Warum gerade jetzt ein Buch über das „deutsche Terrorjahr“ 1977?
RAF-Bestseller-Autor Butz Peters schildert die Hintergründe für sein neues Werk „1977 – RAF gegen Bundesrepublik“
Lässt man heute das Jahr 1977 Revue passieren, erscheint vieles an ihm verrückt – eines ganz besonders: Fortlaufend passierten Dinge, die kaum jemand für möglich
gehalten hatte und deren Dimension schlicht das Vorstellungsvermögen der Bundesbürger sprengte.Am Gründonnerstag erschoss ein RAF-Kommando Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiter, als sie in seinem Dienst-Mercedes vor einer roten Ampel in Karlsruhe warteten. Ende Juli führt Susanne Albrecht, Tochter aus
Die Geschichte, die ich in 97. Kapiteln erzähle, ist aber keine Geschichte von vor vierzig Jahren, sondern eine Geschichte von vierzig Jahren: Erst im Laufe dieser Zeit stellte sich nämlich heraus, was 1977 tatsächlich passierte. Die juristische Aufarbeitung des komplexen Tatgeschehens beschäftigt seit vier Jahrzehnten die Justiz. Allein in den vergangenen fünf Jahren, zwischen 2012 und 2016, liefen ein Dutzend Ermittlungs- und Gerichtsverfahren wegen des RAF-Geschehens 1977. Das – voraussichtlich – letzte Gerichtsverfahren ist noch immer nicht abgeschlossen. In einem „Klageerzwingungsverfahren“ zum Mord an Generalbundesanwalt Buback und seinen Begleitern wird das Oberlandesgericht Stuttgart in diesem Jahr entscheiden. Voraussichtlich jedenfalls.
Aber warum gerade jetzt ein Werk über dieses große deutsche Thema „1977“? Ausgerechnet jetzt? Weil die Quellenlage noch nie so gut war wie heute: Sie wird in der Zukunft nicht besser werden – sollten nicht alle Anzeichen trügen. Also der optimale Zeitpunkt für eine Betrachtung des komplexen Geschehens:
Zehn Jahre nach der „Offensive ‘77“ lag vieles noch völlig im Dunkeln. Beispielsweise, wer zu dem Kommando gehörte, das die vier Begleiter von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in Köln erschoss. So ging das Oberlandesgericht Stuttgart 1985 in seinem für das RAF-Jahr 1977 grundlegenden Urteil gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar davon aus, dass es sich um „mindestens fünf ‚RAF‘-Mitglieder“ gehandelt hätte, „darunter möglicherweise eine Frau“. Heute wissen wir, dass es vier Attentäter waren – und wie sie heißen. Ähnliches gilt für den Mord an Dresdner Bank-Chef Jürgen Ponto. Das Oberlandesgericht Stuttgart urteilte 1985, dass dem Entführungs-Kommando Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Willy Peter Stoll und ein weiteres, namentlich unbekanntes, männliches RAF-Mitglied angehörten. Heute wissen wir, dass es insgesamt fünf Täter waren, Christian Klar und Peter Jürgen Boock gehörten dazu, ebenso, was die RAF im Einzelnen mit Ponto vorhatte und warum die „Türöffnerin“ Susanne Albrecht für die gesamte RAF anschließend zu einem erheblichen Sicherheitsrisiko wurde.
Zwanzig Jahre später, 1997, waren Erkenntnisse über das Terrorjahr schon wesentlich konturreicher: Fast alle RAF-Aussteiger, die 1990 in der DDR gefasst worden waren, hatten umfassend ausgepackt – vor Augen einen erheblichen Strafrabatt durch die Kronzeugenregelung. Erst ein Jahr zuvor war sie in Kraft getreten. Und schließlich bestätigte erst im Dezember 2000 das Bundesverfassungsgericht die Schlüsselentscheidung zu der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut vom Oberlandesgericht Frankfurt aus dem Jahr 1998. Die Entführung der Boeing mit Mallorca-Urlaubern durch ein Palästinenser-Kommando, beauftragt von der RAF, brachte den dramatischen Höhepunkt des „Deutschen Herbst“. Einundzwanzig Jahre nach der Tat bereiteten die Frankfurter Richter in einem 220-Seiten-Urteil den Sachverhalt akribisch auf.
Dreißig Jahre nach 1977 – 2007 – fehlte noch immer eine präzise Ausleuchtung der „Vorgeschichte“ der „Offensive ’77“. Die lieferte 2012 das Oberlandesgericht Stuttgart; 2013 bestätigte der Bundesgerichtshof die Entscheidung: Die Vorgeschichte des Blutjahrs 1977 beginnt Anfang 1976 am Rande der jemenitischen Wüste, zwei Autostunden von Aden entfernt, in einem früheren britischen Militärcamp. Die filigrane Betrachtung der Kausalitäten reicht weiter: Sie ergibt, dass die Dinge ihren Lauf exakt zwei Tage vor Ende der Lorenz-Entführung in Berlin 1975 nahmen: An diesem Montag ließ die Bundesregierung den Untersuchungshäftling Verena Becker in den Südjemen ausfliegen: Dort bildete sie einige Monate später mit Baaders Ex-Anwalt Siegfried Haag den Nukleus der Gruppe, die die „Offensive ’77“ konzipierte – fünftausend Kilometer von Deutschland entfernt.
Der Betrachtungszeitpunkt für das Gesamtgeschehen ist jetzt aber auch deswegen ideal, weil es mittlerweile nicht mehr sehr wahrscheinlich ist, dass die Bundesanwaltschaft wegen 1977 noch ein neues Ermittlungsverfahren einleitet. Hinzu kommt, dass die 30-Jahres-Verschlussfrist der Archivgesetze verstrichen ist. So sind nun auch Akten zugänglich, die nach 1977 zu dem Geschehen seinerzeit gefertigt wurden. Beispielsweise aus einem jahrelangen Rechtsstreit zwischen RAF-Anwalt Klaus Croissant und dem Land Baden-Württemberg, nachdem 1977 Lauschangriffe in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim bekannt geworden waren. So lässt sich nun – pars pro toto – im Hauptstaatsarchiv Stuttgart an Hand der freigegebenen Akten des Landeskriminalamtes, des Innen- und Justizministeriums in Baden-Württemberg nachvollziehen, in welchem Umfang Häftlinge in Stammheim abgehört wurden.
Auch tendiert mittlerweile die Wahrscheinlichkeit gegen Null, dass durch menschliche Quellen die derzeitige Erkenntnislage noch nennenswert verbessert wird. Für die einstigen RAF-Mitglieder gilt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach wie vor das Motto: „Von uns keine Aussagen“. Viele der Akteure des Jahres 1977 sind mittlerweile verstorben. So Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, BKA-Abteilungsleiter Gerhard Boeden, Herold-Berater Willy Terstiege und der RAF-Analytiker Alfred Klaus – mit allen führte ich Interviews in den achtziger, teilweise neunziger Jahren. Und dass das menschliche Gedächtnis nicht dafür geschaffen wurde, Einzelheiten über mehr als drei Jahrzehnte verlässlich zu speichern, zeigten Ermittlungs- und Gerichtsverfahren ebenso wie Interviews in jüngerer Zeit.
Die Auseinandersetzung RAF – Bundesrepublik 1977 ist eine komplexe Geschichte – mit den Komponenten „revolutionäres“ Bewusstsein gekreuzt mit krimineller Energie auf hohem Niveau sowie extremer Brutalität auf der einen Seite, und auf der anderen: Schockstarre, kriminalistische Strategien und staatspolitische Räson. Entscheidend geht es um die Machtfrage. Die RAF hatte sie gestellt, weil sie glaubte, dass es ihr gelingen wird, dem Staat elf ihrer Mitglieder aus den Gefängnissen abzupressen.
Woher stammt all das, was sie auf den rund 550 Seiten lesen können? Grundlage sind Gespräche mit Zeitzeugen und Dokumente – Gerichtsurteile, Erklärungen von RAF-Mitgliedern und Aussteigern, Vernehmungsprotokolle, polizeiliche Ermittlungsberichte, Anklageschriften, Erklärungen in Prozessen von Angeklagten und Zeugen. Aber auch Informationen von RAF-Mitgliedern gehören dazu, die nicht bekannt werden sollten, wie von der Polizei entdeckte Kassiber oder von ihr mitgeschnittene Telefonate.
Nicht als Erkenntnisquelle zur Verfügung standen mir Gespräche mit den beiden RAF-Köpfen der 77er Geschehnisse Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, auch nicht mit den Protagonisten Verena Becker und Susanne Albrecht. Meine Versuche, mit ihnen in Kontakt zu treten, blieben erfolglos. Das ist bedauerlich. Aber nicht gravierend. Denn von allen gibt es Stellungnahmen zu dem 77er Geschehen in ihren Prozessen, teilweise auch anderswo.
Die Recherchen für dieses Buch dauerten über zwei Jahre – mein viertes Buch zum Thema RAF. Das erste erschien 1991. Wie viele Seiten ich für dieses Werk zu den Geschehnissen 1977 gesichtet habe, kann ich präzise nicht sagen. Mit Sicherheit waren es über eine halbe Million – darunter natürlich bergeweise ungeordnetes Material in Archiven, lose abgelegt in Pappkartons, numerisch erfasst nach „Büscheln“. Seit fast dreißig Jahren forsche und berichtete ich nun über die RAF. Es begann 1987, kurz nachdem ich beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg die Leitung des Ressorts „Rechtspolitik“ übernommen hatte.
Im „deutschen Terrorjahr“ gab es insgesamt 22 Akteure der RAF. Alle werden gefasst, zwei beim Versuch ihrer Festnahme von Polizeibeamten in Notwehr erschossen – abgesehen von einer Ausnahme: Friederike Krabbe. Ihre Spur verliert sich in Bagdad um die Jahreswende 1977/78. Sollte sie heute noch leben, wäre sie siebenundsechzig.
Anmerkung der Redaktion: Bitte beachten Sie den Buchtipp in dieser Ausgabe.