Hindernisse zur Deckung ausnützen.
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SELBSTSCHUTZ

Angriffe mit Stichwaffen

Von Siegbert Lattacher

Angriffe mit Messern, Hieb- oder Stichwaffen sind mitunter gefährlicher als mit Schusswaffen. Experten raten, Gefahren aus dem Weg zu gehen oder bei einem Angriff zu flüchten.
Gewalttätige Auseinandersetzungen werden immer häufiger mit Messern oder gleichzusetzenden Gegenständen ausgetragen. Gegenüber Schusswaffen bietet ein Messer Vorteile. Eine Stichwaffe ist leicht zu verstecken, unauffällig zu ziehen, leicht erhältlich, problemlos zu entsorgen und bei Kontrollen einfach zu rechtfertigen. Für ihre Handhabung bei Angriffen ist kein spezielles Training erforderlich. Messerangriffe sind selbst von Profis kaum unbeschadet abzuwehren. Waren es früher eher Beziehungsstreitigkeiten, bei denen ein Messer als Tatwaffe verwendet wurde, zeigte sich in den letzten Jahren der Trend zu ethnischen Konflikten, bei denen Hieb- oder Stichwaffen eingesetzt werden.

Laut Kriminalstatistik stieg die Zahl der Straftaten in Österreich im Zehn-Jahresvergleich (2009-2018) an, bei denen Hieb- oder Stichwaffen mitgeführt worden sind: Waren es 2009 994 Fälle, stieg die Zahl 2016 auf 5.186 an. 2017 betrug die Zahl 4.887, 2018 waren es 4.703 Fälle. Auch die Zahl der Fälle, bei denen Hieb- und Stichwaffen als Tatmittel eingesetzt wurden, stieg im Zehnjahresvergleich an.

Gewalt gegen Polizisten

Messerangriffe: Bei kurzer Distanz ist das rechtzeitige Ziehen der Waffe nicht möglich.
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Auch Polizisten werden zunehmend mit Stichwaffen attackiert. Bei einem Einsatz Ende August 2019 wegen eines Streits zwischen zwei Männern in einer Flüchtlingsunterkunft in Wien-Simmering, ging ein 39-jähriger Afghane mit einem Messer auf zwei Polizisten los. Einer der Beamten zog seine Dienstwaffe und schoss auf den Mann. Ende Juni 2019 wurden Polizisten wegen eines häuslichen Streits nach Wien-Favoriten gerufen. Als sie in die Wohnung kamen, ging ein 73-Jähriger mit einem Messer auf sie los. Ein Polizist wurde bei dem Einsatz verletzt. Ein Rumäne zog Ende 2018 in der Wiener Innenstadt ein Messer und stach und schlug auf die Seitenscheibe eines Streifenwagens ein. Der Mann wurde von Polizis­ten überwältigt und festgenommen.

Waffengebrauchsanalyse

Die Anzahl der strafbaren Handlungen unter Verwendung einer Hieb- oder Stichwaffe gegen Polizisten stieg im Zehn-Jahresvergleich (2009-2018) an. 2009 wurden 6 Fälle verzeichnet, 2017 46 und 2018 waren es 32 Fälle. Dazu zählen der Widerstand gegen die Staatsgewalt und der tätliche Angriff auf einen Beamten. Die Analysestelle der Cobra analysierte 2017 52 Waffengebrauchsfälle von Polizisten, bei denen die Täter 31-mal mit einer Stichwaffe bewaffnet waren; 2018 waren es 39 Fälle.

Die Cobra-Analysestelle analysiert seit zwölf Jahren sämtliche Waffengebrauchsfälle der Polizei. Die Erkenntnisse fließen Messerangriff: Arme vom Körper wegstrecken, um Distanz zu den lebenswichtigen Organen zu vergrößern.
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in die Aus- und Weiterbildung der Bediensteten ein. In den bisher 572 analysierten Fällen waren 378 Verdächtige mit Stichwaffen bewaffnet, etwa jeder dritte von ihnen (123) attackierte die einschreitenden Polizis­ten damit. Diese Entwicklungen zeigen, dass das Risiko für Polizisten wächst, bei Amtshandlungen mit einem bewaffneten Täter konfrontiert zu werden, der entweder einen Angriff plant oder in letzter Konsequenz dazu bereit ist, seine Hieb- oder Stichwaffe gegen Exekutivbedienstete einzusetzen.

Analyse von Angriffen

Patrice Bonnafoux, Urban Krav-Maga-Instruktor und Vortragender am University College London, analysierte mehr als 150 Angriffe mit Hieb- und Stichwaffen, die mittels Videokamera oder Handy aufgezeichnet und im Internet veröffentlicht wurden. (www.urbanfitandfearless.com/2016/09/self-defence-against-knife-attacks.html). Das Ergebnis: In 80 Prozent der Fälle wird die Waffe verdeckt am Körper getragen und erst unmittelbar vor oder während des Angriffes erfasst und eingesetzt. Ein Erkennen der Waffe ist deshalb oft sehr spät oder gar nicht möglich. Vielfach wird der Angriff mit der waffenfreien Hand eingeleitet. Damit versucht der Angreifer, sein Opfer zu ergreifen oder dessen Arme zu blockieren (Ziehbewegung der Dienstpistole). Die Aufmerksamkeit des Opfers wird sich auf die freie Hand richten. Mehr als 70 Prozent der Angriffe starten innerhalb unmittelbarer Nahdistanz (ca. 1 m). In mehr als der Hälfte aller Fälle, bei denen das Opfer nach hinten auswich, kam es aufgrund der massiven Druckausübung durch den Täter zu einem Sturz. Etwa zwei Drittel aller Angriffe erfolgen mit „normalem Waffengriff“, ein Drittel mit dem „Eispickel-Griff“ (Stechen von oben). Ein Wechsel des Griffes bzw. ein Handwechsel während eines Angriffes erfolgen in seltenen Fällen. Die Hälfte aller Messerangriffe dauerte 14 Sekunden oder weniger.

Angriffe mit Hieb- und Stichwaffen sind grundsätzlich mit Lebensgefahr verbunden. Der Einsatz der dienstlichen Schusswaffe für Polizisten wird auf Grund der Nahdistanz und der kurzen Reaktionsmöglichkeit (Ziehbewegung und Schussabgabe) nur erschwert möglich sein. Diese extrem kurze Zeitspanne bedeutet, dass es fast unmöglich ist, den ersten Stich/Schnitt zu verhindern, wenn der Exekutivbedienstete nicht damit rechnet. Eine weitere Konsequenz solcher Angriffe aus nächster Nähe besteht darin, dass die einschreitenden Polizisten tendenziell fallen, wenn sie sich rückwärts bewegen und damit versuchen, ihrem Angreifer auszuweichen.

Bei Angriffen mit Hieb- oder Stichwaffen müssen Exekutivbedienstete unabhängig von Geschlecht, Alter, Größe und körperlichen Fähigkeiten alles tun, um solchen Situationen lebend oder mit möglichst geringen Verletzungen zu entkommen. Die polizeiliche Schutz-ausrüstung (die ballistische Überziehschutzweste oder das ballistische Gilet) verbessern die Überlebenschancen bei Messerangriffen, aber sie gewähren keine hundertprozentige Sicherheit, da sie nur den Oberkörper vor Angriffen schützen.

Versuchsreihe

Die Analysestelle der Cobra führte 2018 121 Testläufe mit Polizisten durch, um herauszufinden, wie sich diese gegen einen Angreifer mit Stichwaffe zur Wehr setzen würden. Die Testreihe orientierte sich an Versuchen der amerikanischen Polizei bzw. des FBI aus den späten 1990er-Jahren. Die Distanzen zwischen Angreifern und Polizisten betrugen zwischen 0,5 und 7 Metern. Trotz verbesserter Ausrüstung und umfangreicher Ausbildung der österreichischen Polizis­ten waren die Resultate nicht besser als die der amerikanischen Behörden vor mehr als 20 Jahren. Vor allem bei Angriffen bis drei Meter Entfernung ist die Gefahr für Polizisten groß, durch Stichwaffen verletzt zu werden, bevor sie einem Angriff ein Ende setzen können. Ausschlaggebend dafür ist die Reaktionszeit, die der Angegriffene benötigt, um die Angriffshandlung und eine Waffe zu erkennen und entsprechende Abwehrhandlungen einzuleiten. Distanzen bis drei Meter werden mit zwei bis drei Schritten überwunden, das Ziehen eines Messers wird dabei erst sehr spät oder gar nicht wahrgenommen. Auf größere Distanzen steigen die Chancen der Polizisten, solche Angriffe unverletzt oder nur mit geringen Verletzungen zu überstehen. Der Ausgang ist dabei abhängig von der Aufmerksamkeit des Polizisten sowie der Sicherungshaltung und seiner Entschlossenheit, einem lebensbedrohlichen Messerangriff auch mittels Waffengebrauchs ein Ende zu setzen. Bei einem überraschenden Angriff, einem entschlossenen Angreifer oder einem Angriff aus dem Hinterhalt, muss aber auch bei Distanzen von sieben Metern und mehr, mit einer Verletzung der Einsatzkräfte gerechnet werden.

In diesem Zusammenhang wurde auch das neue ballistische Gilet mit Stichschutzeinlage (BG-ST) der Poli­zisten getestet und bei keinem der Tests durchstochen. Auch Schutzwesten ohne Stichschutzeinlagen boten hohen Schutz vor Messerstichen. Die Mehrzahl der verwendeten Messertypen konnte dabei die Schutzwesten nicht durchstechen. Im Gegensatz zum Stichschutz des BG-ST sind jedoch äußere Umstände wie die Auftreffenergie, der Einstechwinkel und die Stichtechnik ausschlaggebend, ob ein Durchstich gelingt oder nicht.

Einsatztraining

Um die Erkenntnisse allen österreichischen Polizisten zugänglich zu machen, wurde für das Einsatztraining ein separater Anhang über das „Erkennen und taktische Verhalten bei Angriffen mit Hieb- und Stichwaffen“ erstellt. Gemeinsam mit Ausbildern des Bundeseinsatztrainings, mit externen Experten und unter Einbeziehung internationaler Ausbildungsvorschriften zu diesem Thema, wurde ein Ausbildungsbehelf erstellt, der es den Polizisten erleichtern soll, einen Messerangriff so rasch wie möglich zu erkennen und Maßnahmen zu dessen Beendigung (bis hin zum Schusswaffengebrauch) zu treffen. Damit die Erkenntnisse aus dem Waffengebrauch-Analyseverfahren und die damit verbundenen Empfehlungen für die Aus- und Fortbildung der Polizis­tinnen und Polizisten an die Einsatztrainerinnen und -trainer weitergegeben werden können, arbeiten Vertreter des BMI, des psychologischen Diens­tes, der ASE/WEGA, des Bundeseinsatztrainings und der Cobra-Analysestelle zusammen. Drei Beamte der Analysestelle sind Einsatztrainer, einer davon Bundeseinsatztrainer. Dadurch kann bei der Ausarbeitung von Fallanalysen genauer auf Taktiken eingegangen und eine mögliche Alternative aufgezeigt werden.
Von der Polizei sichergestellte Messer.
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Verhaltenstipps

Angriffe mit Hieb- und Stichwaffen, Injektionsnadeln oder abgebrochenen Flaschen können gefährlicher sein als solche mit einer Schusswaffe. Markus Schimpl, ehemaliger Trainer beim Jagdkommando des Bundesheeres und Sicherheitsexperte, hatte vor Jahren einen Messerangriff abgewehrt. Er war mit zwei Kameraden in Militär-Uniform unterwegs, als sie von einem Mann angepöbelt wurden. „Er hat uns nicht in Ruhe gelassen, ist auf einmal mit einem Messer in der Hand vor uns gestanden und hat uns angreifen wollen“, schildert Schimpl. „Ich habe mit meinen Händen seine Messerhand fixiert und ihm das Messer abgenommen. Das hat nur funktioniert, weil ich rasch reagiert und Glück gehabt habe, dass er mich nicht erwischt hat.“ Schimpl sagt, dass er aufgrund seiner Nahkampfausbildung so gehandelt habe. Er rät jedoch nicht dazu, einem Angreifer mit Körperkraft das Messer abzunehmen, denn die Gefahr, verletzt zu werden, ist zu groß.

Grundsätzlich sollte man einen Sensor für gefährliche Orte oder Situationen entwickeln. Wenn man einen möglichen An- oder Übergriff erkennt, sollte man den Ort meiden, verlassen oder sich verstecken. Hat man ein Hilfsmittel bei der Hand und sieht keine Möglichkeit zur Flucht, sollte man dieses einsetzen; etwa mit einem Pfefferspray dem Angreifer die Sicht zu nehmen. Kommt man nicht mehr rechtzeitig weg, hat man unbewaffnet kaum Chancen zur Verteidigung. Experten raten, in Bewegung zu bleiben und die Arme soweit es geht vom Körper wegzustrecken, um die Distanz vom Angreifer zu den lebenswichtigen Organen zu vergrößern.

-Erstveröffentlicht in „Öffentliche Sicherheit“-