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Polizeikräfte waren nach dem ersten Notruf über eine Schießerei in der Wiener Innenstadt rasch vor Ort
© Gerd Pachauer

TERRORANSCHLAG IN WIEN

Schützen, helfen, koordinieren

Von Gernot Burkert/Luis Hallwirth/Christian Preischl/Gregor Wenda

Schüsse fallen, Leute geraten in Panik und flüchten, 133 wird gerufen. Um Menschen zu schützen, haben Polizistinnen und Polizisten ohne zu zögern ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt.
Ein lauer Allerseelentag neigt sich dem Ende zu. Die Menschen in der Wiener Innenstadt nützen den letzten Abend, bevor Restaurants und Lokale, bedingt durch die Corona-Pandemie, schließen müssen. Diesen Zeitpunkt des gesellschaftlichen Beisammenseins und der Unbeschwertheit nützte ein Attentäter, der mit der Terror­organisation „Islamischer Staat“ sympathisierte, um seiner Abneigung gegen die österreichische Gesellschaft freien Lauf zu lassen. Das blutige Resultat des Hasses des jungen Mannes sind vier Tote und 23 teils schwer Verletzte. Unter den Verletzten befindet sich ein junger Polizist, der sich dem Attentäter in den Weg stellte und angeschossen wurde.

Panik, Chaos, Fehlinformationen

Am Abend des 2. November 2020, wenige Sekunden nach 20 Uhr, wählte ein Passant den Polizeinotruf und wurde in die Landesleitzentrale (LLZ) der Landespolizeidirektion Wien verbunden. Der Anrufer meldete einen Schusswechsel im Bermudadreieck. Auf Nachfrage des Notrufbeamten, ob er die Schüsse gehört oder einen Schützen gesehen habe, entgegnete der Anrufer: „Wir haben die Schüsse gesehen und gehört. Und wir haben gesehen, dass jemand weggelaufen ist.“ Das war der erste von rund 2.000 weiteren Notrufen, die im Sekundentakt, zwischen 20 Uhr und Mitternacht, die Landesleitzentrale am Wiener Schottenring erreichten. „Das Schwierige in einer derartigen Situation ist, Anrufe mit wesentlichen Hinweisen von Anrufen mit Falschmeldungen oder mit verzerrten Wahrnehmungen von in Panik geratenen Menschen auseinanderzuhalten“, sagt Oberst Peter Seidl, Leiter der Landesleitzentrale Wien. „Es hat Anrufer gegeben, die meldeten Täter mit Langwaffen, die sich in der U3 befinden würden.

Die Anrufer und Zeugen haben teilweise, bedingt durch Chaos und Panik, den Attentäter von bewaffneten Spezialkräften der Polizei nicht unterscheiden können. Deshalb war anfangs auch nicht klar, ob es sich um einen Einzeltäter oder um mehrere Täter gehandelt hat. Darüber hinaus langen in einer solchen Ausnahmesituation viele Meldungen über Verletzte und Funksprüche der am Einsatz beteiligten Kollegen bei uns ein. Die größte Herausforderung besteht darin, inmitten dieser Informationsflut nicht den Überblick zu verlieren. Das ist enorm wichtig, um die Situation richtig einschätzen und weitere Schritte planen zu können“, gibt Seidl zu bedenken.

 Notruf- und Einsatzdisponenten Thomas F. und Christian H. koordinierten zusammen mit Kollegen den Einsatz in der LLZ
© LPD Wien

Checklisten

Für diese „heiße Phase“ wurden eigene Checklisten erstellt. Checklisten mit Handlungsanweisungen, die den Notrufbeamten und Funksprechern helfen sollen, die Übersicht in derart dynamischen und stressigen Situationen zu behalten. „Wir haben die Checklisten, die den Einsatzbeamten und auch den Kommandanten als Eselsbrücken in besonders angespannten Situationen dienen sollen, nach dem Anschlag auf den Pariser Konzertsaal Bataclan erstellt. Damit wir vorbereitet sind, sollte es in Wien zu einem Ernstfall kommen“, erläutert Seidl.

Die Zusammenarbeit der Notrufbeamten und Funksprecher, die die unzähligen Hinweise von aufgeregten Zeugen, und die zahlreichen Meldungen der im Einsatz befindlichen Polizisten zusammengefasst und in komprimierter, koordinierter Form an weitere, zum Tatort eilende Einsatzkräfte, weitergegeben haben, hat hervorragend funktioniert. „Neun Minuten, nachdem der erste Funkspruch mit dem Hinweis, dass im ersten Bezirk Schüsse gefallen sind, abgesetzt worden war, meldete die Streife Sektor 1, eine Streifenbesatzung der Spezialeinheit WEGA, dass der Täter neutralisiert worden sei“, berichtet Seidl.

Psychische und physische Belastung

Der Einsatz der beiden Notruf- und Einsatzdisponenten, die von Anfang an am Einsatz beteiligt waren, dauerte an diesem Tag 12 Stunden – 12 Stunden ohne Pause, die den Polizisten vollste Konzentration abverlangten. „Schüsse werden tagtäglich am Notruf gemeldet – es handelt sich meistens um Knallkörper oder um Falschmeldungen. Deshalb sind wir ganz zu Beginn von einer regulären Gefahrenerforschung ausgegangen. Als sich aber dann sekündlich die Meldungen über Schüsse wiederholten, war uns schnell klar, dass wir uns in Richtung Ausnahmezustand bewegen“, schildert Revierinspektor Christian H., Notruf- und Einsatzdisponent. Die erfolgreiche und effiziente Einsatzabwicklung in dieser Ausnahmesituation ist auf das gut eingespielte Zusammenwirken verschiedener Akteure zurückzuführen, vergleichbar mit den Rädchen in einem Uhrwerk. „Vor allem das ruhige und besonnene Vorgehen des polizeilichen Einsatzkommandanten vor Ort, in der roten Zone, hat uns in der Funkstelle extrem dabei geholfen, diese unübersichtliche Situation zu meistern“, fasst der Revierinspektor zusammen.

Einsatzkoordinierung und Zusammenarbeit

Bei Einsätzen mit höchster Priorität spielt die koordinierende Arbeit verschiedener Einsatzstäbe eine bedeutende Rolle. Der polizeiliche Einsatzstab „DELTA“ wurde in der Landespolizeidirektion am Schottenring eingerichtet. Neben der Verständigung polizeilicher Spezial- und Sondereinheiten wie des Einsatzkommandos Cobra/Direktion für Spezialeinheiten (DSE), der Hubschrauberstaffel der Flugpolizei oder des Entschärfungsdienstes fallen viele weitere Aufgaben in die Kompetenz des Stabes. Dazu zählen die Bewertung der eingehenden Berichte zur Erstellung eines ersten Lagebildes, die Bestimmung eines polizeilichen Kommandanten, der das Einsatzgeschehen vor Ort leitet, die Festlegung einer Kommandozentrale vor Ort, die Festlegung von Funkkanälen, um eine geordnete Kommunikation der zahlreichen Einsatzkräfte gewährleisten zu können, die Einrichtung von Sanitätsstellen, gemeinsam mit der Rettung, die Verständigung und Absprache mit den Verkehrsbetrieben, mit dem Magistrat der Stadt Wien und dem Gesundheitsverbund.

„Bei derartigen Einsätzen sind neben der Neutralisierung des oder der Attentäter eine Reihe weiterer Umstände zu berücksichtigen. Man denke an die Versorgung von Verletzten, die Evakuierung von Menschen aus Gefahrenbereichen, die Regelung des Verkehrs, die Errichtung eines Verkehrssperrkreises und Blaulichtkorridors, damit Rettungswägen ohne Verkehrsbehinderungen die Spitäler anfahren können, der Schutz von diplomatischen Vertretungen, internationalen Organisationen oder Einrichtungen der kritischen Infrastruktur. Darüber hinaus geht das Leben in einer Großstadt auch während eines Attentats weiter“, schildert Oberst Peter Seidl.

Rote Zone

Manfred Ihle errichtete eine Einsatzzentrale in einem Lokal
© Alexander Tuma
Der Kommandant der Bereitschaftseinheit (BE), Oberst Manfred Ihle BA MA, übernahm am Abend des 2. November vorerst das Einsatzkommando vor Ort – im Brennpunkt. „Ich bin unmittelbar, nachdem der Terrorist gestoppt worden war, am Morzinplatz eingetroffen. Zu diesem Zeitpunkt war die Lage absolut unklar. Ich habe mich in Begleitung zweier Kollegen zu den Einsatzkräften der WEGA vorgearbeitet. Diese haben den am Boden liegenden Terroristen mit ihren Sturmgewehren gesichert. Ich bin von dort in Richtung Ruprechtsplatz weitermarschiert, wo sich Tote und Verletzte befunden haben. Unterwegs begegnete ich mehreren Gruppen der Bereitschaftseinheit, Sektorkräften der WEGA, Cobra-Beamten und Bezirkskräften.

Zu diesem Zeitpunkt wurden über Funk Meldungen über angebliche weitere Schüsse an verschiedenen anderen Orten durchgegeben. Ich musste mir schnellstmöglich ein persönliches Bild von der Situation machen. Nur so war ich in der Lage, weitere Entscheidungen zu treffen“, schildert Ihle die Anfangsphase. Der Kommandant eilte weiter bis zum Hohen Markt. „Ich hatte die Absicht, am Hohen Markt, gemeinsam mit Hilfskräften der Rettung, eine Sanitäts-Hilfsstelle zu errichten. Um eine sichere Versorgung von Verletzten zu ermöglichen, die in vertretbarer Nähe zu den Tatorten liegt, gut erreichbar und abzusichern ist, ausreichend Raum bietet und eine getrennte Zu- und Abfahrt ermöglicht“, erläutert Ihle. Nach einer Gefahrenprognose und sorgfältiger Beurteilung der Lage, wurde die Sanitätsstelle dann aber am Franz-Josefs-Kai errichtet.

Kommandostruktur vor Ort

Zur Bewältigung der Situation war die Errichtung einer Einsatzzentrale vor Ort unumgänglich – eine mobile Einsatzzentrale (MEZ) stand dem Kommandanten zu diesem Zeitpunkt nicht zur Verfügung. „Eine mobile Einsatzzentrale wäre in der roten Zone nicht zielführend gewesen. Darum habe ich, um den gefährlichen Angriff zu beenden, und zur ersten allgemeinen Hilfeleistung, ein geeignetes Lokal in Anspruch nehmen müssen“, führt Ihle aus.

Das Sicherheitspolizeigesetz (SPG) räumt Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Befugnis ein, fremde Sachen in Anspruch zu nehmen, wenn deren Gebrauch zur Abwehr eines gefährlichen Angriffes oder für die Erfüllung der ersten allgemeinen Hilfeleistungspflicht unerlässlich ist. „Ich habe ein Café ausgewählt und dem Inhaber den Ernst der Lage geschildert. Gegen 22 Uhr haben wir den vorderen Bereich in eine Einsatzzentrale umfunktioniert. Es sind Führungsmittel gebracht und Skizzen erstellt worden, wir haben Ladestationen für die Funkgeräte eingerichtet und Einsatzbesprechungen abgehalten“, erklärt Ihle die notwendigen Maßnahmen.

Da nun eine Einsatzzentrale zur Verfügung stand, war es dem Einsatzkommandanten vor Ort möglich, den Einsatz zu strukturieren – weg von der Orientierungsphase hin zur organisierten und geordneten Phase. Dazu wurden Einsatzabschnitte gebildet. „Der stellvertretende Stadtpolizeikommandant des ersten Bezirks, Oberstleutnant Alexander Schinnerl, unterstützte mich in der Zentrale. Er hat die Stabsleitung vor Ort übernommen und war in ständiger Verbindung mit den Bezirkskräften, seinem Stadtpolizeikommandanten und mit der Sicherheitsbehörde – dem Stadthauptmann. Die Zusammenarbeit mit Einsatzorganisationen, Verkehrsbetrieben, der Stadt Wien aber auch mit Veranstaltern ist enorm wichtig – nur so kann ein derart komplexer Einsatz erfolgreich abgewickelt werden.“

Am Abend des 2. November fanden auch noch zahlreiche Veranstaltungen in der Wiener Innenstadt statt, beispielsweise in der Staatsoper mit rund 1.000 Besuchern. Die Gäste der Veranstaltungen wurden unter Polizeischutz aus den Gebäuden eskortiert – die Gefahr möglicher weiterer Attentate oder Angriffe stand im Raum. „Ich habe, wahrscheinlich eher unbewusst als bewusst, verschiedenste Führungsgrundsätze angewendet, um Ordnung in das Chaos zu bringen und handlungsfähig zu bleiben. Einer der wichtigsten Grundsätze für einen Kommandanten in einer derartigen Situation lautet, möglichst viel Auftragstaktik und möglichst wenig Befehlstaktik anzuwenden“, fasst Ihle zusammen.

Von Angesicht zu Angesicht

„Das Schlimmste in einer solchen Situation ist das Chaos. Die Herausforderung liegt darin, Realität von Fiktion zu trennen“, sagt Brigadier Roman Friedl, Stadtpolizeikommandant des ersten Bezirks. „Nachdem ich von den Vorfällen in meinem Zuständigkeitsbereich erfahren habe, bin ich umgehend in den Dienst geeilt. Wir haben im Stadtpolizeikommando am Deutschmeister Platz eine kleine Kommandostruktur errichtet, mit dem Ziel, dem vor Ort agierenden Einsatzkommandanten Manfred Ihle und allen weiteren im Einsatz befindlichen Polizisten unsere bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Nicht zuletzt deshalb, um die nötige Koordination vor Ort zu übernehmen und die Zivilisten, die im ersten Bezirk unterwegs waren, sicher aus dem Gefahrenbereich zu geleiten.“

Gruppeninspektor Christian H. wollte an diesem Abend mit zwei Kollegen, darunter ein Polizeischüler, den Verkehr im ersten Bezirk schwerpunktmäßig kontrollieren und überwachen. „Wir sind gerade zu unserem zivilen Dienstfahrzeug gegangen, als uns gegen 20 Uhr über Funk die Mitteilung erreichte, dass im Bermudadreieck ein Mann mit Schrotflinte wild um sich schießen würde“, schildert der 49-jährige Polizeibeamte. Die Polizisten machten sich sofort auf den Weg in Richtung Schwedenplatz. Über Funk wurde durch die Landesleitzentrale ein „Notstopp“ angeordnet. Das bedeutet, sämtliche Einsatzfahrzeuge müssen anhalten und die Einsatzkräfte ihre schwere Schutzausrüstung anlegen.

Wenig später erreichte die Beamten die Meldung über Funk, dass ein Kollege am Morzinplatz angeschossen worden war. Viele panische Menschen flüchteten zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Innenstadt. „Ab da ist uns klar gewesen, wir befinden uns in Lebensgefahr und der Täter wird nicht eher aufgeben, bis er selbst erschossen worden ist“, schildert der Polizist die dramatischen Augenblicke. Als die drei Polizisten am Morzinplatz ankamen, nahmen sie einen verletzten Kollegen wahr. Sofort erste Hilfe zu leisten, wäre zu diesem Zeitpunkt aus einsatztaktischen Gründen für das Trio lebensgefährlich gewesen. Die Männer hätten sich dabei der Gefahr ausgesetzt, selbst getötet zu werden. „Im Einsatztraining haben wir gelernt, wie wir uns bei Terror- und Amoklagen zu verhalten haben. Das Wichtigste in einer solchen Situation ist, den Täter zu lokalisieren und ihn so schnell wie möglich zu stoppen. Deshalb sind wir aus unserem Dienstfahrzeug gesprungen und gebückt mit gezogener Schusswaffe in die Richtung des Täters gerannt. Am Franz-Josefs-Kai haben wir Deckung gesucht.“

Wie sich später bei einer Tatortbegehung herausgestellt hat, handelte es sich bei der vermeintlichen Deckung lediglich um einen spärlichen Baum und eine Plastikmülltonne. „In diesem Moment haben wir den Täter erblickt und er hat sich zu uns umgedreht. Ich habe die weiße Oberbekleidung, den schwarzen Bart und eine Langwaffe deutlich erkennen können. Mir war klar – das ist er“, erinnert sich der erfahrene Polizist. Der Attentäter begann aus etwa 60 Metern Entfernung auf die drei Beamten zu schießen. „Wir haben zu dritt zurückgeschossen und haben ihn so zwingen können, sich in eine Ecke zurückzuziehen. Auch wir haben uns vorsichtig zurückbewegt. Gott sei Dank sind plötzlich zwei schwer bewaffnete Einsatzteams der WEGA aufgetaucht und stellten sich dem Attentäter. Wir sind vorsichtig zu unserem Fahrzeug zurückgegangen. Wir haben uns gegenseitig abgetastet, um feststellen zu können, ob Blut an unserer Kleidung ist, ob wir angeschossen worden sind. Zum Glück ist niemand verletzt worden“, schildert Christian H. Obwohl die Beamten gerade zur Zielscheibe geworden waren, stiegen sie wieder in ihr Fahrzeug. „Nun waren die Profis der WEGA am Zug – vor Ort konnten wir nichts mehr tun. Wir sind weiter zur Salztorbrücke gefahren, um den Verkehr dort aufzuhalten und umzuleiten“, resümiert der Gruppeninspektor.

 Einsatzeinheiten der Polizei sicherten Plätze in der Wiener Innenstadt
© Gerd Pachauer

Polizisten im Einsatztraining speziell geschult

Die steigende Terrorgefahr und Amokläufe in anderen Ländern haben seit 2010 eine spezielle Schulung der österreichischen Polizisten erforderlich gemacht. „In lebensgefährlichen Einsatzlagen ist zur Vermeidung weiterer Toter oder Verletzter ein sofortiges Handeln unter hohem kalkulierbarem Risiko geboten. Rasch, entschlossen und konsequent muss versucht werden, den Aktionsraum und die Aktionsfähigkeit des Angreifers einzuschränken und weitere Gefahren abzuwenden. Noch vor dem Eintreffen der Spezialkräfte wurde damit seine Aufmerksamkeit auf die Einsatzkräfte gerichtet und damit von den Zivilisten abgelenkt. Nur so konnte seine Angriffs-, Widerstands- und Fluchtunfähigkeit in kürzester Zeit herbeigeführt werden“, erläutert Oberst Hermann Zwanzinger, Bundeskoordinator für das Einsatztraining im BMI. „Die erlernte Taktik haben die ersteintreffenden Streifen am 2. November hervorragend umgesetzt. Deshalb konnte der Angreifer nach nur neun Minuten von einer WEGA-Streife neutralisiert werden.“

Kollegialität, Zusammenhalt, Solidarität

Zahlreiche Polizistinnen und Polizisten sind an diesem Abend freiwillig und unaufgefordert in ihre Dienststellen geeilt. Nicht nur Polizisten, die im ersten Bezirk Dienst versehen, sondern auch zahlreiche Beamte aus anderen Stadtpolizeikommanden kamen zur Hilfe. Da am Großeinsatz im ersten Bezirk Beamte aus ganz Wien eingesetzt waren, übernahmen die freiwilligen Helfer die zu besorgenden Aufgaben in den übrigen Bezirken, in den Polizeiinspektionen oder sicherten Gebäude wie Botschaften oder Bahnhöfe. Egal, ob sie im Urlaub waren, gerade vom Dienst nach Hause kommen oder am nächsten Tag in der Früh aufstehen mussten. „Ich bin unglaublich stolz auf die Polizistinnen und Polizisten, die im Dienst waren und in den Dienst gekommen sind, um ihre Kollegen zu unterstützen. Alleine im ersten Bezirk eilten 50 Beamte aus der Freizeit in ihre Dienststellen, um zu helfen“, sagt Brigadier Friedl.

Beamte des Bildungszentrums der Sicherheitsakademie Wien unterstützten ebenso tatkräftig. Neben der Aufbereitung und Ausgabe von Einsatzmitteln wie Sturmgewehren und Dienstfahrzeugen, halfen zwei Teams von Polizeilehrern bei der Durchsuchung und Evakuierung des Konzerthauses sowie mehrerer Lokale. Beamte der Logistikabteilung der LPD Wien sorgten dafür, dass Einsatzmittel wie Waffen, technische Sperren, Fahrzeuge oder Funkgeräte rasch und unbürokratisch an die Einsatzkräfte ausgegeben werden konnten.

Einsatzeinheiten (EE) verschiedener Landespolizeidirektionen wurden in der Nacht von 2. auf 3. November 2020 unter anderem zum Objektschutz, für Suchaktionen und Evakuierungen herangezogen, aber auch zur Sicherung der Tatorte für die Spurensicherung. Einer der Wiener EE-Angehörigen ist Chefinspektor Michael Hendrich, Dienstführender in der Polizeiinspektion Am Platz unweit des Schlosses Schönbrunn und Zugskommandant in der Einsatzeinheit Wien. Am 2. November 2020 hatte er dienstfrei. Ab ca. 20.30 Uhr erhielt er die ersten Textnachrichten auf sein Handy: „Schüsse in der Innenstadt, eine mögliche Terrorlage“. Hendrich ahnte, dass man bald alle verfügbaren Kräfte brauchen würde. Er zog sich vorsorglich um und machte sich einsatzbereit. „Kurze Zeit später erhielt ich dann schon einen Anruf von der Polizeiinspektion, dass wegen einer mutmaßlichen Terrorlage ein Notalarm ausgerufen wurde und ich in die PI kommen soll.“ Wie in solchen Fällen üblich, rief er mehrere Kollegen an, die dienstfrei hatten: „Alle, die ich erreicht habe, waren bereit, in den Dienst zu kommen.“ Wenig später fuhr er mit seinem Auto in Richtung Schönbrunn; sein nächster Weg führte ihn in die Rossauer Kaserne: Als Angehöriger der Einsatzeinheit Wien wurde er dort einer Gruppe zugeteilt. Sein „eigener“ EE-Zug war am 2. November nicht im Dienst. „Wir haben Schutzkleidung und Sturmgewehre ausgefasst und dann ab circa Mitternacht an verschiedenen Stellen in der Innenstadt Sicherungspositionen bezogen.“

Die Lage war zu dieser Zeit noch unklar, „vor allem wussten wir nicht, ob es sich tatsächlich nur um einen Angreifer gehandelt hat.“ Die Meldungen über weitere Vorfälle schienen sich zu überschlagen. Hendrichs Kontingent war rund um den Karlsplatz im Einsatz. In einem Bankfoyer entdeckten die Polizisten drei junge Männer, die sich hinter einem Bankomaten in Sicherheit gebracht hatten. „Als wir ihnen gesagt haben, dass sie die Bank nun verlassen können, sind plötzlich noch gut zwanzig weitere Personen aus dem Foyer herausgekommen – vor allem Frauen und Kinder.“ Die Beamten begleiteten die verängstigten und aufgeregten Menschen bis zur Ringstraße. „Unser Kontingent hat dann auch noch bestimmte U-Bahn-Stationen bewacht.“ Der Einsatz dauerte bis etwa 4 Uhr früh. „Die Übungen in der Einsatzeinheit zur Zusammenarbeit bei Sonderlagen haben sich ausgezahlt“, ist Chefinspektor Hendrich überzeugt. Die Abläufe hätten ihn zum Teil auch an den Amoklauf in München 2016 erinnert – der dortige Polizeieinsatz war bei einem Seminar der Sicherheitsakademie präsentiert worden.

Neben der Einsatzeinheit Wien kam auch EE-Unterstützung aus den Bundesländern: Noch in der Nacht schickte die EE Niederösterreich über 80 Angehörige nach Wien, die EE Burgenland insgesamt 42 Angehörige. Da die EE-Angehörigen in Niederösterreich und dem Burgenland ihre persönliche Sonderausrüstung in der Freizeit zu Hause haben und nicht erst am Dienstort ausgestattet werden müssen, war in kürzester Zeit eine große Einsatzbereitschaft gegeben.

Es standen rund 1.000 Polizis­tinnen und Polizisten im Einsatz. Darunter Spezialeinsatzkräfte des Einsatzkommandos Cobra/DSE und der Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung (WEGA), Polizeidiensthunde, die Bereitschaftseinheit (BE), Einsatzeinheiten und spezielle Ermittlungsteams des Bundes- und Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung sowie Spezialisten der Tatortgruppen des Landeskriminalamtes Wien. „Bei diesem Einsatz war jede einzelne Kollegin und jeder einzelne Kollege unverzichtbar“, sagt Oberst Ihle.

Einsatzkommando Cobra

Die Direktion für Spezialeinheiten, zu der das Einsatzkommando (EKO) Cobra und der Entschärfungsdienst gehören, war in der Tatnacht mit über 200 Beamten in Wien im Einsatz. Brigadier Hannes Gulnbrein, operativer Leiter des EKO Cobra, hatte Dienst in der Zentrale in Wiener Neustadt, als kurz nach 20 Uhr die Alarmsirene am Gelände ertönte: In der Leitzentrale des Cobra-Hauptquartiers erfuhr er von den ersten Berichten über einen Attentäter in der Innenstadt, der „wahllos auf Passanten schießt“.

Die Cobra-Kräfte des Standortes Wien waren zu dieser Zeit bereits ausgefahren. „Der Journaldienst der Cobra in Wien hört laufend die Wiener Funkkanäle mit und hat gleich ein erstes Einsatzmodul entsendet“, erklärt Gulnbrein.

In Wien ist die WEGA seit Jahrzehnten durch ihre Sektorstreifen permanent „auf der Straße“ und oft in kürzester Zeit mit Spezialausrüstung am Einsatzort. Auch am 2. November war dies der Fall. Doch die Cobra hat aufgrund von internationalen Erfahrungen ihre Konzepte ebenfalls überarbeitet: 24 Stunden pro Tag ist ein Team in sofortiger Ausfahrtbereitschaft. „Unsere Formel ist ‚Zeit ist Weg‘. Anschläge wie in Paris haben gezeigt, wie wichtig es ist, so schnell wie möglich verfügbar zu sein“, betont Gulnbrein.

Der Wiener Cobra-Stützpunkt übernahm aufgrund der Ortskenntnisse und der vollen Informationslage in der Nähe des Schwedenplatzes die operative Einsatzleitung der Cobra-Kräfte – in enger Abstimmung mit der Einsatzleitung der WEGA. Zur Verstärkung fuhren kurz darauf Cobra-Einsatzkräfte des „Stützpunktes Ost“ in Wiener Neustadt Richtung Wien. „Die Alarmbereitschaft war in wenigen Minuten auf der Autobahn.“ Später in der Nacht wurden weitere Einsatzmodule aus Graz und Linz nach Wien verlegt, um im Bedarfsfall, etwa bei simultanen Szenarien, auf weitere Cobra-Teams zurückgreifen zu können. „Viele Kollegen sind freiwillig in den Dienst gekommen, haben sich ausgerüstet und sind nachgefahren, um die Bereitschaft zu verstärken,“ berichtet Gulnbrein.

Cobra-Polizisten im Einsatz: Erfahrungen aus dem Austausch mit internationalen Sondereinheiten wurden umgesetzt
© Gerd Pachauer

Das Einsatzkommando Cobra verfügt in Österreich über acht Standorte – Wien, Wiener Neustadt, Graz, Linz, Innsbruck, Salzburg, Klagenfurt/Krumpendorf und Feldkirch/Giesingen. Jeder Einsatzort in Österreich kann dadurch von Cobra-Kräften in circa einer Stunde erreicht werden. Die Ballungszentren werden in viel kürzerer Zeit „einsatztechnisch abgedeckt“.

Einsatzabschnitt für Spezialeinsatzkräfte

Brigadier Gulnbrein, verantwortlich für die Abteilung 3 der Direktion für Spezialeinheiten, fuhr zur Landespolizeidirektion Wien am Schottenring, wo gerade der Einsatzstab eingerichtet worden war. Im Rahmen der Besonderen Ablauforganisation (BAO) wurde ein Einsatzabschnitt für Spezialeinsatzkräfte gebildet – in diesem wurden die Wiener Cobra, die WEGA und die Cobra-Kräfte des „Stützpunktes Ost“ in Wiener Neustadt zusammengefasst. Innerhalb des Einsatzabschnittes teilten sich Cobra und WEGA die einlangenden Meldungen auf und koordinierten, gegenseitig abgestimmt, ihre Teams im ganzen Stadtgebiet.

Zusammen mit Direktor Bernhard Treibenreif, dem Leiter der DSE, führte Hannes Gulnbrein in den kommenden Stunden auf strategisch übergeordneter Ebene die Cobra-Agenden vom LPD-Gebäude aus. „Es ist uns gelungen, die anfängliche Chaosphase relativ kurz zu halten und in die dynamische Lage eine gewisse Ordnung zu bringen“, schildert Gulnbrein. Die Situation sei herausfordernd gewesen, weil ständig neue Meldungen eingelangt seien und viele unbekannte Faktoren zu bewerten waren – sei es zur Bewaffnung, möglichen zusätzlichen Tätern und weiteren Tatorten. So banden etwa Berichte über eine Geiselnahme in der Mariahilfer Straße oder die Flucht verdächtiger Personen in der U-Bahn Richtung Simmering Cobra- und WEGA-Kräfte, die sich in der Folge als falsch erwiesen.

„Die Zusammenarbeit hat sehr gut funktioniert“, unterstreicht Gulnbrein. Dies sei einerseits den laufenden Einsatzübungen in Österreich zu verdanken, bei denen Szenarien wie am 2. November simuliert und das Zusammenspiel der Sicherheitskräfte und anderer Behörden trainiert wurden, andererseits dem fachlichen Austausch auf internationaler Ebene mit anderen Antiterroreinheiten. „Wir haben in den letzten Jahren viele wichtige Erfahrungen von Anschlägen wie in Paris, Brüssel, München oder London in unsere taktischen Konzepte eingebaut.“ Dazu gehört die Bildung „schneller Eingreif-Teams“ („Rapid Response Teams – RRT“) beim EKO Cobra, die etwa bei terroristischen Bedrohungslagen oder anderen Gefährdungslagen eingesetzt werden können. Sie sollen beispielsweise in Regierungsvierteln, Einkaufszentren, bei Sehenswürdigkeiten oder kritischer Infrastruktur, wie auf Flughäfen, Präsenz zeigen und im Bedarfsfall durch sofortige Interventionen Täter identifizieren und binden. Diese Cobra-Teams sind in das Einsatzleitsystem der Landesleitzentralen eingebunden.

ATLAS

Österreich, vertreten durch das EKO Cobra/DSE, führt seit 2017 den Vorsitz bei ATLAS, dem Anti-Terror-Netzwerk europäischer Sondereinheiten. Insgesamt 38 Einheiten aus allen EU-Mitgliedstaaten, Island, Norwegen und der Schweiz pflegen in ATLAS einen regelmäßigen Fachaustausch und trainieren grenzüberschreitende Einsätze. Über eine sichere Plattform bei Europol können Informationen verteilt werden. Schon bald nach den ersten medialen Meldungen über einen Anschlag in Wien wurde das EKO Cobra von Spezialeinheiten aus anderen Staaten kontaktiert, die ihre Unterstützung anboten: „Zu den ersten gehörten Kollegen aus Deutschland, der Slowakei und Ungarn“, erinnert sich Direktor Bernhard Treibenreif. Auch eine Anfrage aus Frankreich ging ein, ob spezielle Einsatzmittel benötigt würden. „Solche Angebote sind nicht nur ein Zeichen für die exzellente Kooperation innerhalb von ATLAS, sondern können bei großen Sonderlagen eine wirkliche Entlastung bringen“, sagt Treibenreif. So wurden etwa Kräfte des Einsatzkommandos Cobra zur Amoklage 2016 in München oder zum G20-Gipfel 2017 in Hamburg entsandt. „Durch die gemeinsamen Übungen im Rahmen von ATLAS sind die Teams der verschiedenen Staaten inzwischen sehr gut kompatibel und die Einsatzkomponenten leicht verstärkbar.“

Festnahmen

Während es nach Mitternacht auf den Straßen langsam ruhiger wurde und immer mehr Menschen die Restaurants und Veranstaltungsorte, an denen sie stundenlang ausgeharrt hatten, verlassen konnten, begann für das Einsatzkommando Cobra die zweite intensive Phase: Aufgrund eines ersten Fotos, das mit einem Roboter des Entschärfungsdienstes aufgenommen wurde, war es relativ rasch gelungen, die Identität des Attentäters zu klären und mögliche weitere Verdächtige zu benennen. „Zu diesem Zeitpunkt konnte man nicht ausschließen, dass es Mittäter gibt und sich diese an der einen oder anderen Örtlichkeit versteckt halten und Widerstand leisten“, sagt Gulnbrein. In einem Einsatzmodul der Cobra sind auch Einsatzsanitäter, Einsatztechniker und taktische Entschärfer, die in der Lage sind, Sprengfallen oder Handgranaten zu deaktivieren. In mehreren Wellen wurden bis zum folgenden Vormittag im Auftrag des BVT und des LVT vom EKO Cobra insgesamt 18 Wohnungen gewaltsam geöffnet und durchsucht, darunter die Wohnung des Täters in Wien-Donaustadt. 13 Personen wurden festgenommen.

 Einsatz- und Koordinationscenter im BMI: Zentrale Informations- und Kommunikationsstelle, wenn bei Groß- oder Sonderlagen ein Führungs- bzw. Koordinierungsstab in einer LPD oder ein BMI-Stab im Innenministerium eingerichtet wird
© Gerd Pachauer

BAO im BMI

Operativ und kommunikativ stand am 2. November 2020 und den Tagen und Wochen danach die Landespolizeidirektion Wien mit ihren Führungskräften sowie Polizistinnen und Polizisten an erster Stelle bei der Bewältigung der Terrorlage. Im Innenministerium wurde parallel dazu die Führungsfähigkeit des BMI und der Landespolizeidirektionen hergestellt. Wichtig ist dabei die Einrichtung einer besonderen Aufbauorganisation (BAO) zur Minimierung der Schnittstellen und Festlegung der Kommunikationswege gemäß der „Richtlinie der Sicherheitsexekutive bei besonderen Lagen (RFbL)“. Oberster Verantwortungsträger ist die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit mit Generaldirektor Dr. Franz Ruf, MA an der Spitze. Das Vorgehen bei einer Terrorlage wie am 2. November ist im Innenressort durch einen detaillierten Erlass geregelt. Mittels Organigrammen und Arbeitsbehelfen ist genau dokumentiert, wer welche Maßnahme wann und in welcher Reihenfolge durchführt.

In einer ersten Reaktion werden im Rahmen der BAO Einsatzleiter, Leiter des Stabes, Sachgebietsleiter, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Verbindungspersonen bestimmt und Kontakte zu internen und externen Partnern aufgenommen. Die meisten Bediensteten im Stab kommen „aus der Linie“ des Innenressorts und bringen entsprechende Ausbildungen und Kenntnisse ein. Das seit 2006 im Innenministerium bestehende Einsatz- und Koordinationscenter (EKC) bildet eine zentrale Informations- und Kommunikationsstelle, wenn bei sicherheitspolizeilichen, kriminalpolizeilichen oder staatspolizeilichen Groß- und Sonderlagen ein Führungs- bzw. Koordinierungsstab in einer LPD bzw. ein BMI-Stab im Innenministerium eingerichtet wird. Das EKC ist räumlich, technisch und organisatorisch dafür ausgestattet, bei einer Terrorlage den vom Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit bestimmten Einsatzleiter und die fachlich zuständigen Organisationseinheiten, etwa das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung oder die Abteilungen II/2 (Einsatzangelegenheiten) und II/13 (SKKM – Staatliches Krisen- und Katastrophenmanagement und Koordination Zivile Sicherheit) des BMI, zu unterstützen.

EKC

Ministerialrat Wolfgang Nicham, BA MA, Leiter des Einsatz- und Koordinationscenters des BMI, saß am 2. November 2020 mit seiner Familie beim Abendessen, als er den Anruf eines Mitarbeiters aus dem EKC-Permanenzdienst erhielt: „Ein Polizist wurde angeschossen, weitere Schüsse fallen.“ Nicham packte seine Sachen und brach mit seinem Pkw in Richtung Wien auf. Schon kurz darauf gingen nähere Informationen ein, die auf ein Anschlagsszenario hindeuteten. In der „Chaosphase“ muss schnell reagiert und koordiniert werden – über Auftrag des Generaldirektors für die öffentliche Sicherheit wurde ein Koordinierungsstab im Innenministerium eingerichtet: Bedienstete in Rufbereitschaft wurden aktiviert, zusätzliche Personalreserven für die Stabsarbeit angefordert und die Aufgaben, gemäß RFb, in die verschiedenen Sachbereiche eingeteilt: Von der Öffentlichkeitsarbeit bis zur internationalen Vernetzung fand ab sofort alles unter dem Dach des BMI statt. Der koordinierende Stab im Innenministerium gewährleistet unter anderem ein laufend aktuelles, bundesweites Lagebild und das Informationsmanagement – sowohl BMI-intern, als auch bundesländerübergreifend und international, insbesondere mit den Nachbarstaaten, aber auch die bundesländerübergreifende Ressourcensteuerung und Reservenbildung (kurzfristig und mittelfristig für Ablösen nach zwölf und mehr Einsatzstunden).

Bei einer ersten Lagebeurteilung werden gegebenenfalls Sofortmaßnahmen, Vorgaben und Vorbehalte für die operative Einsatzführung in den Landespolizeidirektionen und die operativen Einheiten des BMI, wie das Einsatzkommando Cobra und den Verfassungsschutz, definiert. Hauptaugenmerk des BMI ist es, die Landespolizeidirektionen nicht zu „übersteuern“, was die operative Ebene betrifft – die Konzentration liegt auf strategischen Grundsatzfragen, statt auf taktischem Mikromanagement. Dadurch wurde am 2. November letztlich die LPD Wien entlastet, die sich auf die operative Arbeit konzentrieren konnte.

Der Einsatzleiter im BMI muss im Auge behalten, ob die Umsetzung bestimmter Maßnahmen auf operativer Ebene bereits beurteilt bzw. bereits angeordnet wurde. Auszugsweise kann dies inkludieren: Robuster Raumschutz an neuralgischen Örtlichkeiten, Schutzmaßnahmen für gefährdete Objekte (wie Bahnhöfe, Flughäfen, Einkaufsstraßen, Verkehrsknotenpunkte), Eigenobjektschutz, Abstimmung der Medienarbeit der LPD mit der Öffentlichkeitsarbeit des BMI, Aufrufe an die Bevölkerung, Einstellung öffentlicher Verkehrsmittel oder die Anforderung eines Assistenzeinsatzes. Für den BMI-Einsatzleiter bietet dabei das EKC durch vorbereitete Routineabläufe und geschultes Personal entsprechenden Rückhalt, um sich auf die Führungsaufgaben konzentrieren zu können.

Kommunikation

Grundsätzlich legt jene LPD, die für einen Tatort zuständig ist, ein fortschreibendes Protokoll im Einsatzprotokollsystem EPSweb an, das die andere LPD, bestimmte Kräfte im Innenministerium und die operativen BMI-Einheiten in Echtzeit mitlesen können. Daneben werden Lagebilder und Lageberichte erstellt und ständig aktualisiert. Als wertvoll erweist sich der Einsatz von Videokonferenzen für Lagevorträge. Erforderlichenfalls legt die zuständige LPD einen Verbindungsbeamten des LPD-Stabes als permanente Schnittstelle zum BMI für die Klärung von Detailfragen fest, um Störungen des Arbeitsflusses gering zu halten. Mit dem Stab im BMI konnte am Abend des 2. November zielgerichtet gesteuert und ein schneller Informationsaustausch aller beteiligter Stellen gewährleistet werden. Zu den ersten Schritten gehörte die schnelle Vernetzung mit dem Bundeskriminalamt, über das die Upload-Plattform für Bilder und Videos der Tat eingerichtet wurde. Während der Phase der Aufarbeitung und Ermittlung war der BMI-Stab noch bis 4. November 2020 durchgehend besetzt, im Anschluss gingen die Aufgaben auf den Permanenzdienst des EKC über.

Mit Kerzen und Blumen wird den Opfern des Terroranschlags in der Wiener Innenstadt gedacht
© Werner Sabitzer

Geschehenes aufarbeiten

Der Terroranschlag vom 2. November 2020 hat nicht nur die Bevölkerung zutiefst erschüttert, sondern auch die Einsatzkräfte extrem gefordert. Selbst erfahrene und routinierte Beamte können in einer solchen Situation an ihre Grenzen stoßen. Möglicherweise lassen sie die Erlebnisse und Bilder dieses Anschlages nicht mehr los und bisherige Bewältigungsstrategien – um schwierige Einsätze zu verarbeiten – reichen nicht aus.

Der Psychologische Dienst des BMI, der Peer Support und die Mitarbeiterbetreuung der Landespolizeidirektion Wien sind allen am Einsatz beteiligten Polizisten persönlich, und bei der Aufarbeitung der Geschehnisse unterstützend zur Seite gestanden. „Meine Kollegen und ich sind einige Zeit nach dem fordernden Einsatz nochmals die Tatorte in der Innenstadt gemeinsam abgegangen, um das Erlebte besser verarbeiten zu können. An jenem Ort, an dem der Täter erschossen worden ist, haben Hinterbliebene Kerzen aufgestellt. Ein Passant hat mich daraufhin angesprochen und gefragt, was die Kerzen zu bedeuten hätten. Ich entgegnete ihm, dass auch er, der Attentäter, Eltern habe“, resümiert Gruppeninspektor Christian H. von der LLZ Wien.

-Erstveröffentlich in Öffentliche Sicherheit 1-2/21 https://www.bmi.gv.at/magazin/magazin.aspx?id=131-