Rettung von Flüchtlingen
© Foto: Irish Defence Forces, Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-2.0

In Richtung Deutschland

Ein wohlorganisiertes Netz von Schleppern reicht von Afghanistan bis Deutschland

Von Roswitha Kern

Mit einer Anzahl von bis zu 100 000 fliehenden Afghanen monatlich herrscht bei Menschenschleppern in ganz Afghanistan derzeit Hochkonjunktur. Einige hundert Afghani für ein Busticket an die iranische Grenze oder ein paar tausend USD für ein Flugticket und Visum nach Teheran ist meist der erste Schritt in Richtung Deutschland, das derzeit beliebteste Fluchtziel unter den vielen afghanischen Flüchtlingen.

Aufklärende Radio und TV Kampagnen seitens der deutschen Botschaft, welche die Menschen von der waghalsigen Flucht abhalten sollen, verfehlen im Angesicht des Vormarschs der Taliban, der Eroberung diverser afghanischer Städte, einem Zustand anhaltender Rechtsfreiheit, wirtschaftlicher Chancenlosigkeit und politischer Instabilität sowie regelmäßigen Anschlägen in Kabul nach dem Abzug westlicher Truppen schon lange ihre Wirkung.

Vor allem das ausgeprägte Menschenschleppernetzwerk profitiert immens von dieser Situation. „Es ist wirklich haarsträubend mit welch abstrusen Versprechen die Verkauf von Schwimmwesten. Das Geschäft boomt
(© Autorin)
Schlepper verzweifelte Menschen in ihren Bahn ziehen“, berichtet eine Freiwillige aus einem Helferkreis im Landkreis Traunstein in Oberbayern, die sich seit mehr als einem Jahr mit vielen anderen Engagierten für Arbeit, angemessene Wohnverhältnisse und Freizeitgestaltung von Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan bemüht. „Den meisten wird von den Schleppern eine goldene Nase in Deutschland versprochen. Aus diesem Grund ist die Ankunft hier dann oft sehr ernüchternd. Viele Flüchtlinge, ganz gleich woher sie stammen, sind dann oft enttäuscht, wenn sie nicht innerhalb weniger Wochen an einer Universität eingeschrieben Auch in Kabul ein Anziehungspunkt für Kinder: schwerbewaffneter Polizist
© Foto: Petty Officer 1st Class Chris Fahey (U.S. Armed Forces), Wikimedia Commons | Lizenz: Public domain / CC0
sind oder ein Haus und ein Auto haben. Das warten auf die Asylentscheidung nimmt oft mehrere Monate in Anspruch, und der Spracherwerb kostet viel Zeit. Immer wieder gibt es auch Flüchtlinge, die einem Anwalt 300 EUR pro Stunde bezahlen in der Hoffnung, endlich ihre Papiere zu bekommen.“ Dass vor allem die Ungewissheit über die Sicherheit der zurückgebliebenen Familienmitglieder und der sehr langsame Familiennachzug viele Flüchtlinge verzweifeln lässt, und dass vor allem Flüchtlinge aus Afghanistan in manchen Fällen Monate auf ihre erste Anhörung warten, weiß sie zu berichten. Aussagen von Geflüchteten sowie ein Interview mit dem irischen Journalisten Shane Farrell weisen daraufhin, dass es sich bei dem Schleppernetzwerk um ein hochgradig professionelles und mehrstufiges System handelt. Ähnlich wie in mediterranen Ländern, wo Kellner auf der Strandpromenade versuchen, Gäste in ihre Restaurants zu locken, versuchen derzeit ‚Vermittler’ für eine ‚Finderkommission’ von circa 200USD Flüchtlinge für ihr Schleppernetzwerk anzuwerben. Die Konkurrenz ist hoch unter den Schleppern, aber dank der hohen Nachfrage finden sich immer willige Kunden. Dabei ist der gute Ruf sehr wichtig: „Die meisten Flüchtlinge folgen den Empfehlungen und der Mundpropaganda von anderen Geflüchteten, welche die Flucht und vor allem die gefährliche Meeresüberfahrt von der Türkei nach Griechenland bereits erfolgreich geschafft haben“, berichtet Shane Farrell, der im Herbst 2015 mehrere Flüchtlinge in der türkischen Stadt Izmir zu diesem Thema befragte. „Dabei handelt es sich um Fluchtrouten die keineswegs neu sind, sondern altbekannte, die seit 15 bis 20 Jahren gut bereist werden. Lediglich die Nachfrage ist in den letzten Monaten extrem gestiegen. So haben sich auch die Anbieter in diesem höchst profitablen Geschäft multipliziert. Bei Schleppernetzwerken handelt es sich um eine komplexe Kette mit mehreren Gliedern der untersten Stufe von Vermittlern, welche die Leute offen auf der Straßen ansprechen, bis hin zu den Logistikern mit den Booten, Versicherungsmaklern und den großen Hintermännern der Netzwerke. Die meisten Schlepper verstehen sich dabei nicht als Profithaie sondern als humanitäre Helfer, die behaupten, bisweilen schon einige nicht zahlungsfähige Kunden umsonst übers Meer geschickt zu haben“, so Farrell. Zwischen der Türkei und Griechenland setzten dabei die meisten von Izmir über, der Stadt, die den griechischen Inseln am nächsten liegt. Entsprechend einer Analyse von Al Jazeera kamen im letzten Jahr täglich zwischen 1000 und einer Höchstzahl von 9500 an einem einzigen Tag in Izmir an. Momentan liegt der Preis für die Überfahrt bei 1500 USD. Mahmoud, ein syrischer Flüchtling, der bereits seit Dezember 2013 in Deutschland lebt und hier gerade die Erteilung einer Approbation als Zahnarzt beantragt hat, bezahlte damals sogar noch 2500 EUR. Bevor er sich dafür entschied, nach Deutschland zu gehen, versuchte er England über den Eurotunnel zwischen dem französischen Calais und dem englischen Dover zu erreichen. „Nachdem ich einige Tage in der Nähe des Tunnels mit zahlreichen anderen Flüchtlingen ausgeharrt hatte, fand ich schließlich jemanden,, der mir den Weg über den Tunnel für knapp 10000 EUR angeboten hätte. Das konnte ich mir jedoch keinesfalls leisten und so entschloss ich mich kurzer Hand, meine Flucht Richtung Deutschland fortzusetzen.“

Jugendliche Verkäufer von Ausrüstung für Flüchtlinge
(© Autorin)
In vollem Bewusstsein über die zahlreichen Risiken der Flucht nimmt eine zunehmende Anzahl an Afghanen den beschwerlichen Weg in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft bereitwillig auf sich. Einer dieser vielen afghanischen Flüchtlinge ist auch Alibabani Khan. Vor fünf Monaten ist er in Deutschland angekommen und lebt derzeit in einem der vielen Flüchtlingsheime in Oberbayern. In einem Interview mit Veko-online berichtet er von seiner Flucht nach Deutschland, die fast ein halbes Jahr in Anspruch nahm:

Alibabani, was hat dich dazu veranlasst, dein Land zu verlassen und nach Deutschland zu kommen?

Jeden Tag wird die Situation in Afghanistan gefährlicher. Die Taliban hat viel Einfluss in meinem Land und gewinnt zunehmend auch in Kabul die Oberhand. Man könnte sagen, in meiner Stadt, Kabul, gibt es ein Minimum an Frieden im Vergleich zum Rest des Landes. Aber auch in Kabul sind wir an mehrere Anschläge täglich gewöhnt. Unzählige Male wurde ich Zeuge dieser Anschläge. In Kabul habe ich in einem kleinen Geschäft meines Vaters gearbeitet. Eines Tages ging eine Bombe nur zwei bis drei Gehminuten von unserer Straße entfernt hoch und hat 50 Menschenleben gefordert. An den Anblick von abgetrennten Gliedmaßen und Toten habe ich mich längst gewöhnt. Ich weiß nicht, welche Menschen solche Attentate begehen können. Einmal konnte die Polizei einen 9-jährigen Jungen mit einer Selbstmordweste an einem Anschlag hindern. Weil er noch so jung war, hat ihn die Polizei wieder laufen lassen. Nur vier Jahre später kam er jedoch mit der gleichen Mission zurück. Der jetzt erfolgreiche Anschlag kostete 65 Menschen das Leben. Europas Behauptung, dass die Lage in Kabul nicht so schlecht sei, zeigt dass ihr im Endeffekt keine Ahnung habt. Wisst ihr denn nicht, dass wir mittlerweile nicht nur vor dem Vormarsch der Taliban, sondern auch vor dem des Islamischen Staates Angst haben müssen? Im Vergleich zum Islamischen Staat wirkt die Taliban fast harmlos. Krieg und Zerstörung gehören zu meinem Leben, seit ich denken kann. Schon als kleine Kinder haben wir in den Häusern gesessen oder auch mal einen Blick auf das Hausdach gewagt und RPGs (Panzerbüchsen) gezählt. Aber auch kleine kämpferische Auseinandersetzungen erschweren uns das tägliche Leben. Öfter als ich zählen kann, wurde ich nachts in Kabul mit dem Messer attackiert. Ich hatte viele Probleme in Kabul, und geschützt werden wir hier von keinem, auch nicht von der Polizei. Als die Situation sich zuspitzte, haben mich meine Eltern ermutigt zu fliehen.

Wie viel hat dich die Reise gekostet und welche Schritte hast du unternommen?

Um mir die Flucht zu ermöglichen, hat mein Vater sein Auto verkauft und meine Mutter ein Schmuckstück. In der Zwischenzeit habe ich in Kabul Bekannte nach Schleppern gefragt, welche die Flucht in die Türkei ermöglichen könnten. Nach einiger Zeit wurde ich in Jalalabad fündig. Bei einem kurzen Treffen in dieser Stadt haben wir uns auf einen Preis von 2500 USD für die Flucht in die Türkei geeinigt. Zuerst musste ich jedoch nach Kabul zurück, um einen Reisepass zu beantragen. Nützliches Equipment zum Beispiel Handykabel, wasserdichte Geldbörsen
(© Autorin)
Über seine Kontakte in der iranischen Botschaft besorgte mein Schlepper mir dann ein dreimonatiges Visum für den Iran und ein Flugticket von Kabul nach Teheran. In der Zwischenzeit habe ich mein Geld in einer Art Versicherungsgeschäft sicher verwahrt. Ich habe den Verkäufer instruiert, das Geld erst nach meiner erfolgreichen Flucht freizugeben. Die meisten von uns veräußern das Wenige, was wir noch haben, um die Flucht zu finanzieren. Weil wir Schleppern nicht vertrauen können, bezahlen wir erst, wenn uns die Flucht wirklich gelungen ist. Mit jeder Teilstation wird ein Teilbetrag der Gesamtsumme an den Schlepper überreicht. Nach meiner Ankunft in Teheran rief ich zum Beispiel meine Kontaktperson in Jalalabad an. Diese hat dann seinem Kollegen im Iran über meine Ankunft informiert, mich abgeholt und meinen Weitertransport organisierte.

Du bist also nach Teheran geflogen. Und wie ging es dann weiter?

Kaka Ummet fuhr mich dann vom Flughafen zum Azadi Square, wo wir drei Stunden auf weitere Flüchtlinge warten mussten. Vier Autofahrer haben uns dann in die Nähe der türkisch-iranische Grenze gefahren. Unterwegs haben die Autofahrer ständig Kontakt gehalten und Informationen zum Verkehrsaufkommen und Polizeikontrollen ausgetauscht. In jedem Peugeot saßen zusammen mit dem Fahrer jeweils sieben Personen. Nach unserer Ankunft in Maku (ca. 20 km von der türkischen Grenze) wurden wir für ein paar Stunden in einem sehr kleinen Gästehaus untergebracht. Wir durften weder das Haus verlassen noch uns unterhalten. Mit Kaka Azadi Tower in Teheran
© Foto: Hamed Saber, Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-2.0
Ummet und zwei weiteren Schleppern brachen wir um neun Uhr abends in Richtung Berge auf. Während einer der Schlepper die Gruppe anführte, bildete der zweite das Schlusslicht der 63-köpfigen Gruppe. Der Fußmarsch zur Grenze nahm ca. 16 Stunden in Anspruch. Als wir endlich ankamen hob, einer der Schlepper den Grenzzaun etwas an, so dass wir überqueren konnten. Es hat aber nicht lange gedauert, bis uns die iranische Grenzpolizei erwischte und das Feuer eröffnete. Zwei Männer wurden dabei getroffen und konnten nicht weiterreisen. Bei der Grenzüberquerung stießen wir auf zwei Pakistanis, welche die gleiche Route am Tag zuvor genommen hatten und dabei aber von ihrer Gruppe getrennt wurden. Auf dem Weg zur türkischen Stadt Van sind wir immer wieder auf viele andere Flüchtlingsgruppen gestoßen.

In Van hat Ali, ein iranischer Kurde, bereits auf uns gewartet und uns in einem Gästehaus untergebracht. In der Türkei angekommen, unterrichtete ich meinen Kontaktmann in Jalalabad über meine Ankunft. Er leitete die Information an seine Kollegen weiter und zahlte gleichzeitig die vereinbarte Summe aus. Im Anschluss an die Telefonate organisierte Ali dann meine Weiterreise nach Istanbul. In einem Bus auf dem Weg nach Istanbul wurden wir aber nach 20 Minuten von der Militärpolizei aufgegriffen und verhaftet. Alle 63 von uns haben dann den nächsten Monat im Gefängnis in Van verbracht. Wir wurden aber gut behandelt. Obwohl wir alle nur ein Zimmer hatten, bekam jede Personen eine eigene Matratze, eine Decke und sogar einen Fernseher gab es. Essen und Trinken gab es reichlich. Teilweise haben wir sogar Fotos mit der Polizei gemacht. Nach einem Monat wurden wir freigelassen. Wir erhielten alle einen offiziellen Brief, der uns den Aufenthalt in der Türkei für einen Monat gestattete. Wir bezeichneten dieses Schreiben als „Memorandum to leave“. Bevor wir die Reise in Afghanistan antraten, wurden wir oft gefragt, ob wir für einen Aufpreise eine „Garantie“ mitkaufen möchten. Diese Garantie sichert uns die Freilassung im Falle einer Verhaftung zu. Sollte man verhaftet werden, erwirkt der Schlepper durch Kontakte zur Polizei die Freilassung innerhalb weniger Tage oder Wochen.

In unserem Fall organisierte Ali sowohl die Freilassung als auch neue Bustickets nach Istanbul. Da es aber schon sehr spät abends war, mussten wir an der Bushaltestelle übernachten. Ich erinnere mich, in dieser Nacht war es extrem kalt. Als wir endlich Istanbul erreichten, wurden wir dort bereits vom nächsten Schlepper abgeholt. Da an dieser Bushaltestelle hunderte von Flüchtlingen ankamen, wurden wir von mehreren Organisatoren entsprechend unserer Schlepper in Gruppen eingeteilt. Sie wollten wissen, wer von uns mit welchem Schlepper angekommen war, und haben uns dann entsprechend aufgeteilt, um uns zum nächsten Gästehaus Flüchtlinge in Belgrad
(© Xanthe Hall / IPPNW/Flickr)
zu fahren. Täglich kamen in unserem Gästehaus 70 neue Leute an. Ich hätte damals die Möglichkeit gehabt, meine Flucht über Bulgarien fortzusetzen. Da zu dieser Zeit viele Verhaftungen stattfanden, riet mir Javad, Ali’s Kollege, aber davon ab und empfahl mir, ein paar Wochen abzuwarten. Anstatt also meine Reise fortzusetzen, organisierte mir Javad einen Job in einer Wäscherei in der Nähe von Istanbul. Für das Zusammenlegen von Wäsche erhielt ich monatlich umgerechnet 305 EUR. Im ersten Monat musste ich davon 100 EUR an Ali für die Vermittlung abdrücken. Nachdem ich zwei Monate in der Wäscherei gearbeitet hatte, vermittelte mir ein Freund, der es bereits nach Deutschland geschafft hatte, einen weiteren Schlepper namens Izaad für die Bootsfahrt von der Türkei nach Griechenland. Gerade für die Bootsfahrt verlassen wir uns gerne auf die Empfehlung von Freunden. Für die Reise von Istanbul nach Griechenland wollte der Schlepper zuerst 1500 USD haben. Als ich ihm mitteilte, dass ich mir das nicht leisten kann, bot er mir einen Discount von 500 USD an, sofern ich das Boot selbst steuern würde. Unsere Bootsgruppe musste allerdings erst 20 Tage in diesem Gästehaus ausharren, bis ich an die Reihe kam. Zwischen 70 und 80 Personen wurden dabei täglich für die Überfahrt abgeholt. Mein Preis für diese ganze Zeit beinhaltete damals nur die Bootsfahrt und einen Schlafplatz im Gästehaus. Um Essen und Trinken mussten wir uns selbst kümmern. Eines Tages fuhr uns dann ein Bus nach Izmir, wo wir von Reza abgeholt wurden. Dieser brachte uns zum Mili Park von wo aus wir bereits die Berge Griechenlands sehen konnten. Da uns unterwegs aber die Polizei folgte, entschied sich Reza kurzer Hand, uns drei Tage in einem Wald zu verstecken. Als er am dritten Tag mit etwas Brot, Tomaten und Gurken zurückkam, haben wir einen 30-stündigen Fußmarsch angetreten.

In unserer Gruppe waren auch viele Frauen und Kinder. Den Kindern ging schnell die Kraft aus, deshalb wurden sie abwechselnd von uns allen getragen. Nach den 30 Stunden warteten wir in einem Wald in der Nähe vom Strand, bis es Nacht wurde. Um Mitternacht kamen zwei Männer mit aufblasbaren Booten. zusammen mit ihnen haben wir dann die Schlauchboote aufgepumpt. Innerhalb kurzer Zeit befanden sich dann 63 Personen in einem Schlauchboot, das knapp zehn Quadratmeter Fläche hatte. Nach einer halben Stunde haben wir dann Griechenland erreicht. Ich weiß, dass ich großes Glück hatte. Viele Menschen brauchen mehrere Anläufe mit dem Boot. Die Preise für die Fahrt sind dabei sehr unterschiedlich. Die kurze Route, wie in meinem Fall, ist dabei um einiges teurer als Routen die mehrere Stunden dauern. Die kürzere Route ist gleichzeitig gefährlicher, da sie von der türkischen Küstenwache leichter entdeckt werden kann. Die längeren Routen fahren Umwege, um der Küstenwache auszuweichen. Die Gefahr, mit so einem kleinen Boot unterzugehen, ist aber viel höher und deswegen kostet die Fahrt weniger.

Bei unserer Ankunft in Griechenland waren mittlerweile fast alle Kinder krank. Aufgegriffen von der Polizei, wurden wir in ein Camp gefahren. Zusammen mit einer Familie mit drei Kindern gelang es mir, den Weg nach Samos zu finden, wo wir zehn Tage in einem anderen Camp untergebracht waren. Zweimal am Tag, um 12 Uhr mittags und 5 Uhr nachmittags, gab es Essen. Nach zehn Tagen bekamen wir auch hier wieder einen Brief von der Polizei mit einer einmonatigen Aufenthaltserlaubnis. Wir haben daraufhin ein Busticket nach Athen gekauft, wo ich acht Tage im Victoria Park geschlafen habe. Schließlich habe ich aber auch von dort meinen Weg nach Thessaloniki gefunden und bin mit dem Zug an die Grenze nach Mazedonien gefahren. Das war nicht weiter schwierig, da sich viele Menschen auf dieser Reiseroute befanden. Ein Afghane namens Momen zeigte uns den Weg zum Bahnhof und instruierte uns, am Bahnsteig einfach in den einfahrenden Zug zu springen. Wegen des dadurch entstandenen Chaos, verloren viele Familien ihre Kinder. Das Gedränge war irre groß, und alle versuchten, sich einen Platz im Zug zu erkämpfen. Noch nie habe ich so viele Kinder nach ihren Müttern schreien hören. Die Zugabteile waren so vollgestopft, dass einige während der Zugfahrt das Bewusstsein verloren.

Nach einer weiteren Nacht in einem Gästehaus, kamen drei Männer an. Zwei von ihnen, Toray und Kako, halfen uns, die Grenze nach Serbien zu überqueren. Lange erholen konnten wir uns nicht, da bereits die nächste größere Flüchtlingsgruppe im Anmarsch war und wir so mehr oder weniger raus geschmissen wurden. Die kommende Nacht mussten wir daher in Zelten in den Bergen verbringen. Aufgrund von starken Regenfällen konnten wir erst nach drei Tagen Richtung bulgarische Grenze weiterziehen. Unterweges kamen mehrere Taxen, die jeweils acht bis zehn Personen beförderten. Nach 30 Minuten Fahrzeit, Mitten auf der Autobahn, wurden wir dann gebeten auszusteigen. Man wies uns an,eine Stunde bis zu einer Brücke zu laufen. Schließlich erreichten wir nach eineinhalb Stunden eine Bushaltestelle und buchten für 20000 serbische Dinar ein Ticket nach Belgrad. Dort vermittelte uns Toray noch den nächsten Schlepper. Für einen Aufpreis wollte er dafür sorgen, dass uns in Ungarn keine Fingerabdrücke genommen würden. Ich nahm ohne zu überlegen das Angebot an.

Vor meiner Weitereise nach Ungarn musste ich weitere zwei Tage in einem Park in Belgrad verbringen. Mitten in der Nacht wurden wir dann mit Taxis an einen speziellen Sammelplatz gefahren und nach einer Weile wieder rausgelassen. Zu Fuß sind wir dann die restlichen 30 km durch den Wald gelaufen, um dort die ungarische Grenze zu überqueren.

Zu diesem Zeitpunkt war ich am Ende meiner Kräfte und verlor auch noch meine Gruppe. Ich irrte allein durch den Wald, bevor ich nach zwei Tagen endlich wieder eine Straße erreichte, die sich bereits in Ungarn befand. Nachdem ich eine Stunde die Straße entlang gelaufen war, wurde ich von der Polizei aufgegriffen und zu einem Camp gefahren. Nur vier Tage später bekam ich auch dort wieder einen Brief von einer Kontaktperson, laut dem ich innerhalb eines Monats das Land zu verlassen hatte. Im Vergleich zu den vorherigen Briefen beinhaltete dieser auch ein Zugticket von Budapest nach Wien. An der Grenze wurden wir aber aufgegriffen und wieder ins Camp zurückgeschickt. Erst mit dem elften Versuch gelang es mir schließlich, mit dem Zug Österreich zu erreichen. Von dort habe ich dann ein weiteres Zugticket nach München gebucht, wo ich anfangs in einem Camp in Kieferngarten untergebracht wurde. Nach einem weiteren Monat in Ingolstadt schickte man mich schließlich in ein bayerisches Dorf.

Warum hast du dich dafür entschieden, nach Deutschland zu fliehen?

Deutschland hat in Afghanistan schon lange einen großen Namen. Sogar so groß, dass er in unseren Sprüchen vorkommt. Eine Mutter würde ihrem Kind, wenn es Vorbereitungen einer Flüchtlingsunterkunft
(© Wiesbaden 112/Flickr)
sich darüber aufregt zum Einkaufen geschickt zu werden, beispielsweise sagen „Ach komm ich habe dich doch nicht nach Deutschland geschickt“. Mit Deutschland verbinden wir aber auch Sicherheit, Frieden und anständige Leute. Im Vergleich dazu ist Afghanistan der reinste Dschungel mit unzähligen Menschen, die sich wie wilde Tiere verhalten. Jeden Tag gehen Bomben hoch. Du weißt nie, wo die nächste Gefahr lauert. Einen Moment sitzt du in einem Café und unterhältst dich mit deinem Tischnachbar und in der nächsten Minute sprengt er sich vor dir in die Luft. 19 Jahre meines Lebens habe ich in Afghanistan bereits verloren. Ohne Schulbildung habe ich gearbeitet, seit ich neun Jahre alt bin. Mein ganzes Leben kenne ich nichts anderes als Krieg; bei meinen Eltern ist das nicht anders. Wie sollen wir uns da eine Zukunft aufbauen? Meine Situation in Deutschland ist auch nicht einfach, aber immerhin muss ich nicht um mein Leben fürchten. Ich habe das Gefühl, sofern ich hier hart arbeite, kann ich einiges erreichen und ein Leben in Würde verbringen.

Welcher Teil der Strecke war für dich am gefährlichsten und warum halten die vielen Berichte über Risiken kaum jemanden von der Flucht ab?

In Afghanistan sind wir ohnehin schon tot. Wir haben also nichts zu verlieren und können nur gewinnen, wenn wir die Flucht trotz der Risiken antreten. Schlimmstenfalls sterben wir, aber das kann uns zuhause ohnehin jederzeit passieren. Wenn wir es aber nach Europa schaffen, leben wir wieder in Sicherheit und ohne Krieg. Der gefährlichste Teil der Reise ist nicht einmal die Bootsfahrt nach Griechenland, sondern das Überqueren der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei. Die iranische Polizei hasst Afghanen und ist bekannt dafür, uns schlecht zu behandeln. Wenn du im Iran im Gefängnis landest, wirst du regelmäßig geschlagen und an der Grenze schrecken sie auch nicht davor zurück, dich zu erschießen.

Mit welchen Schwierigkeiten bist du in Deutschland konfrontiert?

Die meisten meiner Bekannten und Freunde haben bereits ihre Ausweispapiere erhalten, ich hatte noch nicht einmal den ersten Anhörungstermin. Seit Monaten bin Notunterkunft für Flüchtlinge
(©Wiesbden 112/Flickr)
ich nun hier und muss bis Sommer auf mein erstes Interview warten. In der Zwischenzeit darf ich weder den Deutschkurs besuchen, noch arbeiten oder ein Bankkonto eröffnen. Das Warten und allein sein ist das Schlimmste für mich.

Wenn man endlich am Ziel angekommen ist, fühlt man sich auf einmal wie ein neugeborenes Baby. Nichts kann man und alles ist fremd. Wie ein Baby müssen wir wieder alles neu erlernen, von der Sprache bis zur Kultur, den landestypischen Regeln oder Gesetzen und der Orientierung in einer neuen Umgebung, und das, obwohl wir erwachsen sind. Auch wenn die Menschen nett zu einem sind, so ist man am Ende doch alleine und hat niemanden, der einem wirklich nahe steht.

Aber ich möchte mich nicht beschweren. Mit viel Glück habe ich habe zwei deutsche Familien gefunden, die sich um mich kümmern und mir ein wenig Deutsch beibringen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wurde ich hier immer gut behandelt. In Deutschland wird man respektiert, das ist zumindest mein Eindruck. In Afghanistan wird oft erzählt, dass Christen keine guten Menschen sind, denen man nicht vertrauen kann. Hier in Deutschland habe ich das Gegenteil erfahren.

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Ich möchte endlich anfangen zu arbeiten und vielleicht auch eine Ausbildung machen. Aber da ich erst hier lesen und schreiben gelernt habe, mache ich mir wenig Hoffnung. Daher nehme ich jede Arbeit gerne an. Auch wünsche ich mir, dass das Leben wieder einfacher wird. Keine Krieg mehr erleben zu müssen und in Frieden zu Leben, ist Teil von diesem Wunsch. In Afghanistan habe ich auch noch einen kleinen Bruder. Er ist jetzt zehn Jahre alt und sehr klug. In der Zukunft möchte ich ihm eine gute Schuldbildung verschaffen und wenn möglich zur Universität schicken. Das wünsche ich mir wirklich sehr.


Nachtrag der Redaktion:

Unser Interviewpartner ist seit drei Wochen auch ein begeistertes THW-Mitglied und will das auch unbedingt weiterhin bleiben. Er ist einer der ersten, wenn nicht sogar der erste Flüchtling, der Mitglied des THW ist.

Über den Autor
Roswitha Kern
Roswitha Kern
Roswitha Kern lebte und arbeitete bis 2014 acht Jahre vorwiegend im Nahen Osten und Nordafrika. Sie war die meiste Zeit journalistisch tätig, arbeitete aber auch als Security und Political Risk Consultant. Darüber hinaus ist sie auch in West-/Ostafrika gut vernetzt sowie in Teilen Asiens. Zurück in Deutschland ist sie weiter journalistisch tätig, arbeitet aber auch als Beraterin für verschiedene Unternehmen.
Weitere Artikel des Autoren