Geisterrad in Berlin (2009)
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Getötete Radfahrer in Berlin – kein Ende des Alptraums in Sicht

Von Benno Kirsch

Sie sind weiß, offenbar fahruntüchtig und sie stehen stumm an der Straßenkreuzung: „Geisterräder“, die aufgestellt wurden, um an einen bei einem Verkehrsunfall getöteten Radfahrer zu gedenken. Die Idee ist in den Nuller-Jahren in den USA aufgekommen und bald nach Deutschland gelangt.
„Ghost bikes“ sind stumme Zeugen eines schrecklichen Geschehens, die ausdrücklich keinen Schuldvorwurf vermitteln sollen. 19 Mal ist im Jahr 2020 in Berlin ein Geisterrad aufgestellt worden – damit ist der „Rekord“ aus dem Jahr 2016 eingestellt, als 17 Tote zu beklagen waren.

Beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) Berlin versucht man nach jedem tödlichen Unfall, das Ereignis zu rekonstruieren – was in der Regel nur ausschnitthaft gelingt. Doch was man in Erfahrung bringen kann, ist deprimierend genug. Ein Auszug aus der Horrorliste 2020: „Eine 30-jährige Radfahrerin fährt am Paracelsus-Bad die Roedernallee entlang in Richtung Teichstraße. Als sie die Lindauer Allee quert, wird sie vom Sattelzug eines 62-jährigen Lkw-Fahrers erfasst, der von der Roedernallee aus in die Lindauer Allee nach rechts abbiegen will. Die Radfahrerin erleidet dadurch tödliche Verletzungen.“

Besonders bedrückend war der Unfall vom 31. Januar. Hier wollte eine 79-Jährige an einer Kreuzung geradeaus fahren. Doch der Lkw-Fahrer wollte rechts abbiegen, um auf die Autobahn zu gelangen. Er schwenkte ein, ohne die vorfahrtsberechtigte Radfahrerin zu beachten – und überrollte die alte Dame. Doch nicht nur der Unfall an sich war schrecklich, sondern auch der begründete Verdacht, dass er vermeidbar gewesen wäre. Denn er geschah an derselben Stelle, nämlich dem Übergang vom Radweg auf die Fahrradfurt der Kreuzung, an dem es schon 2013 und 2018 schwere Unfälle nach demselben Muster gegeben hatte.

Damals hatte der ADFC die Berliner Verkehrsverwaltung auf die Gefahr hingewiesen, die durch die an dieser Stelle mangelhaften Sichtbeziehungen – Radfahrer werden durch eine Baumreihe vom Kraftverkehr verdeckt, bevor sie kurz vor der Kreuzung wieder herangeführt werden – für die Verkehrssicherheit ausgeht. Doch es geschah nichts. „Muss wirklich erst ein Mensch sterben, damit eine Gefahrenstelle entschärft wird“, fragte seinerzeit Susanne Grittner vom ADFC Berlin. „Zwei Radfahrerinnen kamen an dieser Kreuzung knapp mit dem Leben davon. Wir haben bei der Verwaltung explizit Alarm geschlagen, denn der nächste Unfall war nur eine Frage der Zeit. Der Tod dieser Frau hätte verhindert werden müssen.“

Es ist nicht der einzige Fall, in dem die notorisch überforderte Berliner Verwaltung trotz ausdrücklicher Hinweise untätig blieb oder quälend langsam reagiert. Am 13. Juni 2018 war ein 8-jähriger Junge an einer Kreuzung tödlich verunglückt – auch er wurde von einem rechtsabbiegenden Lkw überrollt. Man machte die Verwaltung auf die Gefahrenstelle aufmerksam und unterbreitete Vorschläge, wie die Kreuzung mit geringem Aufwand sicherer zu machen sei. Doch als man ein Jahr später zu einer Gedenkveranstaltung an der Unfallstelle zusammenkam, hatte sich nichts geändert.

Für die Fahrrad-Lobbyisten ist das Grundproblem bei der Konfrontation zwischen Radfahrer und Kraftfahrer – insbesondere Lkw – eindeutig. „Was für den Fahrer eines Lkw eine kurze Unaufmerksamkeit ist, bringt Radfahrende immer wieder um ihr Leben oder ihre Gesundheit. Seit Jahrzehnten haben Abbiegeunfälle viele Tote und Verletzte zur Folge. Fahrzeuge und Infrastruktur könnten längst sicherer sein, doch die Politik schaut zu“, kritisiert Daniel Pepper, im Landesvorstand des ADFC Berlin zuständig für Verkehrssicherheit. Über 600 schwerverletzte Radfahrer landen jedes Jahr in Berlin in der Notaufnahme, weil sie unfreiwilligen Kontakt mit Lkws, Pkws oder Lieferwagen hatten.

Die offizielle Statistik der Polizei vermerkt 18 getötete Radfahrer für das Jahr 2020. Es gibt bei dem Unfallgeschehen drei bemerkenswerte Aspekte. Erstens waren zehn der Opfer über 60 Jahre alt, sechs über 70 und immer noch vier über 80. Zweitens waren bei der Hälfte der Unfälle Lkw beteiligt, die die Radfahrer entweder beim Rechtsabbiegen niederfuhren oder sie beim Überholen erfassten und zu Fall brachten. Drittes ereigneten sich fünf tödliche Unfälle auf Radverkehrsanlagen, also Radwegen, Radstreifen oder Radwegefurten. Pepper weist auf einen zusätzlichen Faktor hin: Er hat beobachtet, dass die Mehrzahl der Lkw-Opfer weiblich ist.

Für den ADFC Berlin ist die anhaltend hohe Beteiligung von Lkws bei tödlichen Verkehrsunfällen ein Skandal. Man weist darauf hin, dass alle Lkws mit einer ausreichenden Zahl von Spiegeln ausgestattet sind, sodass jeder Lkw-Fahrer eigentlich den vollen Überblick über das Geschehen an seinem Fahrzeug hat. Den vielzitierten „toten Winkel“ gibt es nicht – und wenn, dann müsste das Fahrzeug sofort aus dem Verkehr gezogen werden, weil der Halter gegen die einschlägigen Vorschriften verstoßen würde. Wenn Lkw-Fahrer also vor Gericht landen und dort angeben, sie hätten den Radfahrer nicht gesehen, muss das andere Ursachen haben.

Pepper hat für dieses Phänomen eine Erklärung: Es ist ein Mix aus fehlerhafter Ausbildung, systemischer Überforderung und Faulheit: „Erstens achten Lkw-Fahrer beim Abbiegen im Wesentlichen auf die Schleppkurve und nicht auf das, was direkt an der Fahrerkabine vor sich geht. Zweitens sind Lkw-Fahrer zur Informationsreduktion gezwungen und blenden daher unbewusst aus, was jenseits der Bordsteinkante passiert. Drittens besteht der Verdacht, dass die Fahrer beim Halt an einer roten Ampel eine Mikropause einlegen und beim Wiederanfahren auf andere Dinge als den Radverkehr achten.“

Die Ausstattung der Lkws mit Spiegeln und ihre korrekte Einstellung durch die Fahrer ist daher für den ADFC Berlin der erste Ansatzpunkt zur Senkung der Unfallzahlen. Die Polizei müsse stärker kontrollieren, die Fahrer müssten durch die Einrichtung von Spiegeleinstellplätzen die Gelegenheit haben, ihr Fahrzeug verkehrssicher zu machen. Beide, Polizeibeamte und Fahrer, müssten für ihre Aufgabe regelmäßig geschult werden. Dass die Lkw-Fahrer die überrollten Radfahrer nicht sehen konnten, hält Pepper für unwahrscheinlich. In 85 Prozent aller Unfälle, sagt er, habe es keine Sichtbehinderung gegeben.

Der Fahrradclub fordert schon seit langem, dass alle Lkw mit einem Abbiege- und Bremsassistent ausgerüstet werden. Dieses würde das Fahrzeug bei der Gefahr der Kollision mit einem Fußgänger oder Radfahrer automatisch bremsen. Internationale Erfahrungen hätten gezeigt, dass eine reine Signalisierung an den Fahrer nicht ausreiche. Eine Gefährdung entstehe dadurch nicht, wie der ADFC-Bundesverband in einer Broschüre betont. „Da solche Unfälle sich bei geringen Geschwindigkeiten ereignen, oft sogar beim Anfahren, ist ein automatisches Bremsen bei Gefährdung von ungeschützten Verkehrsteilnehmern vertretbar.“

Inzwischen hat auch die Politik im Bund erkannt, dass etwas geschehen muss. 2022 muss deshalb nach und nach jeder Lkw mit einem Abbiegeassistenten ausgestattet werden. Der allerdings ist nicht verpflichtend selbstbremsend, sondern gibt nur ein Signal, auf das der Fahrer reagieren muss.

Auch das Land Berlin will die Unfall- und die Todeszahlen senken. Allerdings bedurfte es dazu offensichtlich der Initiative „Volksentscheid Fahrrad“, die 2015 gegründet wurde, um der 2013 verabschiedeten Berliner Verkehrsstrategie Beine zu machen. Dazu initiierte sie einen Volksentscheid, mit dem ein „Mobilitätsgesetz“ auf den Weg gebracht werden sollte, dass für die angestrebte Verkehrswende einen gesetzlichen Rahmen schaffen sollte – erfolgreich, es wurde am 28. Juni 2018 vom Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedet. Während der Volksentscheid das Verkehrsgeschehen in Berlin aus Radfahrerperspektive betrachtete und ausdrücklich auf die Förderung des Radverkehrs abzielte, erhebt das Gesetz den Anspruch, alle Verkehrsarten zu berücksichtigen.

Erster Pop-up-Radweg in Berlin am Halleschen Ufer
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Das Ziel des Mobilitätsgesetzes ist edel, denn es folgt dem Leitgedanken, den Verkehr sicherer zu machen und die Unfallopferzahlen auf Null zu senken. Es schafft aber nach eigenem Anspruch vor allem „die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine in allen Teilen Berlins gleichwertige, an den Mobilitätsbedürfnissen von Stadt und Umland ausgerichtete, individuelle Lebensgestaltung, unabhängig von Alter, Geschlecht, Einkommen und persönlichen Mobilitätsbeeinträchtigungen sowie von Lebenssituation, Herkunft oder individueller Verkehrsmittelverfügbarkeit.“ Das bedeutet auch: Reduktion des motorisieren Individualverkehrs.

Doch Papier ist geduldig. Auch zwei Jahre nach Verkündung des Mobilitätsgesetzes ist die Unzufriedenheit von Radfahrern und denen, die der Stadt eine neue Mobilität verpassen wollen, spürbar. Stefan Lehmkühler von „Changing Cities“, indem die Initiative aufgegangen ist: „Das Mobilitätsgesetz ist da. Das heißt aber nicht, dass es auch umgesetzt wird.“ Der Senat wolle erst neue Verwaltungen aufbauen, bevor er sich an die Umsetzung mache, erklärt er. Als Bremsschuh hätten sich die Verkehrsplaner in den Verwaltungen erwiesen, die immer noch den Kraftverkehr als Leitbild hätten. Man habe zwar die drängenden Probleme erkannt, allen voran die Verkehrssenatorin Regine Günther. Doch ihr Einfluss auf den Behördenapparat sei begrenzt. Das und die noch nicht vorhandenen Verwaltungsvorschriften sorgten dafür, dass Berlin im Vergleich mit anderen europäischen Städten in der Entwicklung weit hinterherhinke.

Während der Corona-Krise hat sich die Dynamik, mit der in Berlin über die Zukunft des Verkehrs und die Aufteilung der Fläche diskutiert wird, deutlich zugespitzt und erreichte mit der Einrichtung von „Pop-up-Radwegen“ einen neuen Höhepunkt, also mit dem spontanen, schnellen Bau von Radwegen zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs. Die sind inzwischen gerichtlich legalisiert und werden nicht einmal von der CDU in Gänze abgelehnt. Trotz alledem scheint sich die grundsätzlich vorhandene Bereitschaft zur Förderung des Radverkehrs nicht auf das zentrale Problem auszuwirken. Am 18. Januar 2021 wurde schon wieder ein Radfahrer von einem (nach links) abbiegenden Lkw schwer verletzt.

Eigentlich hat Berlin mit seinen breiten Straßen die besten Voraussetzungen für ein gedeihliches Mit- und Nebeneinander verschiedener Verkehrsarten. Doch ganz allgemein ist die Stimmung auf den Straßen schlecht, die Akzeptanz von Verkehrsregeln gering – bei Fußgängern, Radfahrern und Kraftfahrern gleichermaßen. Unvergessen ist der Horrorcrash am 6. September 2019 in der Invalidenstraße: Ein SUV-Fahrer war der kurze Rückstau an einer roten Ampel zu lang. Er scherte auf die Gegenfahrbahn aus und beschleunigte, um nach rund hundert Metern links abzubiegen. Offensichtlich erlitt er dabei einen epileptischen Anfall, und der Wagen raste auf gerader Linie in eine Fußgängergruppe auf dem Bürgersteig. Vier Menschen starben.

 

Über den Autor
Benno Kirsch
Benno Kirsch
Benno Kirsch ist Journalist und lebt in Berlin. Er verfasste verschiedene Publikationen zu Polizei, Sicherheit und Staatssicherheit. 2019 veröffentlichte er im Münchner Allitera-Verlag seine überarbeitete Biografie des Stasi-Opfers Walter Linse.
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