„Unser Schuldbuch sei vernichtet!“
Wie der Straftäter Friedrich Schiller der schiefen Bahn doch noch entkam
Von Dr. Rolf-Bernhard Essig
„In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.“ Dieser erste Satz seiner Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ stimmt ohne Zweifel auch für die Geschichte Friedrich Schillers, dessen Leben an „Verirrungen“ nicht arm ist, der erst spät zu einem verlässlichen Menschen wird und zu einer Selbstständigkeit findet, die ihren Namen verdient. Als er 1786 seine Verbrechergeschichte schreibt, kann er nur hoffen, dass es mit ihm ein anderes Ende nehmen wird als mit seinem Helden Christian Wolf, dem Sonnenwirt. Der rutscht nach einer ersten Verurteilung immer tiefer und tiefer ins Verbrechen hinein und liefert sich am Ende selbst einem gewissen Galgen aus.
Es geht hier nicht darum, „den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit“ zur Schau zu tragen, „womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend auf die gefallene herunterblickt“, genauso wenig aber um die Fortführung der treu entschuldigenden Mär vom Künstlerleben, das eben so sein musste, um allgemein bewunderte Werke zu schaffen. Man kann sich einfach Schillers Vorgehen im Verbrecher aus verlorener Ehre zum Vorbild nehmen, zwar psychologisieren, doch gleichzeitig Handlungsalternativen imaginieren, so dass die Verantwortung des Individuums erkennbar wird. Und dann stellte Schiller sich selbst ja manchmal auf den Kopf, jedenfalls malerisch. Es lohnt sich, die Perspektive zu ändern und dadurch Schiller zwar nicht als Verbrecher zu sehen, doch als einen, der Gesetze brach, der Strafen entging, der andere gefährdete, der ohne die Hilfe von Gönnern leicht hätte vor die Hunde gehen können.
Vorgezeichnet war sein Schicksal nicht. Auch andere Kinder kamen schließlich wie Friedrich Schiller früh in die Militär-Pflanzschule nach Ludwigsburg, dann Stuttgart, wurden ihren Eltern geradezu entführt, den Familien bewusst entfremdet, indem man Kontakte extrem selten erlaubte, bekamen ihren Bildungsweg und die Berufswahl vorgeschrieben, unterlagen einem strengen Reglement mit rigiden Strafen, hatten einander zu beobachten, zu bewerten, ja zu bespitzeln und das schriftlich niederzulegen: „Zugleich aber unterstützten die Berichte ein System der wechselseitigen Gemütsspionage, Überwachung, Denunziation, Kontrolle und Bespitzelung, in dem die Eleven nicht nur Opfer, sondern auch Täter sein konnten. Zu bedenken bleibt hier, dass der Nachweis von Verfehlungen durch einen Bericht strengste Disziplinarstrafen, Einkerkerung und Prügel zur Folge haben konnte. Misstrauen, Furcht, Verstellung und verstecktes Konkurrenzdenken gehörten zur alltäglichen Stimmung eines Instituts, in dem die Schüler wechselseitig über einander zu Gericht saßen.“
Was Schiller zwischen 1773 und 1780 in dieser Kasernenschule erlebte, grenzte also an stalinistische Gehirnwäsche, an eine Programmierung der Seelen unter der wachsamen Aufsicht des Herzogs, der seine Eleven regelmäßig und aufmerksam überprüfte. Schiller funktionierte innerhalb dieses vorschriftsreichen Systems durchaus gut, fühlte er sich auch immer wieder unglücklich und allein. Kleine Verfehlungen und Regelverletzungen wie vernachlässigte Hygiene und Kleidung oder die verbotene Aufbesserung des Speiseplans durch süße Brötchen und Kaffee wirken fast wie Akte von Selbstbehauptung. Trotz des strengen Lehrplans konnte Schiller Freiräume nutzen, die sich vor allem durch echte sowie vermutlich vorgetäuschte Krankheiten öffneten. Dann träumte er von einer Karriere als Autor, schrieb erste literarische Texte: Gedichte, Szenen, die er Freunden heimlich vorlas. Später zeigte er sich zutiefst dankbar dafür, dass er in dem Internat, das Herzog Karl Eugen von Württemberg eingerichtet hatte, mit einer so umfassenden Bildung ausgestattet wurde. Seine Kenntnisse in Rhetorik, Sprachen, Philosophie, Literatur, Geschichte, Jura, Medizin und vielen anderen Gebieten eröffneten ihm eine Fülle von Tätigkeitsfeldern. Erst einmal musste er allerdings, wie es der gestrenge Herzog befahl, als Regimentsarzt dienen.
Kurz währte diese Karriere als Mediziner, und kein Biograf Schillers lässt sich die Gelegenheit entgehen, meist im Schwank- und Schnurrenton über den zu diesem Zeitpunkt doch eher ein- als umfassend ausgebildeten Heilkundigen zu berichten. Man könnte die Sache auch ernster ansehen. Als er mit Entlassung aus der Karlsschule am 15. Dezember 1780 Regimentsarzt in dem damals sprichwörtlich gewordenen Invalidenregiment Augé wurde – mit 23 Gulden monatlichem Gehalt –, waren seine theoretisch-philosophischen Medizinkenntnisse gut, seine praktischen deutlich verbesserungswürdig. Er hatte zwar bei regelmäßigen Krankenhausbesuchen während der Ausbildung Patientenkontakt gehabt, sah dabei aber eher Untersuchungen zu als sie durchzuführen. Er wusste nur so ungefähr, wie man Krankheiten erkennt, eine gute Anamnese durchführt, konnte sich einigermaßen vorstellen, wie man Unfälle behandelt oder welche Wirkung Heilmittel haben. Deshalb lehnte der Herzog auch einen Antrag von Schillers Vater ab, den Uniformzwang des Sohnes zu lockern und ihm eine Privatpraxis zu erlauben. Damit wollte er einerseits den teuer ausgebildeten Zögling ausschließlich für die eigenen Soldaten einsetzen, andererseits wohl die Stuttgarter vor Schillers Herumpraktizieren schützen. Dem unerfahrenen Regimentsarzt 420 Männer als Versuchskaninchen anzuvertrauen, das war tolerabel.
Tatsächlich hätte Schiller ab 1780 dort die Möglichkeit gehabt, sich umfassend medizinisch fortzubilden, praktisch in den Arztberuf hineinzuwachsen, Kollegen zu konsultieren, bei diesen zu hospitieren. Der Dienst ließ ihm, wie seine vielfach belegten Freizeitaktivitäten zeigen, außerdem genügend Zeit, seine theoretischen Kenntnisse zu verbessern. Das reizte ihn alles offensichtlich wenig. Ein einziges „Fachbuch“ erwarb er in dieser Zeit, einen Apotheker-Almanach, um wenigstens etwas mehr über Medikamente zu erfahren. Es wirkt insofern wie eine unverfrorene Doppelhochstapelei, wenn er nicht nur im Status des Wenigwissenden verharrte, sondern auch oft mit dem Buchstaben „D“ vor seinem Namen unterschrieb. Der stand für „Doktor“. Dieser Titelmissbrauch stellt Schillers ersten unbezweifelbaren Gesetzesbruch dar. Schiller hat an der Karlsschule zwar sogar drei Dissertationen abgeliefert, aber die war nun einmal keine Universität. Für die rechtmäßige Führung des Doktortitels fehlte ihm eine mündliche Prüfung, abzulegen an der Universität Tübingen. Diesen nicht allzu großen Aufwand betrieb der Regimentsmedikus nicht. Der Widerwille gegen das Lernen lässt sich nach sieben Jahren Lernkaserne zwar verstehen, aber niemand zwang Schiller, den Titel fälschlich zu führen.
Nun, ein falscher Doktor tut niemandem weh, ein Doktor, der sich zuviel zutraut und offensichtlich seinen Dienst auf die leichte Schulter nimmt, schon, nämlich seinen Patienten. Deren Gesundheit missachtete und gefährdete er. Was er an Medikamenten, vor allem Brech- und Durchfallmitteln verschrieb, grenzt an oder ist schon Körperverletzung im Dienst. Und dabei geht es nicht um den damaligen Stand der Medizin: „Sein Vorgesetzter, der Leibmedikus Johann Friedrich Elwert […] korrigierte bisweilen stillschweigend die abenteuerlichen Mixturen, die Schiller verabreichen ließ. Um Unheil zu verhindern, beauftragte er die Wundchirurgen, die als medizinische Assistenten amtierten, mit einem regelmäßigen Rapport über die Verschreibungen des Regimentsarztes.“ Mit galliger Selbstironie macht sich Schiller über seine Qualität
als Arzt und Dramatiker lustig, wenn er in seiner anonym veröffentlichten, äußerst umfangreichen Selbstrezension der Räuber am Ende über den Autor schreibt: „Er soll ein Arzt bei einem wirtembergischen Grenadier-Bataillon sein, und wenn das ist, so macht es dem Scharfsinn seines Landesherrn Ehre: So gewiß ich sein Werk verstehe, so muß er starke Dosen in Emeticis [Brechmitteln] ebenso lieben als in Aestheticis, und ich möchte ihm lieber zehen Pferde als meine Frau zur Kur übergeben.“Wichtiger als der Dienst, die Medizin, sein Ruf galt Schiller der kraftgenialische Auftritt im Kreise seiner Freunde und Kameraden, das Trinken, Rauchen, Kartenspielen und natürlich das Schreiben, von dem er sich Ruhm und Geld erhoffte. Freilich kostete es ihn erst einmal Geld. Schiller bildete sich nämlich ein, sein erstes Drama müsse unbedingt gedruckt werden. In einem Brief Ende November oder Anfang Dezember 1780 an seinen Freund Wilhelm Petersen erklärte er:
„Der erste und wichtigste Grund, warum ich die Herausgabe wünsche, ist jener allgewaltige Mammon, dem die Herberge unter meinem Dache gar nicht ansteht – das Geld. Stäudlin hat für einen Bogen seiner Verse einen Ducaten von einem Tübinger Verleger bekommen, warum sollt ich nicht für mein Trauerspiel, das durch den neuen Zusaz, 12-14 Bogen enggedrukt abgeben wird, von einem Mannheimer nicht eben soviel – nicht mehr bekommen können. Was über 50 Gulden abfällt ist Dein. Du must aber nicht glauben als ob ich Dich dadurch auf einem interessirten Wesen ertappen wollte, (ich kenne Dich ja) sondern das hast Du treu und redlich verdient und kannst brauchen.“
Der zweite Grund sei, das Urteil der Welt zu erfahren, der dritte, dass er vor einer für wahrscheinlich gehaltenen Karriere als „Professor in der Physiologie und Medicin“ die literarischen Schriften schnell noch durch Publikation wegräumen müsse. Wie ein Milchmädchen rechnet Schiller hier wie so oft noch mit vollkommen unsicheren Einnahmen, die er dazu schon mit seinem Freund teilt, und außerdem mit einer akademischen Laufbahn, obwohl er kein bisschen für sie tut.
Dass er an seine Rechnungen tatsächlich glaubte, tut nichts zur Sache. Wirklich problematisch wird es nur dadurch, dass der mittellose Regimentsarzt Die Räuber nicht, wie es so oft heißt, auf eigene Kosten drucken ließ, sondern auf fremde. Er lieh sich die 150 Gulden. Das sind immerhin sechseinhalb seiner Monatsgehälter, und der Sold reichte ihm 1780 schon nicht, weshalb er bei Wirten anschreiben ließ. Statt also einen Verlag zu suchen oder wenigstens einen Buchhändler, der ihm die Auflage oder einen Teil davon garantiert abnähme, bat er in Stuttgart die Korporalsfrau Fricke um das Geld. Zumindest bürgte sie für den ansonsten nicht kreditwürdigen Schiller. „Damit beginnt eine Kette von finanziellen Abhängigkeiten, die Schiller bis zum Ende der 80er Jahre belasten. Noch kurz vor der Übernahme der Jenaer Professur, im Herbst 1788, muß er Gläubiger befriedigen, die auf die Erfüllung weit zurückliegender Verpflichtungen pochen.“
Der Druck der Räuber bedeutete für Schiller Katastrophe und Gewinn zugleich. Er konnte niemanden zur Abnahme der Bücher überreden, konnte die Schulden nicht begleichen. Doch der Verleger Christian Friedrich Schwan in Mannheim fand die ihm als Köder geschickten Ansichtsbogen so beeindruckend, dass er sie dem Leiter des Theaters zur Lektüre empfahl. Wolfgang Heribert Reichsgraf von Dalberg biss an und versprach dem Jungdramatiker eine Aufführung. Sie sollte Epoche machen in Schillers Leben.
Warum der stolze Autor seinen Vorgesetzten nicht um Urlaub bat, als er am 12. Januar 1782 zur Uraufführung seiner Räuber am nächsten Tag nach Mannheim fuhr? Strenggenommen war das schon ein Dienstvergehen. War es Leichtsinn, Vorsicht, Furcht, Unsicherheit? Schließlich hätte die Aufführung ja ein Debakel werden können. Rechnete er damit, dass militärische Vorgesetzte oder sein Herzog die dramatischen Ideen eines Regimentsarztes für ärgerlich halten könnten, unpassend, ja unmöglich? Dass man ihm Pflichtvernachlässigung vorwerfen könnte?
Konnte er beim ersten Mal noch glauben, dass niemand von dem Ausflug Notiz nehmen werde, so ist das für den zweiten kaum denkbar, denn die Räuber-Premiere glich einem Triumph, der sich auch in Stuttgart und Ludwigsburg herumsprach. Wieso also fuhr er am 25. Mai 1782 erneut ohne offizielle Erlaubnis nach Mannheim? Schiller weihte immerhin diesmal den Kommandeur des Regiments ein, Oberst Otto Wilhelm Alexander von Rau-Holzhausen, der ihn um äußerste Diskretion und Reise in Zivil bat. Die offiziell eingereichte Krankmeldung passte zu dem erbetenen Verhalten, ganz und gar nicht dagegen, die Reise nach Mannheim mit zwei Frauen anzutreten, seiner Vermieterin und der Mutter seines Schulfreundes Wilhelm, Henriette von Wolzogen, die noch sehr wichtig für ihn werden würde. Und dann blieb die kleine Reisegesellschaft sogar vier Tage fort. Es scheint, als hätte Schiller Glück im Leichtsinn gehabt, denn Woche um Woche verging ruhig. Ende Juni dann musste doch jemand geplaudert haben, laut genug, dass es sogar Herzog Karl Eugen erfuhr. Der lud Schiller am 28. Juni wütend vor, verhörte ihn intensiv und fragte nach Mitwissern unter den militärischen Vorgesetzten. Schiller deckte Oberst Rau-Holzhausen und schwieg ansonsten, was den Herzog an einem seiner Lieblingseleven, dem er schon manche Gnade erwiesen hatte, möglicherweise besonders ärgerte. Er drohte ihm mit Festungshaft, er drohte, Schillers Vater zu entlassen, der für ihn als Leiter der Hofgärten arbeitete. Schiller schwieg weiter. Der Herzog ordnete vierzehn Tage Arrest an. In der Haft fehlten weder die Karten noch die Partner fürs Spiel. Fünfzehn Gulden ärmer und vierzehn Tage später ging der Regimentsmedikus und Jungautor Friedrich Schiller wieder frei durch die Straßen Stuttgarts. Die unerlaubte Entfernung hätte weitaus strenger bestraft werden können.
Für die weitere Zuspitzung konnte Schiller wenig. Wer rechnet beim Dramenschreiben schon mit der Lektüre und dem bierernstem Regionalstolz von Graubündenern? Im April 1782 hatte man sich in Chur in der Zeitschrift Der Sammler über Schillers Frechheiten beschwert, einen Kommentar von ihm verlangt, Ende August nun erreichte den Herzog von Württemberg die bittere Klage der Bündnerischen ökonomischen Gesellschaft. Worum ging es? Im zweiten Akt der Räuber erklärt der Gauner Spiegelberg: „zu einem Spitzbuben wills Grütz – auch gehört darzu ein eigenes Nationalgenie, ein gewisses, daß ich so sage, Spitzbubenklima, und da rat ich dir, reis du ins Graubünder Land, das ist das Athen der heutigen Gauner.“ Wieder zitierte der Herzog Schiller zu sich, diesmal noch erboster. Er kritisierte scharf die Beschimpfung der Graubündner im Stück, erlaubte Schiller keine Widerrede, keine Verteidigung, keine Erklärung. Schlimmer noch, Karl Eugen verbot ihm kategorisch die Veröffentlichung von Literatur.
Am 1. September schon wendete Schiller sich unklug hastig an den Landesherrn mit einem ausführlichen Bittgesuch, das Schreibverbot wieder aufzuheben. Es ist nicht ausschließlich devot geschrieben, sondern enthält selbstbewusste Herausforderungen. Geradezu frech lügt der ja wegen der Literatur hochverschuldete Literat, es entgingen ihm 550 Gulden zusätzliche Einnahmen jährlich, dürfe er nicht mehr poetisch und dramatisch tätig sein. Und dann erwähnt er noch stolz, dass er allein der Karlsschule einen gewissen Ruhm über Württemberg hinaus verschafft habe und damit auch seinem Landesherrn. Bei aller Hoffnung, die der Herzog nachgewiesenermaßen in Schiller setzte, konnte er seine soeben getroffene Entscheidung, ohne für wankelmütig oder lächerlich gehalten zu werden, nicht zurücknehmen. Karl Eugen verbat sich verständlicherweise die Annahme dieser und weiterer Bittschreiben. Das bewog Schiller, am 22. September des Jahres zu desertieren.
Sein Verhalten haben Freunde damals, später auch Biografen, Literaturhistoriker und Leser schon oft bewundert und gerechtfertigt als Zeichen dafür, wie ernst der Autor es mit der Kunst meinte. Man kann mit ähnlichem Recht davon sprechen, ein junger Mann habe sich erst mutwillig in eine Unrechtsposition manövriert und dann kopflos mit einer Straftat, dem Desertieren, reagiert, wodurch er seine Existenz, die seiner Familie und anderer gefährdete.
Die Schulden, weit mehr als ein Jahressold – er hatte noch einen Almanach auf „eigene“ Kosten veröffentlicht – ließ er unbezahlt zurück: im Wirtshaus „Zum goldenen Ochsen“ 13 Gulden 39 Kreuzer, 150 Gulden, für welche die Korporalin Fricke bürgte, 100 Gulden bei der Frau des Generals Karl Ludwig Friedrich Baron von Holle (für die Zinsen kam unwirsch Schillers Vater auf), 50 Gulden bei Hauptmann Johann Friedrich Wilhelm Schade. Außerdem hatte der Herzog Schiller ja schon einmal gedroht, seinen Vater zu entlassen, was eine Katastrophe für die Familie gewesen wäre. Schließlich floh Schiller nicht allein, sondern mit seinem Freund, dem zwei Jahre jüngeren Musiker Andreas Streicher, den er damit in seine Straftat hineinzog. Die romantische Fluchtzutat von zwei defekten Pistolen, die Schiller einsteckte, machten die Sache – juristisch gesehen – unnötig ernst. Mit Glück entwichen Streicher und Schiller unerkannt. Ach ja, der junge Autor, der um seinen Platz im Geistesleben Deutschlands kämpfte, nahm ohne Skrupel das Geld seines jungen Musikerfreundes an, das seine Mutter und er gespart hatten, damit Streicher bei einem der wichtigsten Komponisten seiner Zeit lernen könnte, bei Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg.
Nein, ein Verbrechen ist es nicht, Streichers Gutmütigkeit und Bewunderung auszunutzen. Er, der nun genauso Hilfe hätte gebrauchen können, half sich freilich selbst, schlug sich fleißig als Klavierlehrer in Mannheim durch, arbeitete sich hoch mit Kompositionen, Instrumentalschulen, heiratete klug, lernte Klavierbau, wurde darin hochgeschätzter Spezialist und Miteigentümer einer Manufaktur, erwarb sich Verdienste um Beethovens Werk. Streicher zeigt, wie man mit wenig Geld und großem Fleiß sein Schicksal in die Hand nimmt. Sein eindrucksvolles Beispiel beeinflusste Schiller nicht.
Er schrieb immerhin, kaum in Mannheim angekommen, einen Brief an den Herzog, der die unerlaubte Entfernung anzeigte und erneut um eine Aufhebung des Schreibverbots bat, obwohl ihm eine solche Eingabe explizit verboten worden war. Gleichwohl „… verzichtet der Souverän darauf, ihn unter Mobilmachung seines gewaltigen Personalstabs konsequent zu verfolgen. Während er sonst Spitzel und Geheimagenten einsetzt, um Deserteure zu ergreifen, begnügt er sich hier mit einer vermittelnden Strategie. In seinem Auftrag schreibt der Regimentschef Augé innerhalb weniger Tage vier Briefe an den Flüchtling, in denen er für den Fall seiner Rückkehr Generalpardon zusichert – eine Geste, die für den selbstgefälligen Despoten höchst ungewöhnlich bleibt. Auf Repressalien und Strafaktionen verzichtet er ebenso wie auf Vergeltungsmaßnahmen gegenüber der Familie.“
Die Briefe von General Johann Abraham David von Augé thematisierten sogar eine Prüfung des Schreibverbots, aber Schiller genügte das nicht. Er forderte am 17. Oktober 1782 kategorisch die schriftliche Erlaubnis des Herzogs, wieder literarisch arbeiten zu dürfen. Auf dieses Misstrauensvotum eines Deserteurs, das zudem einer Erpressung glich, ging der Herzog nicht ein. Am 31. Oktober strich er Schiller aus der Regimentsliste. „Neben seinem Namen erscheint das Stichwort ‚ausgewichen’; es bezeichnet den Tatbestand der Fahnenflucht, der juristische Konsequenzen – Festungshaft und Degradierung – nach sich zu ziehen pflegte.“
Unter diesen Umständen wollte Intendant Dalberg in Mannheim nichts von einer Anstellung Schillers als Theaterdichter wissen. Fahnenflüchtig, hoch verschuldet, ohne klare Berufsaussichten floh er zu einer mutigen Gönnerin, Henriette von Wolzogen, die ihn auf einem ihrer Güter in Bauerbach aufnahm, zusätzlich zum Logis noch Kost, Aufwartung, Feuerholz und Wäsche zur Verfügung stellte, bald auch Geld. Das verwendete er aber nicht etwa, um seine Stuttgarter Schulden zu tilgen, über die er seiner Schwester am 6. November 1782 in seltsam übermütigem Stolz schrieb:
„Für meine Schulden können meine Eltern stehen [bürgen], denn ich hätte bereits schon die Hälfte davon abgetragen, wenn es nicht meine erste Pflicht wäre, zuerst mein Glük zu etablieren. Meinen Schuldnern verschlägt es nichts, ob sie 3 Monat früher oder später bezahlt werden, da die Zinse fortlaufen, mich aber kann das Geld, das ich ihnen izt schiken würde, an den Ort meines Glüks bringen. Das ist eine Billigkeit, die jedermann erkennen mus, und wofür wäre ich denn solang ein rechtschaffener Mann gewesen, wenn mir dieses Prädikat nicht einmal auf ein Viertel- oder Halbjahr Credit machte. Sage dieses den Leuten, so wird alles sich zufriedengeben.“
Wann Schiller seinen Ruf als „rechtschaffener Mann“ erworben haben will, wird sein Geheimnis bleiben. Und ob seine Schuldner wirklich solchen Anteil an der Etablierung seines Glücks nahmen, seiner „ersten Pflicht“? Henriette von Wolzogen tat es, und Schiller nutzte das aus, indem er sie weiter und regelmäßig anpumpte, ohne auf ihre Situation Rücksicht zu nehmen, die zwar Einkünfte, aber kein großes Barvermögen besaß, und mit Schiller nun neben ihren fünfen gleichsam ein sechstes Kind zu versorgen hatte. Am Ende werden es 540 Gulden sein, die er ihr schuldet. Sie selbst, die für den Betrag bürgte, musste wohl die jährlichen 5 % Zinsen beim Geldverleiher Israel in Bauerbach übernehmen.
Immerhin wurde Schiller im August 1783 doch noch für 300 Gulden jährlich in Mannheim als Theaterdichter angestellt. Einmal im Monat durfte er zusätzlich die Einnahmen eines Theaterabends seiner Wahl behalten. Von dieser Regelung ist selten genauer die Rede, aber es haben sich Quittungen beim Theater erhalten, die für Dezember 1783, Mai, Juli, August 1784 jeweils 50 Gulden für den Theaterdichter nachweisen, und es sind weitere Quittungen wohl nur verlorengegangen. Selbst so sind die 500 Gulden schon deutlich mehr als zu Regimentsarztzeiten in Stuttgart und für Schiller die Erfüllung eines Traums. Traumverloren wirkt es, dass er seinen Vorschuss von 200 Gulden gleich ausgab, obwohl Wolzogen und sein Vater auf die Begleichung der Schulden drängten. Das Geld schien förmlich zu verdunsten. Selbst Schiller bemerkte das, und so beruhigte er sich wie üblich mit immer neuen Hoffnungskalkulationen, luftigen Schuldentilgungsplänen, rosigen Einnahmespekulationen. Ein Verschwender war der Dramatiker nicht, ein sparsamer Schwabe freilich ebenso wenig. Zwar rechnet er in einem langen erklärenden Brief vom 13. November 1783, der seine Sparsamkeit schildern soll, Wolzogen vor, wie das teure Leben in Mannheim daran schuld sei, dass er nicht zurückzahlen könne, man kann dem Schreiben aber auch ablesen, dass Schiller seine Kleidung, sein Auftreten in der Öffentlichkeit, seine Bedienung wichtiger waren als die Probleme und Ansprüche seiner Gläubiger und Gönner.
Fleißig arbeitete er an allerlei Projekten, sogar noch in schwerer Krankheit, und konnte für Mannheim zwei Stücke präsentieren, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua und Luise Millerin. Pech hatte er zuweilen, Theaterquerelen und Liebeleien behinderten die Arbeit, Unruhe im Ensemble und Streit ließen ihn finanziell nicht auf die Beine kommen. Statt Rückzahlungen der alten folgten neue Schulden. Schließlich 1784 der schwerste Schlag: das Auslaufen seines Theatervertrags. Kein Geldeingang mehr.
Wie sehr er bislang auf Kosten und Risiko anderer lebte, wie leichtfertig er deren Ruf aufs Spiel setzte, merkte Schiller, als Ende Juli die Korporalin Fricke zu ihm nach Mannheim fliehen musste. Seine Gläubiger saßen ihr, der Bürgin, im Nacken, denn sie konnte die inzwischen durch Zinsen auf 200 Gulden angewachsene, längst fällige Schuldenlast nicht begleichen. In Mannheim verhaftete man dann nicht Schiller, sondern sie. Ein Prozess wegen Schuldbetrugs drohte, der ihrer beider Ruf und bürgerliche Existenz schwer beschädigen, vielleicht vernichten konnte. In dieser aussichtslosen Situation rettete sie vollkommen überraschend Schillers Vermieter, der Maurermeister Anton Hölzel, der 100 Gulden auslegte, von denen Schiller 80 an Fricke weiterreichte, 20 behielt, weil er vollkommen abgebrannt war. Als Gerüchte immer lauter wurden, Fricke und Schiller fälschten Wechsel, seien Betrüger, bürgte zähneknirschend sein Vater für die Summe, obwohl er die Hälfte seines Jahressalärs dafür aufwenden musste. Seinem Sohn schrieb er am 23. September 1784 einen hoch enttäuschten Brief, in dem er weitere Unterstützung ablehnte.
In der ganzen Mannheimer Zeit gelang es Schiller nur, die kleinste, die Fünfzigguldenschuld bei Hauptmann Schade, zu tilgen. Verständlich, dass er in dieser Situation
einen Befreiungsschlag im Sinn hatte, statt beispielsweise als Arzt sein Geld zu verdienen. Er spekulierte mit einem Zeitschriftenprojekt namens Rheinisches Museum, das später Rheinische Thalia heißen wird. Es werde ihm, wie er blauäugig seinem Vater und Henriette von Wolzogen vorrechnete, 1.000 Taler im Jahr einbringen. Wenn! Ja, wenn er 500 Abonnenten finden könnte und einen guten Verleger und einen guten Vertrieb und gute Beiträger und und und. Nichts davon hatte Schiller damals.Wieder kam ihm unverschämtes Künstlerglück zu Hilfe. Die Rettung nahte in Gestalt der vier Freunde Christian Gottfried Körner, Ludwig Ferdinand Huber, Dora und Minna Stock, die Schiller anonym einen Fanbrief mit fein ausgewählten kleinen Gaben übermittelten. Den ließ Schiller erst ein halbes Jahr liegen, dann – in höchster Not – bedankte er sich endlich und gestand den fernen Freundlichen seine prekäre Situation, seinen Wunsch, Mannheim den Rücken zu kehren, zu ihnen nach Dresden zu übersiedeln, was wegen der Schulden nicht möglich sei. Körner war praktischerweise so reich wie zartfühlend. Er spann im März 1785 mit Verleger Georg Joachim Göschen eine positive Intrige. Der sollte nämlich Schiller die ihm dringlich nötigen 300 Gulden als Scheinhonorar für die Rheinische Thalia geben, die in Wirklichkeit aber Körner dem Verleger bezahlen sollte. So hatte der Verleger kein Risiko, der Autor eine Zeitschrift und ein gutes Gefühl. Zudem konnte er die dringlichsten Schulden und Bürgschaften wenigstens in Mannheim abtragen. Das wird vor allem seinen Wohltäter Anton Hölzel sehr erleichtert haben.
Eine neue Epoche schien für Schiller zu beginnen. Befreit und begeistert schrieb er 1785 für Körner das berühmte Gedicht „An die Freude“. Darin findet sich eine Strophe, die für beide Freunde einen ganz besonderen Klang gehabt haben wird:
„Unser Schuldbuch sei vernichtet!
Ausgesöhnt die ganze Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Richtet Gott, wie wir gerichtet.“
Körner hat zu diesem Zeitpunkt Schiller versprochen, ihn im nächsten Jahr finanziell abzusichern, und er erstellt, weil Schuldbücher in einer nichtidealen Welt nur selten vernichtet werden, einen vernünftigen Entschuldungsplan. Der misslingt, weil Schiller zu wenig verdient, zuviel ausgibt, beispielsweise für teuren Tabak und Wein. Er macht sogar trotz Körners Unterstützung in Dresden weitere Schulden. Wieso Schiller unter den recht guten Startbedingungen und Aussichten mit seiner Zeitschrift Rheinische Thalia nicht recht Ernst macht? Sein Biograf Peter-André Alt meint: „Der Enthusiasmus, mit dem er sein Projekt noch während der ersten Dresdner Monate vorantrieb, erstickt rasch im prosaischen Arbeitsalltag des Herausgebers. Diese Entwicklung bleibt charakteristisch auch für Schillers spätere publizistische Unternehmungen; zwar träumt er von höchsten programmatischen Standards und gewaltigen Umsätzen, jedoch schreckt er vor der monotonen Routine der editorischen Pflichten zurück, weil sie seine literarische Phantasie lähmt und die kreativen Kräfte einschränkt.“ Die Zeitschrift erscheint deshalb auch unregelmäßig, ohne rechtes Profil, mit sehr unterschiedlichen Beiträgen und Beiträgern. Kein guter Weg, um Abonnenten zu gewinnen oder zu halten, gar seine Außenstände zu begleichen.
Der wegen seiner Schulden in schlimmen Kalamitäten steckenden Henriette von Wolzogen muss Schiller deshalb gestehen, dass er für die so oft versprochene Begleichung der Bauerbacher Wechsel wiederum zwei Jahre mehr benötigt, als er dachte; siebenmal hat er sie insgesamt mit Zusicherungen vertröstet – und alle gebrochen. Man ist versucht, das Lied An die Freunde zu zitieren:
„Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie,
Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie!“
Wolzogen muss sich über die konstante Unzuverlässigkeit nur kurz ärgern, denn sie stirbt wenig später am 5. August 1788 über den Schulden. Schiller wird sie erst ihrem Sohn bezahlen.
Um 1790 herum konsolidiert sich seine Situation endlich, als sich literarische und soziale Erfolge einstellen. Der Geisterseher trifft den Geschmack des Publikums außerordentlich gut, ebenso seine Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande, er findet Anerkennung in Weimar, dazu die Anstellung als Geschichtsprofessor in Jena. Die Heirat mit Charlotte von Lengefeld sowie eine lebensgefährliche Erkrankung scheinen Schillers Finanzvernunft erweckt zu haben. Nachdem ihn ein Stipendium aus Dänemark für fünf Jahre finanziell absichert, kann er unbelastet produzieren, seine Finanzen in Ordnung bringen, vielleicht auch mit mehr Selbstbewusstsein Verträge aushandeln, klüger haushalten. Sehr lohnende Verbindungen wie die zum Verleger Friedrich Cotta, immer größerer Erfolg seiner Dramen helfen ihm, Uraltschulden doch noch zu begleichen, ein unbelastetes Leben zu führen. Die Schreib- und Finanzpläne haben jetzt deutlich mehr mit der Realität zu tun, so dass er, als er 1805 stirbt, ein prächtiges und praktisch schuldenfreies Haus hinterlassen kann, dazu seiner Familie weitersprudelnde Einnahmen aus seinen Werken.
Schiller ein Verbrecher? Nein. Ein Straftäter? Ohne Frage, denn Titelmissbrauch und Desertion sind strafbewehrte Taten. Und ganz sicher lag es nicht an ihm allein, dass er Schuldgefängnis, Festungshaft, Verlust der Ehre, eine Verurteilung wegen Schuldbetrugs vermeiden konnte. Es waren Andreas Streicher, Johann Caspar Schiller, die Korporalsgattin Fricke (der zum Dank in der Literaturgeschichte nicht einmal ein Vorname, aber ein bloß behaupteter übler Leumund übrigblieb), Anton Hölzel, Christian Gottfried Körner. Ohne sie keine unvergänglichen Werke, kein Klassikerruhm, kein Nationaldichterstatus. Das 19. Jahrhundert stilisierte Schiller bis zu dem Grade, dass man ihm schon fast die unbefleckte Empfängnis andichtete. Darauf reagierte Anfang des 20. Jahrhunderts anlässlich der Hundertfünfzigjahrfeier des Klassikergeburtstags 1909 der geniale Kritiker und Schiller-Verehrer Alfred Kerr mit einem ironischen Zweizeiler:
„Nichts an dir war scheel und niedrig,
Teurer Schiller, edler Friedrich!“