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„Wir brauchen einen digitalen Schutzraum für Kinder“

Neue Technologien sammeln zunehmend Daten auch jüngerer Kinder - ohne dass die Kinder dem zugestimmt haben. Denn zum einen sind sie gar nicht in der Lage, dies zu tun – da die Einwilligungstexte meist so geschrieben sind, dass die wenigsten Erwachsenen sie verstehen. Zum anderen sind die Kinder meist zu jung, um die Folgen ihres digitalen Handelns abschätzen zu können. Dennoch nutzen sie die neuen Technologien – und sind so der Datafizierung ihres Lebens – meist unwissentlich – ausgesetzt. Hierzu wurden auf der Jahreskonferenz des Forschungsverbunds „Forum Privatheit“ Ende November konkrete Lösungsvorschläge diskutiert.

„Ein Geheimnis würde ich eher meinen Eltern oder meinen Freunden anvertrauen als Siri. Auf die Freunde kann man sich verlassen, auf Siri nicht.“ Mit diesem Satz eines Zehnjährigen eröffnete der Forschungsverbund „Forum Privatheit“ seine Jahreskonferenz „Aufwachsen in überwachten Umgebungen – Wie lässt sich Datenschutz in Schule und Kinderzimmer umsetzen?“ Die Äußerung verdeutlicht: Kinder sind sich zwar mancher Risiken bestimmter Technologien bewusst – können jedoch gegenwärtig nicht mehr tun, als sich selbst von deren Nutzung auszuschließen, wenn sie sich schützen wollen.

Konkrete Vorschläge zur Verbesserung der DSGVO im Bereich Kinderdatenschutz

Auch der Einsatz von Bildungssoftware an Schulen sollte mit Augenmaß betrieben werden. „Individuelles Lernen mittels Software ermöglicht zwar einerseits gute Fortschritte, aber durch deren Nutzung werden auch viele Daten über die Schülerinnen und Schüler erhoben, über Intelligenz, soziales Umfeld – und Daten können missbraucht werden“, so Dr. Herbert Zeisel vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Er machte deutlich, dass Deutschland eine technische Umgebung wolle, „die uns einen souveränen Umgang mit unseren Daten garantiert.“ Um dies zu erreichen und die rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, stellte Prof. Alexander Roßnagel, Sprecher des „Forum Privatheit“, acht Vorschläge vor, um die EU-Datenschutzgrundverordnung im Geiste der UN-Kinderrechtskonvention weiterzuentwickeln. So forderte er unter anderem eine verbindliche Vorschrift, dass Daten von Kindern nicht für Persönlichkeitsprofile genutzt werden dürfen sowie dass bei Technologien, die von Kindern genutzt werden, eine datenschutzfreundliche Voreinstellung vorzusehen ist. Wenn Daten von Kindern verarbeitet werden sollen, sollte dies bereits bei Umsetzung der Vorgabe „Privacy by design“ besonders berücksichtigt werden. Weiterhin sollte es für Kinder nicht mehr möglich sein, in die Verarbeitung von besonders schützenswerten Daten einzuwilligen, da sich Kindern über die Folgen dieser Einwilligung kaum bewusst sind. Diese Punkte sollten bei der Evaluierung der DSGVO, die bis Mai 2020 erfolgt, berücksichtigt und die DSGVO in diesem Sinne weiterentwickelt werden.

Nutzungsbasiertes Tracking von Minderjährigen sollte verboten werden

Vor einer „normalisierten Gesellschaft“, in welcher Individuen durch Algorithmen vereinheitlicht werden, warnte der Jurist Dr. Stephan Dreyer vom Leibniz-Institut für Medienforschung. Viele rechtliche Regelungen zum Kinderschutz sieht er durch die Entwicklung und Verbreitung neuer Technologien faktisch in Frage gestellt und fordert eine Neuinterpretation des Freiheitsbegriffs im Sinne eines Konzepts informationeller Unversehrtheit. „Wir brauchen einen digitalen Schutzraum für Kinder“, so Dreyer. Hier sieht er vor allem den Gesetzgeber in der Pflicht, bestimmte Technologien zu verbieten, so z.B. nutzungsbasiertes Tracking von Minderjährigen sowie die Nutzung prädiktiver Verfahren – also das Sammeln von Daten, um daraus Vorhersagen abzuleiten – bei Kindern und Jugendlichen. Schließlich seien auch Angebote zu schaffen bzw. auszuweiten, die Kinder und Jugendliche bei der Durchsetzung ihrer Privatheit unterstützen.

Wir können nicht zahlreiche Technologien erfinden – und sie dann den Kindern verbieten

Im Verlauf der zweitägigen Konferenz hatten Forschende aus Rechtswissenschaft, Ethik, Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Erziehungswissenschaft ihre Ergebnisse präsentiert und sich mit Praktiker*innen aus Schule und sozialer Arbeit ausgetauscht. Die Vorträge zum Stand der empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschung fasste die Medienpsychologin Prof. Nicole Krämer von der Universität Duisburg-Essen zusammen: „Bislang haben wir nur erste Hinweise darauf, wie gut Kinder verschiedener Altersstufen die Gefahren verstehen können, die mit der Sammlung und Speicherung ihrer Daten einhergehen.“ Auch die britische Sozialpsychologin Sonia Livingstone von der London School of Economics and Political Science, stellte fest, dass es bislang eine ungenügende Datengrundlage gebe, um zu entscheiden, ab welchem Alter Kinder wirklich „informiert“ und „selbstbestimmt“ Social Media- Plattformen und Messenger-Dienste nutzen könnten. Ihre Forschungsergebnisse zeigten auch, dass Kinder zwar oft noch keine genaue Vorstellung davon hätten, dass und warum ihre Daten zu kommerziellen Zwecken gesammelt würden, dass sie aber den Wunsch hätten, besser aufgeklärt und auch geschützt zu werden. Vor allem wies sie darauf hin, dass die Gesellschaft nicht erst Technologien in die Welt bringen und dann den Kindern und Jugendlichen deren Nutzung verbieten könne, um sie vor den Gefahren zu schützen. Vielmehr müssten regulatorisch die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass trotz der Nutzung von Technologien die Privatsphäre gewahrt bliebe.

Kinder und Jugendliche sollen und wollen sich nicht an überwachten Alltag gewöhnen

Die Tagung machte deutlich, dass das gesellschaftliche Interesse an kritischen Fragen zur Überwachung von Kindern und Jugendlichen groß ist, vor allem aber auch, wie hoch die gesellschaftliche Relevanz des Themas ist. Kinder und Jugendliche sollen und wollen sich nicht an einen überwachten (Schul)Alltag gewöhnen. Die Institution Schule als Lernort für Demokratie und freie Meinungsbildung muss nach geeigneten Wegen suchen, innerschulischen Datenschutz durch innovative Lösungen und eine umfassende Strategie umzusetzen. Lehrende und Eltern müssen besser geschult werden, um zu einer Erhöhung der Medienkompetenz der Kinder und Jugendlichen beitragen zu können. Die Medienethikerin PD Dr. Jessica Heesen vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften resümierte die Ergebnisse der Konferenz: „Eine digitale Gesellschaft, die ein Kinderrecht auf Privatheit umsetzt, ist eine Gesellschaft, die für alle sicherer, demokratischer und freier ist.“

Foto- und Filmmaterial sowie Vortragsfolien zur Jahreskonferenz „Aufwachsen in überwachten Umgebungen: Wie lässt sich Datenschutz in Schule und Kinderzimmer umsetzen? finden Sie auf:
https://www.forum-privatheit.de/jahreskonferenz-2019/