werden, um die Menschen vor extrem gefährlichen Tätern zu schützen. Aufklärung, Therapien, frühzeitige Hilfen usw. wären in jedem Falle das bessere Mittel. Allerdings funktioniert das nur langfristig und nachhaltig. Von Aufklärung kann leider kaum die Rede sein, therapeutische Hilfen sind rar gesät und die Grenzen der Therapien und Therapeuten spielen ebenfalls eine Rolle. Ein besonders relevantes Defizit findet sich im Bereich der gesellschaftlichen Aufklärung und – auch dieser Punkt sollte nicht vergessen werden – im Bereich der mangelnden Zivilcourage bzw. der Mentalität des Wegschauens.

Einen Straftatbestand Kannibalismus gibt es im deutschen Recht nicht, das heißt, der Verzehr von Menschenfleisch ist nicht explizit verboten. Die Strafverfolger müssen deshalb zu „Bypasslösungen“ wie „Mord zur Befriedigung des Sexualtriebes“, „Tötung auf Verlangen“ oder „Störung der Totenruhe“ greifen. Ist das noch zeitgemäß?

Es kann derzeit kaum davon ausgegangen werden, dass sich derartige Straftaten plötzlich massiv erhöhen. Von daher sind die momentanen Regelungen wenigstens vorläufig ausreichend. Sollte sich abzeichnen, dass Kannibalismus als Straftatbestand häufiger – möglicherweise auch durch die Überflutung bestimmter medialer Darstellungen – in Erscheinung tritt, muss gegebenenfalls. „nachgebessert“ werden. Das wird sich zeigen.

Frau Klages, vielen Dank für das Interview.

 

Zur Person Petra Klages

Die schlimmsten Schattenseiten im menschlichen Miteinander, Gewaltverbrechen und Grausamkeiten, lernte Petra Klages bereits in ihrem ersten Leben kennen. Schon als Schülerin musste sie miterleben, wie Freunde zu Opfern von kriminellen Delikten wurden. Besonders prägend war das Schicksal einer Jugendfreundin, die von einem Serientäter mit äußerster Brutalität vergewaltigt worden war, und unendlich unter den psychischen Folgen litt. Später, als examinierte Krankenschwester in der Psychiatrie, wurde sie auf schockierende Weise mit den „unglaublichen Grausamkeiten“ konfrontiert, „die den Patienten angetan wurden“. Vor diesen Hintergründen stellten sich frühzeitig zwei Fragen: „Weshalb tun Menschen anderen so etwas an?“ und „Welche konkreten Möglichkeiten der Prävention sind denkbar?“. Petra Klages wurde bewusst: die Antworten würden sie erst auf der Basis eines breiten akademischem Wissens erschließen können.

Also studierte sie. Die 1964 in Achim-Bierden geborene Frau schreibt sich an der Universität  Bremen für dieDas neueste Buch von Petra Klages, erschienen im VSW-Verlag, ISBN: 978-3-85365-249-7, Euro 19,90 Fächer Diplompädagogik und Psychologie ein. Doch dabei belässt es die  Diplompädagogin nicht. Sie bildet sich zur Kommunikationstrainerin und Paar-Familien-Therapeutin weiter und studiert in Hamburg Kriminologie. Außerdem befasst sie sich eingehend mit den Profilingmethoden des FBI.

Die Wissenschaftlerin forscht nicht nur in der grauen Theorie nach den Ursachenforschungen schwerer delinquenter Entwicklung von Intensivtätern, sondern auch in der Praxis. Sie arbeitet mit Tätern wie Armin Meiwes, dem „Kannibalen von Rotenburg“, und Frank Gust, dem „Rhein-Ruhr-Ripper“. Aus ihren Aussagen leitete sie wichtige Erkenntnisse über die Wege zur Kriminalität und  deren Vorstufen ab. Und sie benannte  Symptome, die oftmals übersehen oder auch verdrängt werden. Selbst sagt Petra Klages dazu: „Wir werden als Kinder sozialisiert, konditioniert und geprägt. Das alles geschieht nicht von alleine. Wenn Falsches geschieht, könnten Erwachsene oftmals helfen. Doch häufig sind Erwachsene diejenigen, die schlechte ‚Programmierungen‘ vornehmen – ob bewusst oder unbewusst.”

Petra Klages publiziert in vielfältiger Weise. Zu ihren Aufsehen erregenden Titeln zählt „‘Brieffreundschaft‘ mit einem Serienmörder“. Ein Werk, das nicht auf kalt analysierende Außenansichten, sondern auf die Aussagen des Delinquenten selbst fokussiert ist. Hier lerne „der Leser den Täter so kennen, wie er ihn aufgrund von Boulevardzeitungsberichten so nicht erwarten würde“, rezensierte der Kriminalbiologe Mark Benecke.

Jüngste Veröffentlichung von Petra Klages ist der Titel „Serienmord und Kannibalismus in Deutschland“. Die Pädagogin und Kriminologin ermöglicht in diesem wissenschaftlich fundierten, verständlich geschriebenen Buch einen tiefen Blick in verirrte Menschenseelen. Sie zeigt jene Abgründe auf, die sich nicht an abseitigen Rändern, sondern zum Teil mitten in der Gesellschaft auftun. Die Autorin beschreibt Serienmord und Kannibalismus als ein Phänomen, das sich allzu oft bereits im Vorfeld vor aller Augen präsentiert, ohne angemessen wahrgenommen und gewichtet zu werden.

 

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Quellen

[1] Armin Meiwes wurde  als „Kannibale von Rotenburg“ (Hessen) bekannt. Über das Internet suchte er tötungswillige Opfer.